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Siebentes Buch.

Jeder Mensch sollte streben, so gut als möglich zu werden, aber sich nicht für den einzigen halten, der dies vermöchte.

Kapitel I

»Täuschung ist jenes starke und doch feine Band, das alle Glieder einer Gesellschaft aneinander kettet und sie verbindet; betrügen oder betrogen werden steht zur Wahl; das ist der Lauf Welt, und ohne das käm' der Verkehr zum Erliegen.

Anonymer Schriftsteller von 1722.

   

»Ein schönes Kind war sie, mit heit'rem Antlitz;
Von Ihrer Anmut, die von innen kam,
Erfuhr Gleichgült'ges noch edle Vergoldung.

PERCY BYSSHE SHELLEY.

   

»Er ist an Jahren jung, alt an Erfahrung.«

SHAKESPEARE, Die beiden Veroneser, II,4.

   

»Er jagt der Ehre nach, und ich der Liebe.«

Ibid., I,1

Lumley Ferrers war einer der wenigen Menschen auf dieser Welt, die nach einem gründlich überlegten, organisierten System handeln – so hatte er es seit seiner Kindheit gehalten. Als er einundzwanzig war, sagte er sich: »Jugend ist die Zeit des Vergnügens: die Erfolge des Mannesalters, der Reichtum der reifen Jahre gleichen eine in freudloser Mühsal verbrachte Jugend nicht aus.« In Übereinstimmung mit dieser Maxime hatte er sich entschlossen, keinen Beruf zu wählen; und da er das Reisen liebte und ruhelosen Naturells war, hatte er sich im Ausland allen Genüssen hingegeben, die sein mäßiges Einkommen ihm gestattete: dieses Einkommen reichte auf dem Kontinent länger als zu Hause, was ein weiterer Grund für die Verlängerung seiner Reisen war.

Als nun die Launen und Leidenschaften der Jugend sich gesättigt hatten und, nachdem er in vollkommener, mannigfaltiger Kenntnis des Menschengeschlechts gereift war, sich die handfesteren Fähigkeiten seines Geistes entwickelt und zu einem ihm gemäßen Ehrgeiz konzentriert hatten, handelte er nicht weniger nach einem regelrechten, methodischen Lebensplan, den er bis in die Einzelheiten ausarbeitete. In ihm selbst gab es so gut wie nichts, das seinen kalten Theorien mit einer widersprüchlichen Praxis begegnet wäre, wurde er doch durch keinerlei Grundsätze gezügelt und nur von wenigen Vorlieben gesteuert: und unsere Vorlieben kontrollieren uns oft ebenso machtvoll wie unsere Grundsätze.

Indem er die englische Welt überschaute, erkannte Ferrers, dass er in seinem Alter und bei seiner zweifelhaften Stellung, die ihm verbot, irgendeine günstige Gelegenheit verstreichen zu lassen, unbedingt alle Attribute eines Streuners und garç on los werden sollte.

»Mietwohnungen und eine Droschke haben nichts Ehrenwertes an sich«, sagte Ferrers zu sich selbst – dieses »selbst« war sein großer Vertrauter! – »nichts Beständiges. Das sind Bestandteile einer Lebensart von ›heute hier, morgen dort‹. Man stellt erst etwas vor, wenn man Abgaben und Steuern entrichtet und seines Metzgers Rechnungen begleicht!«

Folglich mietete Ferrers, ohne zu irgend jemandem ein Wort zu sagen, langfristig ein großes Haus in einer jener ruhigen Straßen, die kundtun, dass die Eigentümer nicht auf ein modernes Umfeld angewiesen sind – Straßen, in denen, wenn man ein großes Haus besitzt, vorausgesetzt wird, dass man es sich leisten kann. Dass es eine ehrenwerte Straße sei, lag ihm sehr am Herzen: Great George Street, Westminster, war die erwählte.

Weder Firlefanz noch Nippes, wie sie gewöhnlich in den Häusern junger Hagestolze zu finden sind – weder Buhl Dekorative Einlegearbeit bei Möbeln aus Schildpatt mit gelben und weißen Metallschnörkeln. – Anm.d.Übers. noch Marketerie, Holzeinlegearbeiten mit dünnen Furnieren, im Gegensatz zu Intarsien, die mit Vollholz arbeiten. – Anm.d.Übers. kein Sèvres-Porzellan oder Kabinettgemälde zierte Lumley Ferrers' große, düstere Salons. Er übernahm zu günstigem Preis vom Vormieter das gesamte alte Mobiliar – teefarbene Chintz-Vorhänge, Chintz: dünnes, glänzendes Baumwollgewebe, fand Verwendung in Vorhängen und Mobiliar, aber auch in der Kleidung. – Anm.d.Übers Sessel und Sofas, lauter vom Staub eines Vierteljahrhunderts altehrwürdige Stücke. Die einzigen Dinge, bei denen er sich wählerisch zeigte, waren ein sehr langer Speisetisch für vierundzwanzig Personen und ein neues Mahagoni-Büffet. Gefragt, warum er gerade auf diese Dinge so viel Wert lege, antwortete er: »Ich weiß nicht, aber ich beobachte, dass alle repektablen Familienväter es so machen – es muss etwas dran sein – ich werde schon noch herausfinden, was dahinter steckt.«

In diesem Haus richtete sich Mr. Ferrers ein zusammen mit zwei weiblichen Dienstboten mittleren Alters und einem Diener ohne Livree, auf den aus einer Vielzahl von Bewerbern die Wahl wegen seiner besonderen Wohlgenährtheit gefallen war. Nachdem er sich also niedergelassen und jedem erzählt hatte, dass er dieses Haus für dreiundsechzig Jahre gemietet habe, berechnete Lumley Ferrers seinen voraussichtlichen Kostenaufwand mit dem Ergebnis, dass er bei kluger Bewirtschaftung seine Einkünfte um etwa ein Viertel überstieg.

»Ich werde den Mehrbetrag aus meinem Kapital begleichen«, sagte er sich, »und das Experiment fünf Jahre erproben; wenn es nicht gelingt, nun, dann gibt es entweder keine Menschen, auf deren Kosten man leben kann, oder Lumley Ferrers ist ein viel blöderer Hund, als er selber denkt!«

Mr. Ferrers hatte den Charakter seines Onkels intensiv studiert, so wie ein kluger Spekulant den Wert einer Miene prüft, in das er sein Kapital zu investieren gedenkt, und ein Großteil seines gegenwärtigen Vorgehens war in der Wirkung nicht weniger auf seinen Onkel als auf die Welt überhaupt gemünzt. Er erkannte, dass, je mehr er für sich selbst erreichen konnte – nicht etwa den Ruf eines mit Lärm und Mode verbundenen Gesellschaftsmenschen, sondern den eines braven, nüchternen, gesetzten Mannes – Mr. Templeton ihn um so höher schätzen würde und er um so eher seines Onkels Erbe werden könnte, – das heißt, wenn nicht Mrs. Templeton das nepotische Schmarotzergewächs durch einen ›eingeborenen Ölzweig‹ verdrängte. Diese letzte Befürchtung ließ mit der Zeit nach, indem keinerlei Befruchtungssymptome auftraten. Und somit dachte Ferrers, er könne klüglich einen höheren Einsatz in diesem Spiel riskieren, auf das zu verlassen er sich nun getraute.

Eine Sache allerdings störte seinen Frieden gewaltig; Mr. Templeton, obgleich streng und schroff im Verhalten zu seiner Frau, hing offensichtlich an ihr; und erst recht hegte er die zärtlichste Zuneigung zu seiner Stieftochter. Er war so besorgt um ihre Gesundheit, ihre Erziehung, ihre kleinen kindlichen Freuden, als wäre er nicht nur selbst ihr Vater, sondern ganz in sie vernarrt. Er ertrug es nicht, wenn man sie ärgerte oder ihr nicht ihren Willen ließ. Mr. Templeton, der nie zuvor irgend etwas verdorben hatte, nicht einmal einen alten Stift – so sorgfältig, berechnend und methodisch ging er vor –, tat sein Bestes, dieses schöne Kind zu verderben, obwohl er sich nicht dem eitlen Luxus überlassen konnte zu glauben, dass er es für die bewundernde Welt hervorgebracht habe.

Sanft, ausnehmend schön war das kleine Mädchen; und jeden Tag wuchsen ihr Reiz und der liebliche Zauber ihrer kindlichen Art. Ihr Gemüt war so wonnig und fügsam, dass Zuneigung und Zärtlichkeit, so unüberlegt sie auch bezeigt wurden, die Farben eines dankbaren, liebevollen Wesens nur noch stärker herauszustellen schienen. Vielleicht wäre die gemessene Freundlichkeit einer etwas zurückhaltenderen Zuneigung ein viel wirkungsvollerer Weg gewesen, um ein Geschöpf zu verderben, dessen Instinkte ganz auf das Einfordern und Erwidern von Liebe gerichtet waren. Sie war wie ein Pflanze, die eine geringere Sonnenwärme hätte verkümmern und erfrieren lassen. Aber unter einer von Launen und Wolken freien Sonne sprießte sie empor in üppiger Herzensblüte und lieblichem Wesen.

Jeder, sogar solche, die im Allgemeinen Kinder nicht mochten, hatten ihre Freude an diesem bezaubernden Geschöpf – außer einzig Mr. Lumley Ferrers. Aber dieser Gentleman, ungnädiger als Popes Narcissa, –

»Anstatt es zu baden, hätt' gerne das er Kind gekocht!« In EPISTLE II. To a Lady. Of the Characters of WOMEN (1743) von Alexander Pope lautet die von Bulwer parodierte Zeile (V. 54):
»To make a wash, would hardly stew a child«. – Anm.d.Übers.

Er hatte bemerkt, wie häufig reiche, spät heiratende Männer alles einer jungen Witwe hinterlassen und deren Kindern aus ihrer früheren Ehe, wenn sie zu dieser Frau einmal Zuneigung überkommen hat; die Vernunft sagte ihm, dass er von den Gefühlen, die ihm sein Onkel entgegen brachte, selbst nur wenig erwarten durfte. Er entschloss sich daher, seinen Onkel, so sehr er vermochte, seiner jungen Gattin zu entfremden – im Vertrauen darauf, dass durch die Schwächung des Einflusses seiner Frau auch der des Kindes schwinden werde – und in Templetons eitlem Ehrgeiz einen Verbündeten zu schaffen, der den Mangel an Zuneigung zu ihm ausgleichen könnte. Er verfolgte seine Doppelstrategie mit meisterlicher Kunst und Gewandtheit.

Zuerst trachtete er danach, sich das Vertrauen und den Respekt der schwermütigen, zarten Mutter zu sichern; und darin – denn sie war auffallend arglos und unerfahren – hatte er beachtlichen und vollständigen Erfolg. Sein freimütiges Gebaren, seine rücksichtsvolle Aufmerksamkeit, die Kunstfertigkeit, mit der er sie gegen Templetons Missgelauntheiten abschirmte, die Aufgeräumtheit, mit der seine unbefangene Frohnatur das äußerst triste Haus erfüllte, brachten die arme Dame dazu, seine Besuche freudig zu begrüßen und auf seine Freundschaft zu vertrauen. Vielleicht war sie nur froh über eine Unterbrechung der tê tes-à -tê tes mit einem strengen, unfreundlichen Ehemann, der kein Mitgefühl mit all den unterschiedlichen, auf ihre lastenden Leiden kannte und es für ein Gebot der Moral hielt, Fehler zu tadeln, wo er nur konnte.

Der nächste Schritt in Lumleys Politik war darauf gerichtet, Templetons Eitelkeit gegen seine Frau zu wappnen, indem er ihm immer wieder bewusst machte, welche Opfer er ihr durch die Heirat gebracht habe und wie gewiss es sei, dass all seine Wünsche in Erfüllung gegangen wären, wenn er klüger gewählt hätte. Durch die beständige, aber höchst raffinierte Berührung dieses wunden Punktes machte er Reizbarkeit gewissermaßen zu einem festen Bestandteil von Templetons Wesen, mit Rückwirkung auf all seine Gedanken, ob sie nun seine hochstrebenden Pläne betrafen oder die häuslichen Verhältnisse.

Dennoch wurden, wie Lumley sehr überrascht und verbittert feststellen musste, während Templetons Gefühle für seine Frau tatsächlich abkühlten, die für ihr Kind um so wärmer. Lumley hatte das dürstende Verlangen nach Zuneigung in den meisten menschlichen Herzen nicht genügend in seine Rechnung einbezogen; und Templeton, wenn er auch kein wirklich liebenswerter Mann war, besaß einige ausgezeichnete Eigenschaften; hätte er die Meinung der Welt nicht so empfindlich berücksichtigt, dann wäre er weder dem heuchlerisch-frömmelnden Sprachgebrauch anheimgefallen, noch hätte ihn jenes zwanghafte Verlangen nach der Peerswürde geplagt – sowohl die Zurschaustellung seiner ›Heiligkeit‹ wie auch sein quälender Wunsch nach einem höheren Rang entsprangen einer außerordentlichen, geradezu krankhaften Ehrerbietigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung und dem Verlangen nach irdischer Ehre und Achtung, die ihm, wie er spürte, seine bloßen Talente nicht erwerben konnten.

Doch im Grunde war er ein wohlwollender Mann – mildtätig gegen die Armen, fürsorglich gegen seine Bediensteten – und trug in sich das Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden, und dies ist einer der Triebe, durch welche die Atome des Universums zusammengefügt und zum Einklang gebracht werden. Hätte Mrs. Templeton ihm Zuneigung erwiesen, so hätte er Lumleys gesamter Intrige getrotzt und wäre ein guter und sogar treuliebender Gatte gewesen. Aber sie liebte ihn offensichtlich nicht, und war doch eine bewundernswerte, geduldige, fürsorgliche Gattin; doch ihre Tochter liebte ihn wirklich – liebte ihn so, wie sie ihre Mutter liebte; und der harte Weltmensch hätte kein Königreich gegen diese kleine Quelle reinster, sich stets erneuernder Zärtlichkeit eingetauscht.

So klug und scharfsichtig Lumley auch war, konnte er niemals ganz diese Schwäche verstehen, wie er es nannte; denn man kennt einen Menschen nie ganz und gar, bevor man nicht vollständiges Mitgefühl mit ihm in all seinen natürlichen Regungen aufzubringen vermag; die Natur aber hatte ihre Arbeit an Lumley Ferrers unfertig und unvollendet ausgeführt, indem sie ihm die Möglichkeit verwehrte, sich um irgend etwas als sich selbst zu sorgen.

Sein Plan, Templetons Wertschätzung und Achtung zu gewinnen, wurde dennoch zu einem vollständigen Erfolg. Er passte auf, dass nichts in seiner Haushaltung extravagant erschien: alles wirkte nüchtern, ruhig und gut geordnet. Er erklärte, sich so eingerichtet zu haben, dass er von seinem Einkommen leben könne; und Templeton, der nicht einmal andeutungsweise um Geld gebeten wurde und auch nicht wusste, dass Ferrers auf dem Kontinent einen bedenklichen Teil seines Vermögens verbraucht hatte, glaubte ihm.

Ferrers veranstaltete viele Abendessen, aber nicht mit der törichten Absicht, sich beliebt zu machen, wie sie Leute hegen, die angeblich das Leben kennen – er gab nicht vor, bessere Abendessen zu veranstalten als andere Leute. Er wusste, wenn man nicht sehr reich oder sehr angesehen ist, gleicht keine Torheit dem Glauben, die Herzen der Freunde durch Suppen à la bisque Fischsuppe mit Krebsfleisch. – Anm.d.Übers. und Johannisberger Bedeutender Riesling-Wein aus dem Rheingau; die traditionelle Weindomäne »Schloss Johannisberg« wird bis heute erfolgreich bewirtschaftet. – Anm.d.Übers. für eine Guinee die Flasche geneigt zu machen. Alle gehen fort und sagen: »Welches Recht hat dieser verdammte Kerl, ein besseres Abendessen veranstalten zu wollen als wir? Welch ein fürchterlicher Geschmack! Welch lächerliche Anmaßung!«

Nein; obwohl Ferrers selbst den Epikuräismus nachgerade wissenschaftlich betrieb und die Gaumenfreuden überaus schätzte, bewirtete er seine Freunde doch nur mit »achtbarer Kost«. Sein Koch tat viel Mehl in die Auster-Soße; Kopf und Rücken des Kabeljau ergaben unveränderlich seinen Fisch; und vier anspruchslose, ungewürzte entré es wurden ordnungsgemäß vom Pastetenbäcker geliefert und – vom Gastgeber sorgfältig gemieden.

Auch legte es Mr. Ferrers nicht darauf an, sich mit fröhlichen Geistern und glänzender Konversation zu umgeben. Er beschränkte seinen Umgang auf Männer gesetzten Rufs und war im Allgemeinen bemüht, selbst der Schlaueste unter den Anwesenden zu sein, während er die Unterhaltung auf ernste, für diese Gelegenheit herangezogene Themen richtete – Politik, Wertpapiere, Handel und das Strafgesetzbuch. Er dämpfte, seinen Freimut bewahrend, seine Fröhlichkeit, um als bestens informierter, arbeitsamer Mann bekannt zu werden, der mit Sicherheit aufsteigen werde.

Seine Verbindungen und ein gewisser Charme, der hauptsächlich in einem angenehmen Gesicht bestand, eine forsche, aber gewinnende Offenheit und die gänzliche Abwesenheit von Arroganz setzten ihn in Stand, an seiner schlichten Tafel, die, wenn sie auch nicht dem Gaumen schmeichelte, so doch niemandes Eigenliebe verletzte, eine hinreichende Anzahl ranghoher Politiker sowie bedeutender Geschäftsleute zu versammeln, was seiner Absicht entsprach. Die von ihm gewählte, den Parlamentsgebäuden so nahe Wohnlage war für die Politiker bequem, und allmählich wurden die großen, düsteren Salons von Staatsmännern häufig aufgesucht, um sich über jene tausend Nebenhandlungen zu besprechen, durch die eine Partei angegriffen oder ihr gedient wird. Auf diese Weise wurde Ferrers, ohne selbst im Parlament zu sein, unbemerkt vertraut mit dem Parlament, seinen Mitgliedern und Gegebenheiten, und die Regierungspartei, deren Politik er verfocht, lobte ihn höchlich, machte Gebrauch von ihm und war der Meinung, eines Tages etwas für ihn tun zu können.

   

Während die Karriere dieses gewandten, wiewohl prinzipienlosen Mannes in Gang kam – dies geschah natürlich nicht an einem Tag –, beschritt Ernest Maltravers einen rauhen, dornigen Pfad voller Hindernisse zu jener Höhe, auf der die Denkmäler der Menschen erbaut werden. Sein Erfolg im öffentlichen Leben war weder glänzend noch rasch. Denn obwohl er über Beredsamkeit und reiches Wissen verfügte, verachtete er alle rhetorischen Kunstgriffe; und wenngleich er Leidenschaft und Energie besaß, konnte man ihn kaum als herzlichen Parteigänger bezeichnen.

Viel Neid begegnete ihm, und er traf auf zahlreiche Hürden; die liebenswürdige, beschwingte Geselligkeit seines natürlichen Verhaltens, das ihn in seiner frühen Jugend zum Idol seiner Kameraden in Schule und Universität gemacht hatte, war längst einer kalten, gesetzten und vornehmen, wenn auch sanftmütigen Zurückhaltung gewichen, so dass er für den Herdentrieb keine Anziehungskraft besaß. Doch obwohl er selten sprach und vernahm, wie viele, nur halb so Begabte wie er begeistert bejubelt wurden, gebrach es ihm nicht an Aufmerksamkeit und Achtung; zwar war er kein Liebling von Cliquen und Parteien, so existierte dennoch im großen Volkskörper – der überhaupt das Publikum und das Tribunal darstellte, an das sich Maltravers literarisch oder politisch richtete –, still heranwachsend und sich ausbreitend einen Glauben an seine redlichen Absichten, seine unbestechliche Ehrenhaftigkeit und seine zutreffenden, wohl erwogenen Anschauungen. Er hielt seinen Namen für gut angelegt, wenn auch die Zinsen für das Kapital nur langsam und mäßig flossen. Er war es zufrieden, seine Zeit abzuwarten.

Jeden Tag wuchs seine Neigung für jene wahre Philosophie, die einen Menschen, so weit es die Welt zulässt, zu einer Welt für sich selbst macht; und von der Höhe eines ruhigen, heiteren Selbstwertgefühls empfand er den Sonnenschein über sich, wenn heimtückische Wolken sich unten verdrießlich ausbreiteten. Weder verachtete oder erschütterte er willentliche die öffentliche Meinung, noch schmeichelte er ihr kriecherisch. Wo er glaubte, man müsse der Welt ihren Willen lassen, ließ er ihr diesen – wo er meinte, man müsse sie verachten, verachtete er sie.

In vielen Fällen kann ein ehrliches, wohlgebildetes, hochherziges Individuum weitaus besser als die Menge beurteilen, was richtig oder falsch ist; und dann ist er keinen Pfifferling wert, wenn er zulässt, dass die Menge ihn durch Bravo- oder Buh-Rufe von seinem Urteil abbringt. Wenn man der Öffentlichkeit die Zügel schießen lässt, verhält sie sich wie eine fluchwürdige Klatschbase, die ihre Nase in anderleuts Sachen steckt, in die sie sich nicht einzumischen hat; und bei derlei Dingen, wo sich das Publikum impertinent verhält, wies Maltravers seine Einmischung mit ebenso stolzer Verachtung zurück, wie er es bei der Einmischung irgend eines unverschämten Teils des unverschämten Ganzen getan hätte.

Es war diese Mischung aus inniger Liebe und tiefgründiger Achtung für das ewige Volk einerseits und aus ruhiger, leidenschaftsloser Verachtung für jenen kapriziösen Scharlatan, das augenblickliche Publikum andererseits, die Ernest Maltravers zum originellen, einsamen Denker machte, der als Handelnder arrogant und ungesellig erschien, in Wirklichkeit aber bescheiden und wohlwollend war. »Beim Pauperismus besteht im Gegensatz zur Armut«, pflegte er zu sagen, »eine Abhängigkeit unserer Existenz von anderen Menschen, nicht von unseren eigenen Anstrengungen; beim moralischen Pauperismus besteht die Abhängigkeit von anderen Menschen in der Stütze des moralischen Lebens – der Selbstachtung.«

Gewappnet mit dieser Philosophie verfolgte er seinen hohen, einsamen Weg und fühlte dabei, dass die Menschheit, wenn erst Vorurteil und Neid abgestorben seien, tief im Herzen Verständnis für seine Motive und seinen Werdegang haben würde. So weit es seine eigene Gesundheit betraf, war das Experiment übrigens gelungen. Keine Schinderei im Parlamentsbetrieb mit seinen langen Abenden und noch langweiligeren Reden kann jene schreckliche Erschöpfung verursachen, die seelische Anstrengungen nach sich ziehen, wenn es um das Eindringen in die höheren Räume strengen Denkens oder hochgespannter Vorstellungskraft geht. Diese überstrapazierten Fähigkeiten lagen nun brach – und der Körper gewann zügig seine Spannkraft zurück.

Privat erfuhr Ernest nur wenig Annehmlichkeit und Inspiration. Er entfremdete sich seinem alten Freund Ferrers mit der Zeit, da Ihre Gepflogenheiten gegensätzliche Formen annahmen. Cleveland verbrachte sein Leben zunehmend auf dem Land und war mit seines einstigen Mündels Lebensrichtung und seinem wachsenden Ruf zu sehr zufrieden, um ihn mit Ermahnungen oder Ratschlägen zu belästigen.

Cæsarini war zum literarischer Salonlöwen geworden, dessen Genie heftig in allen Kritiken gelobt wurde – nach demselben Prinzip, welches das Lob ausländischer Sänger oder bereits toter Menschen verursacht: wir müssen etwas loben, und wir mögen das nicht bei denen tun, die sich uns in den Weg drängen. Cæsarini war daher außerordentlich von sich eingenommen – schwor, dass England die einzige Nation sei, die wahres Verdienst anzuerkennen wisse und verhehlte nicht länger seinen eifersüchtigen Zorn über Maltravers' größere Berühmtheit.

Ernest erkannte mitleidig seufzend, dass Cæsarini seine Substanz verwirtschaftete und seine Gaben in Form von Salon-Petitessen prostitutierte. Er versuchte ihn zu warnen, aber der Italiener zeigte dabei eine solche Ungeduld, dass Ernest resigniert das Wächteramt aufgab. Er schrieb an De Montaigne, der jedoch genauso wenig Erfolg hatte. Cæsarini wollte unbedingt sein eigenes Spiel machen. Und auf ein Spiel war es – ganz unmetaphorisch – schließlich hinausgelaufen: Seine Sucht nach Erregung ließ sich am Hazard aus, und seine verbleibenden Guineen schmolzen täglich dahin.

De Montaignes Briefe trösteten Maltravers über den Verlust nicht gleichermaßen seelenverwandter Freunde. Der Franzose war nun ein angesehener, gefeierter Mann; und seine Anerkennung bedeutete Maltravers mehr, als es die Hurrahs der Menge getan hätten.

Inzwischen aber wurde durch den fortgesetzten Briefwechsel seiner unbekannten Egeria Spätantike Schriftstellerin aus Gallien, die als Pilgerin von 381 bis 384 das Heilige Land bereiste und darüber einen Reisebericht in Form eines Briefes an ihre Mitschwestern verfasste. – Anm.d.Übers. seiner Eitelkeit geschmeichelt und seine Neugier geweckt. Dieser Briefwechsel – wenn man ihn denn in seiner einseitigen Form so nennen kann – hatte nun eine beträchtliche Zeit seinen Fortgang genommen, und Ernest war weiterhin völlig außer Stande, die Verfasserin zu entdecken: der Ton der Briefe hatte sich in letzter Zeit geändert – er war trauriger und gedämpfter geworden – er sprach zugleich von Leere und Lohn des Ruhms und deutete oft, mit einem Hauch echt weiblichen Gefühls, mehr auf die Wonne, im Trübsinn trösten zu können, als auf Anteilnahme am Erfolg.

Aus all diesen Briefen sprachen unleugbar ein hoher Intellekt und tiefes Gefühl; sie erregten in Maltravers ein starkes, lebhaftes Interesse, doch war dieses Interesse nicht von der Art, dass er die Verfasserin deshalb zu entdecken wünschte, um sie zu lieben. Die Briefe waren größtenteils zu voll von Ironie und Bitterkeit eines männlichen Geistes, um jemanden zu faszinieren, der Sanftmut für die Essenz weiblicher Stärke hielt. Sie verrieten nicht weniger Temperament denn Geist und Herz, aber es war nicht jene Sorte Temperament, die ein Liebhaber weiblicher Frauen bewundern konnte.

»Man spricht oft von Ihnen«, hieß es in einem dieser merkwürdigen Sendschreiben, »und ob die Dummköpfe Sie nun loben oder tadeln: beides ärgert mich gleichermaßen. Wie verabscheue und verachte ich diese elende Welt, in der wir leben! – dennoch wünsche ich, dass Sie ihr dienen und sie beherrschen! Welch schwächlicher Widerspruch, welch ein weibisches Paradox! Oh! tausendmal lieber sollten Sie ihren gemeinen Versuchungen und ihrem ärmlichen Lohn entfliehen! – wohnten Sie in der Wüste und bräuchten einen Diener: ich könnte allem entsagen – Reichtum, Schmeichelei, Ruf, Weiblichkeit – um Ihnen zu dienen.

* * *

»Ich bewunderte Sie einst für Ihr Genie. Meine Krankheit hat sich in mir festgesetzt, und nun verehre ich Sie beinahe um Ihrer selbst willen. Ich habe Sie gesehen, Ernest Maltravers, – oft gesehen, – wo Sie nie ahnten, dass diese Augen auf Sie gerichtet waren. Da ich Sie gesehen habe, verstehe ich Sie besser. Wir können Menschen nicht aufgrund ihrer Bücher und Taten beurteilen. Die Nachwelt kann nichts vom Wesen der Vergangenheit wissen. Tausend nie geschriebene Bücher – tausend nie getane Taten – existieren für die Augen und Lippen der wenigen, welche die Masse überragen. In jenem kalten, fernen Blick, jener bleichen, stolzen Stirn lese ich die Verachtung von Hindernissen, wie es eines Mannes würdig ist, der seinem Ziel mit Zuversicht entgegen schaut. Doch füllen sich meine Augen mit Tränen, wenn ich Sie genauer ansehe! Sie sind traurig, Sie sind allein! Sie lassen sich von Misserfolgen zwar nicht demütigen, Ihre Erfolge erheben Sie jedoch auch nicht. Oh, Maltravers, ich, als eine Frau, als jemand, der in einem engumgrenzten Kreis lebt, ich, sogar ich, habe schließlich erkannt, dass, edlere Wünschen und erhabenere Ziele zu haben als andere, nur heißt: waches Leben krankhaften, schwermütigen Träumen preiszugeben.«

* * *

»Gehen Sie mehr in die Welt, Maltravers – gehen Sie mehr in die Welt, oder verlassen Sie sie ganz und gar. Sie müssen Ihren Feinden begegnen; sie vermehren sich, sie gewinnen Stärke – Sie schreiten zu ruhig, zu langsam voran zu dem Lohn, der Ihrer harrt, um meine Ungeduld zu befriedigen, um Ihre Freunde zu überzeugen. Seien Sie nicht so vergeistigt in Ihrem Ehrgeiz, machen Sie sich unmittelbarer nützlich! Beine, die auf dem Boden stehen, sind im Rennen noch stets die schnellsten. Sogar Lumley Ferrers wird Sie überholen, wenn Sie nicht achtgeben!«

* * *

»Warum lasse ich mich so treiben?! Sie – Sie lieben eine andere, gleichwohl sind Sie das Ideal, das ich lieben könnte – wenn ich jemals irgend jemanden liebte. Sie lieben – und dennoch – nun – es ist gleichgültig.«


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