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Um zu verheimlichen, wie vollständig das Jesusideal des Neuen Testaments aus dem Alten wächst, hat sich das orthodoxe Christentum in neuerer Zeit bemüht, einen Gegensatz zwischen dem Verhältnis des älteren Judentums zu Jahve als Herrn und Jesu Verhältnis zu ihm als Vater festzustellen.

Auch im Alten Testament wird Gott als der liebende Vater aufgefaßt. Jesaia ruft aus (63, 16; 64, 7): »Denn du bist unser Vater – … unser Vater bist du« und so an über zwanzig Stellen.

Überhaupt ist der Gegensatz zwischen der Lehre Jesu und der der Thora oder der Rabbiner vor ihm ganz künstlich errichtet. Selbst die sonderbarsten Dinge, die die Evangelisten Jesus in den Mund gelegt haben, sind vor seiner Zeit gesagt worden. Im 5. Buch Moses 33, 9 steht: »Er sprach zu seinem Vater, seiner Mutter: ich sah sie nicht. Und er erkannte seine Brüder nicht und achtete seiner Söhne nicht, denn dein Wort wahren sie und hüten deinen Bund.« Bei Matthäus 19, 29: »Und wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird's hundertfältig nehmen und das ewige Leben ererben.«

Im Baba Mezia (fol. 38, col. 2) steht: »Bist du aus Pombeditha (in Babylonien), wo sie einen Elefanten durch ein Nadelöhr treiben können?« Bei Matthäus 19, 24 ist Jesus in den Mund gelegt: »Wahrlich, ich sage euch: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme« – was dem scherzhaft ausgesprochenen Satz einen ebionitischen Schwung verleiht, den er ursprünglich nicht hatte, der aber auf die kommunistischen Neigungen des Evangelisten deutet.

In der Regel spricht Jesus ganz und gar im Geiste des Alten Testaments. »Er ging in die Schule nach seiner Gewohnheit am Sabbattage und stand auf und wollte lesen. Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaia gereicht. Und da er das Buch auftat, fand er den Ort, da geschrieben steht: »Der Geist des Herrn ist bei mir, darum, daß er mich gesalbt hat, er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkünden das angenehme Jahr des Herrn!« Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich« (Lukas 4, 16-20, Jesaia 61, 1-2). Im Talmud wird erzählt, daß ein Heide zu Hillel kam und ihm sagte: »Ich will das Judentum annehmen unter der Bedingung, daß du mir deine ganze Lehre beibringst, während ich auf einem Bein stehe.« Hillel sagte: »Was du selbst nicht magst, das tue auch deinem Nächsten nicht, das ist die ganze Lehre. Alles übrige entwickelt sich nur daraus. Geh und lerne!«

Der Mangel der Evangelisten an Folgerichtigkeit zeigt sich darin, daß sie Jesus sich gewöhnlich so ausdrücken lassen, als kennte er genau den Geist des Alten Testaments, während sie ihm an anderen Stellen ganz unrichtige Äußerungen über die biblischen Schriften in den Mund legen.

So sagt er Matthäus 5, 43: »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde usw.«

Hätte Jesus wirklich diese Worte gesagt, so würde er nur Unwissenheit mit Bezug auf das Gesetz an den Tag gelegt haben. Im 4. Buch Moses 19, 18 wird dort, wo die Nächstenliebe vorgeschrieben wird, ausdrücklich festgestellt, daß man weder Eingeborene noch Fremde hassen darf, und 19, 34 wird sogar vorgeschrieben, daß man den Fremden lieben soll wie sich selbst. Ja, Liebe zu Feinden ist ausdrücklich geboten im 2. Buch Moses 23, 4 und 5: »So du den Ochsen deines Feindes oder seinen Esel irrend antriffst, sollst du ihm denselben zurückbringen. So du siehest den Esel deines Hassers erliegend unter seiner Last, hüte dich, ihn zu verlassen, verlassen sollst du den Ort mit ihm.«

Ja in den älteren Handschriften der Evangelien findet man nicht die später Jesus zugeschriebenen Worte: »Segnet, die euch fluchen, tut gut denen, die euch hassen!« Wohl aber steht im Talmud ( Sanhedrin, fol. 48): »Es ist besser, Unrecht leiden, als Unrecht tun«, und ( Baba mezia 93): »Seid lieber unter den Verfolgten als unter den Verfolgern!«


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