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Die Jesussage


Einleitung

In der Schweiz und in vielen anderen Ländern hat das Volk über 600 Jahre nicht daran gezweifelt, daß Wilhelm Tell ein Landmann aus Bürglen im Kanton Uri, ein Schwiegersohn Walter Fürsts, ebenfalls aus Uri, war. Als er am 18. November 1307 nicht den Hut vor dem Hute zog, den der österreichische Landvogt Hermann Geßler in Altorf auf einer Stange als Zeichen der Oberhoheit Österreichs errichtet hatte, befahl der Vogt Tell als berühmtem Bogenschützen, einen Apfel vom Kopfe seines Sohnes zu schießen. Sonst sollte der Knabe mit ihm sterben.

Tell traf den Apfel, gestand aber, daß der zweite Pfeil, den er zu sich gesteckt hatte, für Geßler bestimmt gewesen wäre, falls er den Apfel nicht getroffen hätte, worauf der Landvogt ihn festnehmen und nach seiner Burg schaffen ließ. Der Sturm auf dem Vierwaldstätter See brachte das Schiff in Gefahr, und Tell wurde seiner Fesseln entledigt, um das Boot zu steuern. Mit einem gewaltigen Satze sprang er an Land und stieß das Fahrzeug wieder in den See hinaus. Hierauf erschoß er im Hohlwege bei Küßnacht den reitenden Vogt. Er kämpfte 1315 in der großen Schlacht von Morgarten für die Freiheit der Schweizer und starb im Jahre 1354 bei dem Versuche, ein Kind vom Ertrinken im Schächenbach zu retten.

Es gibt in der Schweiz nicht weniger als drei Tellkapellen. In der Nähe des uralten Dorfes Bürglen bezeichnet jetzt eine kleine, mit Bildern aus Tells Leben geschmückte Kapelle die Stelle, wo das Haus lag, das einst die Wohnung Tells gewesen war. Unmittelbar dahinter ragt die efeuumsponnene Ruine eines Turmes empor; hier soll in alten Tagen, als Nieder-Uri noch zum Frauenmünsterstift von Zürich gehörte, der Majordomus der Herrschaft gewohnt haben. In der Umgegend hat man jedoch lange Zeit behauptet, der Turm hätte zu einem Schlosse gehört, dessen Besitzer, ein Herr von Attinghausen, ein Edelmann war, von dem erzählt wird, daß er der Schwiegervater Tells gewesen. Er wird daher Walter Fürst von Attinghausen genannt. Im Laufe der Jahre wurde die Behauptung aufgestellt, daß auch Tell ein Edelmann gewesen wäre, und der von Johannes Müller das lebende Schweizer Archiv genannte Marschall Fidel von Zurlauben bringt in seinem Verzeichnis des Uri-Adels das Wappenschild Wilhelm Teils.

Die Kapelle bei Bürglen wurde im Jahre 1582 gestiftet, im Mai 1584 eingeweiht.

Die Tellplatte und der Rettungssprung werden zuerst in einer Schweizer Chronik erwähnt, die zwischen 1467 und 1480 geschrieben ist. Auf der Tellplatte wurde eine Kapelle kaum vor Mitte des 16. Jahrhunderts errichtet. 1561 fand zum erstenmal ein Kreuzzug zur Tellplatte statt, der von 1582 an auf Verfügung des Kanton Uri alljährlich unter Leitung der Obrigkeit in Amtstracht abgehalten wurde.

Die dritte Tellkapelle ist die bei Küßnacht, bei dem Hohlwege, wo der tödliche Schuß den Vogt getroffen haben soll. Hier ist dies und jenes, bei dem man stutzt. Flecken und Schloß Küßnacht wurden erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts mit dem Lande Schwyz vereinigt. Was hatte also der Schwyzer Landvogt Geßler hier zu suchen? Noch sonderbarer wirkt der Umstand, daß die sogenannte Geßlerburg am Fuße des Rigi, gerade beim Flecken Küßnacht liegt. Der Vogt, der auf dem Wege von Uri landete, hatte also nur einige hundert Schritt zu gehen, um nach seiner Festung zu kommen und sich von den Schrecken der Seefahrt zu erholen. Soll er die Kapelle berührt haben, so muß er ohne Plan und Absicht seine Burg haben liegen lassen und in der Sturmnacht den weiten Weg nach Immensee geritten sein, um den Hohlweg zu erreichen, wo er von der Stelle, an der die Kapelle steht, erschossen werden konnte.

Die Erklärung ist, wie man heutzutage wohl weiß, ganz einfach: Wilhelm Tell hat nie existiert. Ein Landvogt namens Geßler hat nie existiert. Der ganze Bericht vom Entstehen der Schweiz durch den Bund auf dem Rütli ist eine Sage.

Was aber weniger allgemein bekannt ist: Es hat Mühe gekostet, die Anerkennung der Wahrheit durchzusetzen. Der Berner Geistliche Uriel Freudenberger forderte im Jahre 1752 durch Freunde die Geistlichkeit in Uri auf, die Zweifel an Tells Existenz mit Hilfe der so zahlreich vorliegenden Telldokumente zu widerlegen. 1759 kam die Antwort in Gestalt einer Reihe von Fälschungen, 1760 gab Freudenberger dann seine Flugschrift Guillaume Tell, fable danoise, heraus, die zur öffentlichen Verbrennung verurteilt wurde. Es ist ein Mißverständnis, wenn es in dem Werke The Folklore of Fairy Tale von Maclod Yearsley (London 1924) heißt, Freudenberger sei selbst lebendig verbrannt worden. (Seite 196.) Daß man ihm jedoch nicht wohlwollte, ist sicher. Wer eine Wahrheit ausspricht, die die teuersten Vorstellungen eines Volkes auf den Kopf stellt, muß auf Verfolgung und vieles Schimpfen vorbereitet sein. Man erinnere sich nur der Verfolgung, die 75 Jahre später in Deutschland gegen David Friedrich Strauß in Szene gesetzt wurde.

So einfach, wie Freudenberger meinte, war die Lösung des Wilhelm-Tell-Rätsels nun doch nicht. Zwar war es die Darstellung der Volkssage von Palnatoke bei Saxo Grammaticus (um 1180), die auf literarischem Wege nach der Schweiz gelangt war und den Anlaß zur Tellsage gegeben hatte. Grimm sprach in seiner Mythologie aus, daß der Tod König Haralds von der Hand des Schützen historisch, der Apfelschuß dagegen mythisch sei, aber der in Dingen des nordischen Altertums weit mehr bewanderte, grundgelehrte Konrad Maurer leugnet auch die historische Existenz Palnatokes. Er ist in der Sage ursprünglich kein Däne, sondern ein Finnenhäuptling. Und es liegt viel Mythologie in dem tödlichen Pfeilschuß. Die Grundbedeutung des Wortes Tell ist Tor, einer, der blind handelt (wie Hödur, wenn er Baldur trifft). Und die Sage ist universell. Der persische Dichter Ferîd Eddín Attâr, geb. 1119, erzählte 1175 in seinem Gedicht von der Sprache der Vögel von einem König, der einen Lieblingssklaven hatte. Diesem legte er einen Apfel auf den Kopf, schoß mit Pfeilen danach und spaltete ihn immer wieder, bis der Sklave vor Furcht krank wurde.

Auch in Tells Sprung aus dem Boote liegt viel Mythologie. Es ist ein Zug, der sich durch alle Zeiten erhalten hat, daß der von Dämonen bekämpfte Gott oder der mit dem Tode bedrohte Held sich durch einen wunderbaren Sprung vor den Nachstellungen der Verfolger rettet. Glaukos Pontios z. B., ein Fischer, war ins Meer gesprungen und wurde in der böotischen Stadt Anthedon als Gott verehrt; am Meeresufer gab es im Altertum einen Ort, der Sprung des Glaukos genannt wurde.

Als um das Jahr 1006 der angelsächsische Dichter Cynewulf das Leben Jesu behandelte, ordnete er seine Erzählung von der Himmelfahrt so, daß er Jesus sechs Wundersprünge machen ließ, von denen ihn erst der letzte in den Himmel zurückführte.

Als geistig unbegabt, hat Tell schon früh in der Sage drei Vormünder erhalten: Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold Melchthal. Sie schließen sich auf dem Rütli zusammen und begründen die Schweizer Eidgenossenschaft. Tell ist von ihren Zusammenkünften ausgeschlossen.

Alles ist in hohem Grade erdichtet und unwirklich.

Es ist ein Fleck auf der Ehre des großen Schweizer Historikers Johannes v. Müller, daß er sich aus Furcht, seine Popularität einzubüßen – obwohl er sich persönlich ganz klar war, daß nichts Historisches an der Sage von Tell und Geßler war –, nur schwebend und unklar darüber ausgesprochen hat.

Durch Schillers schöne, von Goethe inspirierte Tragödie Wilhelm Tell wurde die Bedeutung Tells als Schweizer Nationalheld und als Personifizierung der Freiheitsliebe für alle Zeiten festgesetzt. So eins ist Tell mit dem Staate Schweiz geworden, daß sein Bild lange auf den Schweizer Briefmarken stand.

Er hat nie existiert; aber das tut ihm keinen Abbruch; er ist und bleibt ein wirksames Ideal und beherrscht als Vorbild die Gemüter.

Dasselbe gilt von einer Gestalt, die gleich ihm der Welt der Sage angehört, aber einen weit durchgreifenderen Einfluß auf europäisches und amerikanisches Seelenleben ausgeübt hat.


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