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So ist das Fesselnde also nicht: Wunder oder Nichtwunder. Es ist jedoch von großem Interesse, zu sehen, wie Mythen und Legenden sich bilden.

Ein beginnender Bibelleser stutzt z. B., wenn er sieht, daß die Kreuzigung Jesu, falls sie überhaupt stattgefunden hat, den damaligen Juden zur Last gelegt worden ist. Es ist doch eine gegebene Sache, daß die Juden im damaligen Palästina keine Jurisdiktion besaßen. Sie waren also ganz und gar außerstande, selbst jemand zu richten. Ferner aber ist es außerordentlich unklar, welches Interesse sie daran gehabt haben sollten, den römischen Statthalter durch eine Drohung zu veranlassen, Jesus zum Tode zu verurteilen. Es ist unwahrscheinlich, daß der Römer einer solchen Beschwerde stattgegeben hätte.

So wenig es dem englischen Vizekönig in Indien einfallen könnte, einen Hindu wegen abweichender Anschauungen betreffs der Lehre Buddhas zum Tode zu verurteilen, so wenig ist es denkbar, daß ein römischer Prokurator eingegriffen hätte anläßlich einer Beschuldigung wie der, die Markus 14, 54 (obendrein zufolge einander widersprechender Zeugnisse) gegen Jesus vorgebracht wird. Er soll gesagt haben: »Ich will den Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht sei.«

Das wird bekanntlich im Johannesevangelium symbolisch ausgelegt. Aber buchstäblich verstanden, wie bei Markus 14, 58, erscheint es nicht gefährlich für die menschliche Gesellschaft.

Falls in unsern Tagen ein Mann angeklagt würde, weil er gesagt hat: »Ich will Christiansborg niederreißen, es aber im Laufe von drei Tagen geistig schöner wieder aufbauen«, so würde das Gericht zuerst untersuchen, ob er das wirklich gesagt, dann, ob der Angeklagte einen Versuch gemacht hat, das irdische Christiansborg niederzureißen, und wenn dies nicht geschehen ist, würde die Klage abgewiesen werden. Eine Untersuchung, ob Anstalten zur Errichtung eines himmlischen Christiansborg getroffen wären, dürfte als ausgeschlossen betrachtet werden.

Der Römer würde sich natürlich zuerst davon unterrichtet haben, ob von dem Angeklagten tatsächlich ein Versuch gemacht worden sei, den Tempel niederzureißen, und, falls das verneint wäre, würde er verstanden haben, daß die Äußerung, wenn überhaupt so gefallen, sinnbildlich oder poetisch gemeint gewesen war; daraufhin würde er die Klage abgewiesen haben, da sie ihn nichts anging.

Wir können dies mit Sicherheit wissen, denn in der Apostelgeschichte (18, 12), wo ausnahmsweise eine historische Persönlichkeit auftritt und wo das meiste daher glaubwürdig erscheint, können wir lesen, welche Antwort Senecas Bruder Julius Annaeus Gallio, der (nur im Jahre 51-52) Prokurator von Achaia war, in diesem Jahre gab, als Juden in Korinth Paulus anklagten, »die Leute zu überreden, Gott zu dienen dem Gesetze zuwider«: »Wenn es ein Frevel oder Schalkheit wäre, liebe Juden, so hörte ich euch billig; weil es aber eine Frage ist von der Lehre und von den Worten und von dem Gesetze unter euch, so sehet ihr selber zu, ich gedenke darüber nicht Richter zu sein.«

Rings im Alten Testament fanden sich Stellen, die als auf einen neuerstandenen Messias passend ausgelegt werden konnten. Im 5. Buche Moses waren z. B. die Worte Moses in den Mund gelegt worden: »Propheten aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, gleich mir, wird dir erstehen lassen der Ewige, dein Gott, auf sie sollt ihr hören.« Im Evangelium des Johannes (6, 14) werden diese Worte unmittelbar hinter der Erzählung von der Speisung der 5000 Menschen mit 5 kleinen Broten angeführt. »Da sprachen die Menschen: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.« In der Apostelgeschichte (3, 22) beruft Petrus sich auf dieselbe Aussage des Moses.

Es gibt einige Stellen im Propheten Zacharias, die offenbar Motive zu Jesus zugeschriebenen Taten geliefert haben. Bei Zacharias steht (9, 9): »Juble laut, Tochter Zions, jauchze, Tochter Jerusalems! Siehe, dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich, demütig, auf einem Esel reitend, auf dem Füllen einer Eselin.«

Bei Zacharias steht (14, 21): »Und kein Kanaaniter wird fürder im Hause des Ewigen der Heerscharen sein am selbigen Tage«, was als Aufforderung betrachtet werden konnte, Jesus die an und für sich so unwahrscheinliche Vertreibung der Krämer aus dem Vorhof des Tempels zuzuschreiben, die Tauben zur Opferung verkauften und das zu erlegende Geld wechselten. Man denke sich einen Reformator, der die Frauen vertriebe, die vor der Notre-Dame-Kirche sitzen und Wachskerzen denen verkaufen, die sie zu Ehren Verstorbener brennen wollen!


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