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Höchst verwirrend bei der Redaktion der Sammlung kleinerer Schriften, die nach Markus 14, 24 sonderbarerweise Das neue Testament genannt werden, ist der Umstand, daß diese Schriften nicht in ihrer zeitlichen Folge, die ältesten zuerst, die späteren je nach ihrer Entstehungszeit, gesetzt sind. Diese ist zwar nicht ganz sicher; sicher ist aber, daß sie keineswegs mit der Ordnung übereinstimmt, in der die Schriften stehen. Was die Frage unsagbar schwierig macht, ist die Tatsache, daß die meisten der Schriften Umarbeitungen, Abschleifungen und Hinzufügungen unterworfen worden sind, so daß die verschiedenen Partien derselben Schrift von verschiedenen Daten sind.

Vor fünfzig Jahren waren sich die fortschrittlichen deutschen Theologen, die Herausgeber der sogenannten Protestantenbibel vom Jahre 1872, zehn überaus gelehrte und tüchtige Männer, einig, daß die Offenbarung des Johannes ursprünglich gar kein christliches, sondern ein jüdisches Werk gewesen sei und erst durch eine spätere Bearbeitung ihre jetzige Form angenommen habe. Und so deutet auch trotz der Bearbeitung nichts darauf hin, daß die übernatürliche Gestalt, von der hier berichtet wird, etwas gemein hat mit dem jungen Zimmermann, Maurer oder Laienprediger aus Galiläa, von dem im Evangelium nach Markus erzählt wird. Der Messias kommt in Wolken, hat eine Stimme wie die Posaune, von der Jesaia spricht (27,13). Er ruft:

»Ich bin Alpha und Omega, der Erste und der Letzte«, Ausdrücke, die Jahve im alten Testament auf sich selbst anwendet. (Jesaia 48, 12.) »Er sah mitten unter sieben goldenen Leuchtern einen, der war eines Menschen Sohne gleich, der war angetan mit einem langen Gewand und begürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar waren weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme; und seine Füße gleich wie Messing, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen. Und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, aus seinem Munde ging ein scharfes zweischneidiges Schwert und sein Angesicht leuchtete wie die helle Sonne.«

Der Verfasser hat Daniels Buch vor sich liegen gehabt und die Stelle teils kopiert, teils variiert, an der es heißt (7, 9): »Sein Gewand war weiß wie Schnee und seines Hauptes Haar wie reine Wolle, sein Stuhl Feuerflammen, dessen Räder lodernd Feuer.«

Es scheint sich also hier um eine aus Daniels Buch stammende schwärmerische Vorstellung zu handeln, die weit später zu dem idyllischen Bilde eines umherwandernden und mahnenden jungen Mannes zusammengezogen worden ist, wie verschiedene Partien der Evangelien erkennen lassen.

Diese anonymen Erbauungsbücher, deren Einfluß auf die europäische und amerikanische Menschheit unermeßlich gewesen, deren historischer Wert jedoch äußerst gering ist, haben ihren Platz im Neuen Testament weit vor den Briefen Pauli erhalten, obwohl diese in ihren nicht vielen echten Partien Einblick in die Gefühlsweise bedeutend früherer Zeiten gewähren. Dieses Verhältnis hat nicht wieder gutzumachenden Schaden angerichtet, eine Mannigfaltigkeit unüberwindlicher Vorurteile verbreitet, es einer wahreren als der gewohnten Auffassung historischer und seelischer Tatsachen fast unmöglich gemacht, sogar bei dem verständigeren Teil der Menschheit durchzudringen.


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