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Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert richtete sich das, was man mißbilligend Freidenkertum nannte, gegen den Glauben an sogenannte Wunder. Allmählich hatte sich die Vorstellung gebildet, das, was man Naturgesetze nannte, sei ein zuverlässiger Ausdruck des göttlichen Wesens, und einzelne sahen sogar ein, wie unvernünftig und unwahrscheinlich es war, daß eine Gottheit oder ein besonders inspirierter Mensch seine höhere Natur durch eine Durchbrechung göttlicher Gesetze dokumentieren sollte. Rationalisten faßten diese Wunder als naive Ausschmückungen historischer Begebenheiten oder als bewußte Erdichtungen auf, die den Glauben an übernatürliche Fähigkeiten beibringen sollten. An der historischen Grundlage selbst wurde nicht gezweifelt. Konnte man nur die sogenannten Wunder loswerden, so blieb für die Freidenker der Kern der Religion, die »Vernunftreligion« übrig.

In England wie in Frankreich und in Deutschland, für Lord Cherbury, Toland und Collins, für Fontenelle, Meslier und Voltaire, für Reimarus, Mendelssohn und den allen überlegenen Lessing sind die Wunder, diese als historisch berichteten Naturwidrigkeiten, im Grunde genommen die Festung, die es zu stürmen gilt, oder der Walplatz, auf dem und um den gekämpft wird.

Noch im Jahre 1863 suchte Renan nur mit seinem Vie de Jésus aus den mythischen Schlacken die kleine elfenbeinerne Jesusgestalt auszuscheiden, die er durch eine Mischung von Kritik, Völkerpsychologie und sentimentaler dichterischer Begabung hervorgebracht hatte, indem er für die Milde und überlegene Ironie der Gestalt sich selbst und für ihre strenge, drohende Haltung gegenüber kirchlicher Heuchelei Lamennais nach seinem Bruch mit Rom als Modell benutzte.

Jetzt liegt kein Nachdruck mehr auf dieser Frage, die vor einem halben Jahrhundert die religiös Interessierten beschäftigte. Die Frage von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von Wundern ist von selbst fortgefallen, wird nicht mehr gestellt, beschäftigt nur die, welche Taschenspieler, Geisterbeschwörer oder Heilkünstler entschleiern wollen, die sich der Suggestion bedienen und sie für Zauberei ausgeben.

Die Frage ist jetzt eine ganz andere und weit größere.

Wer die Religionsformen des Altertums studiert hat, weiß zur Genüge, daß das Idealbild des zu Unrecht Gemarterten und Leidenden, dessen, der gefoltert wird, eben weil er gut und rechtschaffen ist, den menschliche Bosheit sich als Opfer ausersehen hat und der das Leiden um der anderen willen aussteht, lange vor dem Zeitalter geschildert und mit bewundernswerter Leidenschaft dargestellt ist, in dem der historische Jesus zur Welt gekommen sein soll. Die Messiasgestalt als leidende, d. h. als Verkörperung des jüdischen von den Nachbarvölkern unterdrückten und mißhandelten Volkes, das aber doch stärker war als die andern, weil es der Fürsprecher der Wahrheit und Gerechtigkeit war, dieses Ideal von Hoheit, unverdientem Leiden, überlegener Menschlichkeit, fand sich bereits bei dem zweiten Jesaia, wie es sich in anderer Form auch Platon offenbarte in dem Verweilen bei der mit schmählichem Tode gelohnten geistigen Überlegenheit des Sokrates.

Mit andern Worten: Die Christusgestalt als ein Ideal an geistiger Überlegenheit, Menschenliebe, Barmherzigkeit und Reinheit war viele Jahrhunderte älter als der hochsinnige Volksmann aus Galiläa, der vor 1900 Jahren dieses Vorbild als historische Gestalt verwirklicht haben soll, und die Gestalt wird ihn wiederum Jahrhunderte überleben, wenn er auch als Mensch vermutlich nie existiert hat.

Es ist denn auch im tiefsten Sinne nicht wesentlich, wie dieser irdische Lebenslauf sich geformt haben soll. Wir fragen nicht mehr, ob Jesus durch ein Wunder entstand, durch ein Wunder heilte oder Teufel austrieb – wir wissen nicht mehr, was Teufel sind, und wissen nicht mehr, was unter jungfräulicher Geburt oder ähnlichen Wundern zu verstehen ist. Das sind Gespenster, die wir nie gesehen haben, denen wir nie einen Gedanken schenken.


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