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Kapitel Siebenundvierzig. Der Blitz von Lourdes

Schon um drei Uhr werden die Rikschas der Kranken von den Brancardiers auf den prächtigen Rampenplatz vor der Basilika geschoben, die auf dem Felsen von Massabielle reitet wie ein hochmastiges Schiff auf einer Welle. Viele Hunderte solcher Wägelchen sind's, zumeist mit einem Schutzdach versehen, die im weiten Halbkreis die erste Reihe des Chors einnehmen, der das Schauspiel begleitet. Es ist ein ganz und gar tolles Schauspiel, wenn man bedenkt, daß einer aus diesem Chor zum Helden des Mirakels werden kann, indem plötzlich von seinem Lupusgesicht der jahrealte Schorf abfällt wie trockener Mörtel und eine neue, gesunde Haut darunter zum Vorschein kommt. Und dieses Schauspiel ist gar kein Spiel und kein Gerücht und kein Gerede, sondern sichtbare Wirklichkeit, von der sich jeder überzeugen kann, der anwesend ist. Und es ist wahrhaftig so ganz und gar toll und schlägt der menschlichen Geistesnatur so betäubend ins Gesicht, daß man niemanden durch Worte zum Glauben bringen kann und daß selbst diejenigen, welche Augenzeugen sind, nachher ihrer eigenen Erinnerung zu mißtrauen beginnen.

Dicht hinter der Karrenreihe der Unbeweglichen und Schmerzhaften sind aufgestellt die Verkrüppelten, die Hinkenden und die Blinden, die sich selbst zum Orte schleppen können. Hinter diesen aber wogt das Gedränge von Zehntausenden Pilgern und Zusehern, die ein schauerlich großes Erlebnis erwarten, wie es die von Sterblichen bewohnte Erde nirgends zu bieten hat als hier. Brennende Sehnsucht füllt die Herzen der einen, brennende Neugier die Herzen der andern. Mitten im Gewühle stehen Dozous, Lafite und Estrade. Es ist die Absicht des Arztes, den Schriftsteller diese Stunde dort erleben zu lassen, wo das Herz der Masse schlägt. Der Platz ist so gut gewählt, daß der Blick von hier auf die Rampe frei bleibt.

»Es ist ein großer Tag heut«, sagt Estrade. »Sie haben Glück, lieber Lafite, Monseigneur Pichenot, der Bischof von Tarbes, ist eingetroffen, um die Sakramentsprozession persönlich abzuhalten.«

»Ist das sonst Sache des Dechanten Peyramale?« fragt Lafite.

Der Arzt schaut ihn verwundert an:

»Wissen Sie nicht, daß man Peyramale beinahe ganz zur Seite gedrängt hat? Der Arme ist ein Brausekopf, auch noch in seinem Alter. Er kann die Ordensgeistlichkeit nicht ausstehn und sie ihn auch nicht. Schon Monseigneur Laurence, sein großer Gönner, hat ihn fallen lassen seinerzeit. Die Väter von der Grotte haben jetzt das Heft in der Hand. Père Sempet vor allem, der ehemalige Kaplan, dem der Dechant so tief vertraut hat ...«

Lafite zeigt kein großes Interesse für diese Personalnachrichten aus dem Klerus. Er erkundigt sich nach der Bedeutung dieser Sakramentsprozessionen von Lourdes.

»Der Bischof segnet mit dem Allerheiligsten jeden einzelnen Kranken«, belehrt ihn Estrade. »Die meisten Heilungen ereignen sich nach diesem Segen.«

»Beim Segen, und nicht nach dem Genuß der Quelle?« forscht Lafite weiter.

»Bei beiden Gelegenheiten«, erwidert Dozous. »Für mich persönlich aber sind jene Heilungen die wundersamsten, die mit keinerlei Theatralik in Verbindung stehen. Da ist zum Beispiel vor einigen Tagen eine junge Frau mit einem hoffnungslos versteiften Kniegelenk plötzlich genesen, während sie gedankenlos auf einer Parkbank saß und in den Gave starrte. Sie hat weder vorher die Quelle genossen noch gebetet. Es war eine völlig unvorhergesehene Überraschung durch das Heil ...«

Die Schatten werden schon nachmittäglich länger, während die Menge noch immer wächst. Die sonderbarste aller Spannungen verdichtet sich. Dozous und Estrade, alte Zeugen der Erscheinungen, behaupten, es sei stets wieder haargenau dieselbe Art von Erregung, die am großen Donnerstag des Ärgernisses das Volk von Massabielle schüttelte, als jedermann das Rosenwunder erwartete. Unruhig wechseln die Leute ihre Plätze. Ein ozeanisches Gesumme brandet vom bretonischen Kreuz am fernen Ende des Weiheparks bis hinauf an die Rampe der Basilika. Es bricht sich an der in sich versunkenen Totenstille der Schwerkranken, die unbeweglich in ihren Karren hocken. Nichts auf Erden kann so schweigen wie diese auf die Brust oder gegen die Schultern geneigten Häupter, die allzu schwer sind von ihrem Schicksal und von ihrem Warten.

Lafite betrachtet die Menschen, unter denen er eingezwängt steht. Es ist durchaus nicht nur das einfache Volk Südfrankreichs, wie man es kennt: abgeplagte alte Frauen, in billigstes Schwarz gekleidet, zwirngestrickte Halbhandschuhe an den narbigen Händen. Bäurisch schlecht rasierte Männer im Sonntagsgewand, die mit versonnen hellen Augen vor sich hin blicken. Wenngleich diese Gestalten einen beträchtlichen Teil der Menge bilden, so sind sie doch nicht einmal in der Mehrzahl. Es ist auffallend, wieviel wohlgekleidete Menschen sich dem Volke zugesellt haben. Da ist zum Beispiel gleich in Lafites Nähe ein Herr mittleren Alters, vermutlich ein Gelehrter. Buschige Augenbrauen, buschiger Schnurrbart, ein goldenes Pincenez an schwarzer Schnur. Dieses vergeistigte Antlitz hat zweifellos die Frage aller Fragen bis vor kurzer Zeit noch mit einem aufrichtigen »Ignorabimus« beantwortet. Nicht anders als Hyacinthe de Lafite, der nach seinem eigenen Bekenntnis den materialistischen Atheismus auch nur für eine Religion hält, wenngleich für die schlechteste, die es gibt. Jetzt aber tritt der Herr mit dem buschigen Schnurrbart nervös von einem Fuß auf den andern. Er nimmt wohl zehnmal sein Pincenez ab, putzt es, setzt es wieder auf. Er seufzt beklommen. Er wischt sich den Schweiß. Er scheint etwas zu erwarten, von dem er nicht weiß, ob er's wünschen soll oder fürchten. Und dasselbe unbestimmte Gefühl sitzt in der Brust des Schriftstellers.

Die Glocken schlagen an zum Zeichen, daß sich die Prozession des Bischofs, den Worten der Dame gehorsam, zur Grotte begibt, wo der Leib des Herrn in die Monstranz getan wird. Eine Bewegung geht durch die Menschen. Alles drängt näher, gegen die Barriere der Kranken. Einige Minuten später unterdrückte Rufe: »Sie kommen!« Und die vielen Zehntausende werden so still, als würde jedermann seinen Atem festhalten. Auf der Rampe schreitet ein kleines Männchen mit einem Madonnenbanner den andern Fahnenträgern voran.

»Sehen Sie dort diesen Burschen mit den Säbelbeinen?« fragt leise Doktor Dozous. »Er trägt die Fahne vor allen andern, selbst vor dem Müller Nicolau, weil er sozusagen der Erstgeborene des Wunders ist. Wir nennen ihn hier noch immer das Kind Bouhouhorts, obwohl er schon fünfundzwanzig wird. Sie erinnern sich gewiß an den aufregenden Fall damals, als eine Arbeiterfrau an einem der ersten Tage ihr sterbendes Kind in die Quelle tauchte ...«

Hyacinthe de Lafite erinnert sich nicht.

Unter seinem Brokathimmel ist der Bischof erschienen. Das rötliche Violett seiner Gewänder erglänzt in der großen Sonne unterm Weiß der vielen Chorhemden, denn sein Geleite ist zahlreich. Er tritt unterm Baldachin hervor. Mit der strahlenden Monstranz in beiden Händen, bewegt sich der Kirchenfürst auf den Halbkreis der Krankenwagen zu. Die Glocken schweigen für eine Weile. Ein Meßglöckchen klingelt dünn, als der Bischof das rechte Ende des Bogens erreicht hat und über den ersten Kranken mit dem sakramentalen Christus das Kreuzeszeichen macht. Alles sinkt auf die Knie, auch Estrade und Dozous. Lafite blickt auf den fremden Herrn neben sich. Dieser zögert ein wenig, ehe auch er sich auf ein Knie niederläßt. Der Schriftsteller hat's seit seiner frühesten Jugend nicht mehr getan. Er liebt es nicht, in einem Chor mitzuwirken. Er ist von Gott in die Hofloge geladen. Er schämt sich vor sich und den andern, sowohl zu knien, als auch nicht zu knien. Deshalb beugt er sich sehr tief und verbleibt in dieser Haltung. – Segnend geht der Bischof von einem Kranken zum andern. Sein Weg ist lang. Plötzlich sticht irgendwo unter den Tausenden ein schriller Ruf hervor:

»Herr, gib, daß sie sehen!
Herr, gib, daß sie gehen!«

Dieses Stoßgebet, diese magische Beschwörungsformel wird von Chören aufgenommen überall. Von allen Seiten braust's jetzt zum Himmel, um ihn auf die Erde herabzuzwingen. Es ist so, als befände man sich nicht im Europa der Rechen- und Erfindergehirne, sondern in einer Urlandschaft der Menschheit, wo die Volksmassen die Kraft noch nicht verloren haben, zauberstarke Gefühlsströme zu entfesseln und mit ihnen die Übermächte niederzuzwingen. Lafite fühlt, wie auch ihn diese Ströme spiralenhaft einschrauben. Er wundert sich nicht, als der fremde Herr plötzlich an seine Brust schlägt und in das großartig wilde Gebet mit einer Variante einstimmt:

»Herr, gib, daß wir sehen!
Herr, gib, daß wir gehen!«

Der Bischof hat das ganze Halbrund langsam abgeschritten. Nun geht er feierlich die aufstrebende Rampe bis zur Mitte empor. Mit einer unaussprechlich melodischen Gebärde hebt er hoch über seinen Kopf die goldene Monstranz und beschreibt das Segenszeichen übers ganze Volk. Dünn bimmelt das Glöckchen im unendlichen Raum. Dann fallen wieder die großen Glocken ein. Die Segnung ist zu Ende, ohne daß ein außerordentliches Ereignis eingetreten zu sein scheint.

Der Bischof und sein Klerus verschwinden in der Basilika. Die Menge, aus dem Bann erwachend, der sie zusammengeschmiedet hat, verliert ihre Einheit, beginnt durcheinander zu wogen und sich in Gruppen zu zerschlagen. Die Brancardiers treten hinter ihre Krankenwägelchen. Sie warten, bis sich die Rampe geleert haben wird, um dann ihre Schutzbefohlenen in die verschiedenen Hospitäler zu fahren.

»Gehen wir jetzt«, sagt Doktor Dozous.

Lafite zögert. Ist irgend etwas geschehen? Irgend etwas ist geschehen. Man fühlt's zuerst nur ungenau. Dann aber erhebt sich, dort am andern Ende der Karrenreihe, ein scharfes Stimmengewirr. Viele ausgestreckte Hände deuten auf einen Punkt. Menschenwirbel strudeln zusammen. Lafite und seine zwei Begleiter werden mitgerissen. Dozous arbeitet sich energisch vorwärts und zieht die andern nach. Man dringt bis zu den Wagen vor, wo die in solchen Szenen wohlerfahrenen Brancardiers, sich an den Händen haltend, eine Sperre gebildet haben. Dort aber, in dem weiten, freien Raum zwischen Rampe und Wagenreihe, der von Sekunde zu Sekunde zu wachsen scheint, sieht man eine einsame Frau ...

Diese Frau ist ein ungefüger Fett- und Fleischkoloß. Sie hat ein wenig den Rock gehoben, als müsse sie durch schmutzige Pfützen gehn. Ihre Beine sind ungegliedert hochgeschwollene Walzen, so daß die Füße darunter nur wie Stümpfe wirken. Und auf diesen armen Stümpfen geht der weibliche Fett-Turm, Schritt für Schritt, ganz langsam, völlig marionettenhaft, unstörbar diesem Werke des Gehens hingegeben, in einem gleichmäßig starren und unnachgiebigen Rhythmus. Ihren Kopf hat die Frau zurückgeworfen, wobei ihr das armselige, mit Blumen geschmückte Hütchen in den Nacken gerutscht ist. Den Rock hat sie wieder fallen gelassen. Sie hält jetzt ihre Arme balancierend ausgestreckt, als ginge sie nicht auf festem Boden, sondern auf einem Seil. Ein Brancardier folgt ihr routiniert behutsam, um sie aufzufangen, wenn es notwendig wäre. Ein anderer schiebt den Krankenwagen nach. Sie geht und geht, wie in einer unsichtbaren Kugel, die aus Zeit und Raum herausgeschnitten ist und sich mit ihr bewegt. Die Menge starrt ihr atemlos nach. Lafite hört jemanden flüstern: »Ich kenne sie gut. Seit zehn Jahren hat sie keinen Schritt mehr machen können ...«

Wann wird sie zusammenbrechen? denkt Lafite. Die Frau aber bricht nicht zusammen, sondern setzt auf ihren verquollenen Beinen diesen so von innen her abgehackt tänzerischen Gang fort, bis sie ganz klein im Tor der Basilika sich den Blicken entzieht. Jetzt erst zerbricht die Totenstille. Ein kleiner Mann, dem die Tränen über die Backen laufen, stimmt mit einer zittrig hohen Stimme das Magnificat an: »Magnificat anima mea Dominum.«

»Et exultavit spiritus meus«, fällt eine Gruppe von Priestern ein, die sich unter den Zuschauern befindet. Über den ganzen Plan breitet sich nun der Hymnus aus, in dem es von Gott heißt, »daß Er die Mächtigen entthront und die Ohnmächtigen erhöht und sich seines Knaben Israel erbarmt, der Barmherzigkeit eingedenk, die verheißen ist unsern Vätern Abraham und seinem Samen ewiglich ...«

Lafite hat das Gefühl, als hätten sich in seinem Leibe alle Eingeweide gesenkt. Nur um seine eigene Stimme zu hören, fragt er den Arzt:

»Ist das eine echte Heilung?«

Dozous macht eine unbestimmte Geste:

»Es vergehen viele Tage, ja oft Wochen«, sagt er, »bis man darüber ein sicheres Urteil fällen kann. Man muß erst sämtliche ärztlichen Befunde über den Krankheitsfall zusammenbringen ...«

Der Arzt fordert Estrade und Lafite auf, ihn in das Büro der Konstatierungen zu begleiten. Lafite wirft einen Blick in einen Raum, der ihn weniger an ein Ordinationszimmer als an die Navigationshütte eines Segelschiffs gemahnt. Schon in der Tür aber kehrt er um. Er fühlt sich recht elend. Er muß allein sein.


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