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Kapitel Achtzehn. Dechant Peyramale fordert ein Rosenwunder

Es ist beinahe ein Frühlingstag. Noch zwei, drei Wochen, man kann's hoffen in diesem Land, und der Winter ist überwunden. Der große Garten des Pfarrhauses zu Lourdes darf sich sehn lassen. Erwartungsvoll dehnt er sich zwischen den Mauern, die ihn einschließen. Er macht den Eindruck einer Wohnstätte, die für den Empfang neuer Mieter in Eile zugerichtet wird. Der braune Rasen ist da und dort umgestochen, die rote Erde der Beete mit dem Spaten aufgelockert, die Goldregen- und Fliedersträucher mit der Schere gestutzt. Das welke Laub hat man in Haufen zusammengekehrt, während der frische Flußsand in Pyramiden darauf wartet, als Kies vergnügt auf den Wegen zu knirschen. Das Spalier der Rosenstöcke hat man freilich noch nicht der Februarluft auszusetzen gewagt. Diese Rosen sind Marie Dominique Peyramales Stolz und Liebe. Auch jetzt betrachtet er eingehend jeden einzelnen dieser Stöcke, die in Stroh eingewickelt sind oder, wenn es sich um besonders zarte Exemplare handelt, in Sackleinwand. Die rechte Hand des Pfarrers fährt aufmerksam streichelnd über die Verhüllung, als könne sie darunter das verborgen schlummernde Leben ertasten, ob's schon ans Erwachen denkt. Peyramales rechte Hand hat dabei wahrhaftig vergessen, was die linke tut. Diese linke hält nämlich einen Brief fest. Es ist ein wichtiger Brief. Und kein Geringerer hat ihn geschrieben als Monseigneur Bertrand Sévère Laurence, Bischof von Tarbes.

Erst nachdem Peyramale seine Inspektion eines Teils der Rosenstöcke beendet hat, erbricht er das bischöfliche Siegel dieses Handschreibens, das mit der heutigen Morgenpost eingelangt ist. Es ist die Antwort auf seinen Bericht und seine gehorsame Anfrage, die jüngsten Ereignisse in Lourdes betreffend. Wie der Pfarrer es erwartet hat, stellt sich Monseigneur vollinhaltlich auf seinen Standpunkt. Die sogenannten »Apparitionen von Massabielle« bieten vorläufig für die kirchliche Behörde keine Ursache zu einer Stellungnahme, geschweige denn zu einer Aktion. Das kanonische Recht fordert ein Einschreiten ausdrücklich im Falle »nachgewiesener Ketzerei, schädlichen Aberglaubens und schwerer Unruhestiftung in Glaubenssachen«. Keiner dieser Umstände liegt vor. Nichts andres liegt vor als die nicht weiter nachprüfbare Behauptung eines vierzehnjährigen Mädchens, daß ihm eine nicht genannte und nicht bekannte Dame erscheint. Die Verhaltungsweise des Herrn Dechanten von Lourdes – so schreibt anerkennend Seine Gnaden – entspreche demnach restlos dem Interesse der Diözese. Nichtbeachtung der erwähnten Erscheinungen seitens der zuständigen Geistlichkeit sei nach außen hin weiter zu wahren. Der Herr Pfarrer von Lourdes möge daher dem ihm unterstehenden Klerus in Stadt und Land immer wieder das strikte Verbot einschärfen, sich der Menge vor der Grotte beizugesellen. Für etwaige Gewissensfragen im Beichtstuhl könne etwa folgende Antwort als Richtschnur gelten: »Es ist allezeit möglich, daß Boten des Himmels auf Erden erscheinen und Wunder geschehen. Nichts berechtigt aber zu dem Glauben, daß Ähnliches in der Grotte von Massabielle der Fall sei.« Der Bischof von Tarbes nimmt dabei die leidige Geschichte durchaus nicht auf die leichte Achsel. Er erinnert an ein sehr peinliches Präzedenz: vor einigen Jahren hat eine gewisse Rose Tamisier in Avignon die entsprechende Komödie aufgeführt und Begegnungen mit der Allerseligsten Jungfrau erheuchelt. Der Generalvikar jener Diözese, ein weniger mit Verstand als mit Schwärmersinn begabter Mann, ließ sich von dieser ehrgeizigen Kandidatin der Heiligkeit in eine fürchterliche Sackgasse hineinreiten. Die Folge war, nach Aufdeckung des Schwindels, eine unheilvolle Schädigung der kirchlichen Autorität, ein Aufflammen des Atheismus in der Provence und ein politischer Triumph der religionsfeindlichen Kräfte auf der ganzen Linie. Darum sei äußerste Vorsicht am Platze – so schließt Monseigneur sein Handschreiben – und ein ständiges Gebet um Erleuchtung und um Abwendung eines ähnlichen Schadens.

Peyramale faltet den Brief zusammen. Obgleich er ein Lob für ihn selbst enthält, hat er den Dechanten in ungnädige Laune versetzt. Diese großen Herren haben es leicht, vorsichtig und taktvoll zu sein. Sie sind wie die Generäle im Hauptquartier, wohin sich keine Kugel verirrt. Das harte Leben tritt ihnen nur als Schreiberei entgegen. Unsereins aber sitzt mit dem eigenen Hintern mitten im Mist.

Peyramale, ein Menschenkenner, hat übrigens einen ganz bestimmten Verdacht. Was diesen widerwärtigen Unsinn anbelangt, vermutet er, daß gewisse reiche Damen ihre Hand im Spiel haben. Der »Pétroleur der Barmherzigkeit« kennt seine Frömmlerinnen und Betschwestern von der Art der Baup und Millet. Diese nichtsnutzigen Weiber sehen in der Kirche einen Salon oder ein Klublokal, das in prächtiger Verbindung mit Weihrauch und Kerzenglanz ihrer eigenen Machtentfaltung, Klatschsucht und Sensationsgier dienen soll. Wenn es um das Gebot der Nächstenliebe geht, wenn es gilt, das unerträgliche körperliche und seelische Elend des Pyrenäenlandes ein wenig zu mildern, dann halten sie die Tasche zu und jammern, wieviel Geld sie für das Jahresfest der heiligen Anna und für die Ausschmückung verschiedener Altäre schon gespendet haben. Hingegen dürften sie ohne weiteres bereit sein, dem übernatürlichen Walten ein bißchen nachzuhelfen und zu ihrer eigenen höheren Ehre ein kleines Wunder zu veranstalten. Man hat dem Pfarrer die sonderbare Beziehung Bernadettens zu Madame Millet schon hinterbracht. Der Bischof hat ganz recht gehabt, an den Präzedenzfall der Schwindlerin Rose Tamisier zu erinnern ...

Peyramale wendet sich neuerdings einer La France zu, von der er fürchtet, daß sie den strengen Winter nicht überstanden hat. Er will gerade mit seinem Messer den Stock leicht anritzen, um zu sehen, ob er grün sei, als das dumpfe Raunen einer Menschenmasse draußen auf der Straße ihn stutzen macht. Der Lärm nähert sich dem Gartentor. Da weiß der Dechant mit einemmal: das ist Bernadette Soubirous. Und es geschieht, daß der furchtlose Mann eine gewisse Erregung wegen dieses lächerlichen Kindes nicht unterdrücken kann. Seine Finger greifen, wie ertappt, nach dem Brevier in der Tasche. Ein geistlicher Herr soll nicht mit müßigen Augen und leeren Händen angetroffen werden. Peyramale ist wütend gegen sich wegen dieses Griffs nach dem Brevier. Dennoch beginnt er, dem Anschein nach ins Lesen vertieft, in der Akazienallee auf und ab zu gehen, die vom Eingang des Gartens zum Haustor führt.

Es war die Auffassung der klugen Tante Bernarde, daß unter den Worten »Gehn Sie bitte zu den Priestern« niemand anders verstanden sein konnte als der Dechant. Die Herren Pomian, Pènes und Sempet hatte die Dame gewiß nicht gemeint, da diese umgänglicheren Männer ja nur die Kapläne und Kooperatoren des Pfarrers waren. Die sparsame Ausdrucksweise der Dame war manchmal leider so sonderbar allgemein und unbestimmt. Sie nannte zum Beispiel niemals einen Namen, weder den ihren noch den einer andern Person. Auch Bernadette wurde niemals als »Bernadette« angesprochen, sondern stets nur mit jenem so höflichen, aber unverbindlichen »Ich bitte Sie« oder »Ich ersuche Sie«. Vielleicht konnte die Dame einfach die schwierigen Namen der hiesigen Leute nicht behalten. Dagegen sprach freilich, daß sie den Dialekt von Bigorre tadellos erlernt hatte und ihn gewandt zu gebrauchen verstand, wie nur selten ein Fremder und Vornehmer. Vielleicht auch war es ihr verwehrt, Namen auszusprechen, weil die Genannten durch diese Auszeichnung allzusehr hätten erhoben werden können.

Für Bernadette jedenfalls wär's eine große Erlösung gewesen, hätte Tante Bernarde das Wort Priester auf die drei Kapläne gemünzt und nicht auf den Dechanten. In der Person Peyramales war für das Mädchen alles Furchterregende der Kindheit verkörpert. Sie kannte den Herrn Pfarrer nur von der Straße und der Kanzel. Aber wenn er seine verschleierte Donnerstimme zur Homilie erhob, der Bernadette mit ihren Mitschülerinnen beiwohnen mußte, dann schüttelte sie jedesmal der Schrecken. Auch die mächtige Gestalt Peyramales, sein durchfurchtes Gesicht, sein Vorwärtsstürmen mit langen Schritten auf der Straße, das der priesterlichen Gepflogenheit widersprach, hatten dem Mädchen schon seit Kindheit eine ehrfürchtige Angst eingeflößt. Mit einem Wort, der wackere Peyramale war zu groß für die kleine Bernadette. Er spielte für sie die Rolle des Schwarzen Mannes der Kinder. Und diesem Mann soll sie nun als Unterhändlerin der Dame entgegentreten. Das Herz verläßt sie. Am liebsten würde sie umkehren. Aber die energische Bernarde Casterot versteht keinen Spaß, wenn sie einmal eine Sache in die Hand genommen hat. Und sie hat nun, glaubensbereiter als die Mutter des Kindes, die Sache mit der Dame in die Hand genommen. Erbarmungslos versetzt sie ihrer Nichte einen Stoß, so daß Bernadette über die unebene Steinschwelle in den Pfarrgarten stolpert.

Dort, am Ende der Allee, steht der Riese in seiner ganzen Wucht und liest im Brevier. Er wendet Bernadette den Rücken. Oh, möchte er sich doch nie umdrehn, so lautet das Stoßgebet des Mädchens, dem der Mund ganz trocken ist. Mit kleinen Schritten arbeitet sie sich vorwärts und an die Gefahr heran. Es scheint ihr, als habe sie keinen gewöhnlichen Weg vor sich, sondern müsse den eisigen Gave durchwaten. Sie achtet darauf, daß ihr Schritt so wenig wie möglich Lärm macht. Oh, diese Pantinen! Am besten, man ginge bloßfüßig. In einer beträchtlichen Entfernung von Peyramale bleibt sie endlich stehen und hat Herzklopfen.

Jäh fährt der Pfarrer herum. Auf seinem Gesicht steht Donner und Blitz. Nicht anders hat sie's erwartet. Er reckt sich noch höher, als wäre er nicht schon groß genug für die kleine Bernadette:

»Was suchst du hier? Wer bist du?« herrscht er sie an.

»Ich bin die Bernadette Soubirous«, stammelt sie mit kleinem Atem.

»Ah, welche Ehre«, höhnt Peyramale. »Da kommt ja die neueste Berühmtheit auf Besuch ... Bringst du immer dein Hofgesinde mit?«

Bernadette starrt schweigend auf die Erde. Der Pfarrer aber brüllt:

»Wenn sich einer von der Gesellschaft dort in meinen Garten wagt, laß ich die Gendarmerie holen. Hier werden keine Maulaffen feilgeboten!«

Ohne sich umzudrehn und den berühmten Besuch einzuladen, geht Peyramale mit Riesenschritten ins Haus. Bernadette folgt ihm, blaß und ganz verloren. Der Empfangssaal der Pfarrei ist sehr geräumig und ganz kalt, obwohl ein verschwenderisches Feuer im Kamin flammt. Dem vollblütigen Dechanten scheint die Kälte nichts anzuhaben. Er ist rot vor Zorn im Gesicht, und seine starken Lippen sind aufgeworfen. Hoch pflanzt er sich vor der Kleinen auf, als wolle er sie zermalmen:

»Also du bist das unverschämte Gassenmädel«, knurrt er, »das diese lieblichen Geschichten aufführt? He, wie?« Da Bernadette nichts erwidert, läßt seine Stimme den Raum erdröhnen:

»Los! Mach den Mund auf! Was willst du von mir?«

»Die Dame hat mir gesagt«, beginnt das Mädchen, mit Tränen in der Kehle.

Der Pfarrer unterbricht sofort:

»Was heißt das? Welche Dame?«

»Die Dame von Massabielle ...«

»Mir unbekannt ...«

»Aber die wunderschöne Dame doch, die immer zu mir kommt ...«

»Ist diese Dame aus Lourdes? Und kennst du sie?«

»Nein, die Dame ist nicht aus Lourdes. Ich hab sie nie gekannt.«

»Hast du sie gefragt, wie sie heißt?«

»O ja, ich hab die Dame schon gefragt, wie sie heißt. Aber sie gibt keine Antwort drauf ...«

»Ist die Dame vielleicht taubstumm?«

»Nein, die Dame ist nicht taubstumm. Sie redet mit mir.«

»Und was redet die Dame mit dir?«

Bernadette ergreift die Gelegenheit und fällt rasch ein:

»Die Dame hat mir heute gesagt: Gehen Sie bitte zu den Priestern und sagen Sie ihnen, man soll hier eine Kapelle bauen ...« Bernadette atmet auf. Es ist heraus, dem Himmel sei Dank. Der Auftrag ist erfüllt.

Peyramale zieht einen Stuhl heran und läßt sich breit nieder, das verschüchterte Mädel mit seinen feurigen Augen fressend:

»Priester? Was heißt das? Deine Dame scheint eine ausgemachte Heidin zu sein. Auch die Kannibalen haben Priester. Wir Katholiken haben Geistliche, die jeder einen bestimmten Titel führen ...«

»Die Dame aber hat ›Priester‹ gesagt«, bekennt Bernadette, der etwas leichter zumute ist, seitdem sie ihre Botschaft an den Mann gebracht hat.

»Du bist bei mir an die falsche Adresse geraten«, blitzt und donnert Peyramale. »Hast du übrigens Geld, um eine Kapelle zu bauen?«

»O nein, ich hab gar kein Geld.«

»Nun, dann richte der Dame aus, sie möge zuerst das Geld für ihre Kapelle beschaffen, willst du?«

»Jawohl, Monsieur le Curé, ich werd' es ausrichten«, erklärt Bernadette mit gefälliger Raschheit und in vollem Ernst. Peyramale starrt sie ungläubig an und wundert sich über die Naivität dieses Geschöpfes.

»Unsinn«, ruft er und springt auf. »Richte deiner Dame folgendes aus: Der Pfarrer von Lourdes ist nicht gewöhnt, Aufträge von unbekannten Damen entgegenzunehmen, die ihren Namen nicht nennen. Der Pfarrer von Lourdes findet es außerdem nicht besonders fein, wenn Damen mit nackten Füßen auf Felsen herumklettern und unreife Halbwüchsige als Boten bestellen. Und der Pfarrer von Lourdes bittet zum Schluß die Dame ganz ergebenst, daß sie ihn ein für allemal in Ruhe läßt. Das ist alles. Hast du's verstanden?«

»O ja, ich werde es ausrichten«, nickt Bernadette eifrig, der ja nur die Dame wichtig ist, nicht aber die Geschäfte der Dame mit der Welt. Von Furcht und Erregung halb ohnmächtig, wird ihr die Abfuhr gar nicht bewußt, die der Pfarrer der Holdseligsten erteilt. Dieser aber deutet jetzt auf einen großen Besen, den seine Wirtschafterin in einer Ecke vergessen hat:

»Siehst du den Besen dort, Kleine?« wettert er, und es ist der Höhepunkt des Gewitters: »Mit diesem Besen werd ich dich eigenhändig zum Tempel hinauskehren, wenn du es noch einmal wagst, mich zu belästigen!«

Dieser Stimmaufwand ist zu gewaltig für Bernadette. In lautes Schluchzen ausbrechend, stürzt sie davon.

 

Dechant Peyramale hat keinen guten Tag heute. Bei näherer Untersuchung stellt es sich heraus, daß sechs seiner ältesten Rosenstöcke eingegangen sind, ein schwer ersetzlicher Verlust. Wieviel Jahre Sorg und Pflege braucht so eine schmächtige Gerte, ehe sie sich zu dem knotig elastischen Stamm entwickelt, der vom April bis November unaufhörlich knospt und duftberauschende Blüten trägt. Doch nicht allein seine sechs Rosen bekümmern den Pfarrer, mit denen er nun einheizen kann. Sein heutiges Benehmen gegen Bernadette Soubirous drückt ihn fühlbar. Gut, sie ist eine kleine Schwindlerin, oder besser, ein mißbrauchtes Werkzeug der Millet und anderer ehrgeiziger Weiber. Das ist aber kein Grund, daß sich der Pfarrer von Lourdes diesem schwächlichen Kind gegenüber aufführt wie ein patentierter Menschenfresser oder wie der Teufel im Marionettentheater. Als die Kleine plärrend davonlief, hätte er sie gern zurückgeholt und mit einem väterlichen Kopfstück und einem Heiligenbildchen getröstet, denn Bernadette gehört ja zu den Ärmsten der Armen. Ach Gott, die Weichheit ist dabei die schlechteste Methode, mit dem Gesindel umzugehn. Er kennt's bis in den letzten Winkel der verschlagenen Seele.

Aber da sind noch andre Gedanken, die den Sinn des Pfarrers beschweren. Seit dem Besuch des Gassenmädels ist seine Sicherheit nicht mehr ganz so intakt wie vorher. Die Dame hat es durch Bernadettens Vermittlung verstanden, sich in seinem Gehirn einzunisten. Er denkt an die zahlreichen Erscheinungen der Jungfrau in vergangener Zeit, die durch die kirchliche Chronik dieses Landes erhärtet und bestätigt sind. War zum Beispiel Anglèse de Sagazan, das Hirtenmädel aus der Gascogne, das im Tale von Garaison mehrfach von der Allerseligsten beglückt wurde, so sehr verschieden von Bernadette Soubirous? Und Cathérine Labourdé von Saint Sévérin? Und Mélanie, das Mädchen aus La Salette, diesem hohen, verlorenen Alpenweiler in der Dauphine? Die Kirche erkannte die Erscheinungen von La Salette als vollgültig und sehr heilsam für den Glauben an. Und das Merkwürdige ist, diese Erscheinungen haben sich vor verhältnismäßig kurzer Zeit ereignet, vor ein- oder zweiundzwanzig Jahren. Es gibt somit nicht nur den Präzedenzfall Rose Tamisier, sondern den weit beängstigenderen Präzedenzfall Mélanie von La Salette. Der Bischof hat höchste Vorsicht angeordnet. Marie Dominique Peyramale beschließt, der morgigen Frühmesse ein Gebet um »Aufdeckung der Wahrheit über Massabielle« einzufügen, und er ärgert sich, daß es dieser kleinen, so harmlos wirkenden Hexe mit ein paar Worten gelungen ist, ihn, den Unbeweglichen, von seinem festen Standpunkt immerhin so weit abzubringen.

Bernadette aber fühlt sich noch viel weniger wohl als der Dechant. Kaum hat sie, immer noch schluchzend, zwischen ihren Tanten Bernarde und Lucille, hundert Schritte zurückgelegt, als sie zusammenschrickt, weil ihr ein fürchterliches Versehen unterlaufen ist. Sie hat ja nicht die ganze Botschaft der Dame ausgerichtet, sondern den zweiten Teil vergessen: »In Prozessionen möge man kommen ...«

Das Orakel Bernarde Casterot ist der Ansicht, die Vermeidung dieses zweiten Teils sei nicht notwendig, da der Herr Pfarrer schon die Voraussetzung dieser Prozessionen, die Kapelle nämlich, mit scheltendem Hohn zurückgewiesen habe. Bernadette aber ist nicht so vernünftelnd gescheit wie Tante Bernarde. Die so wenig redselige Dame weiß, was sie will. Sie verlangt Prozessionen. Infolgedessen muß dieser Wunsch unverzüglich ausgerichtet werden, wenn man bei der morgigen Wiederbegegnung ein unbeschwertes Herz haben will. Die Handlungsweise der Dame ist nicht vorherzuberechnen. Wenn sie sich durch Bernadette enttäuscht fühlt, kann das Unglück geschehen, daß sie sich für einige Tage oder, entsetzlich zu denken, gar für immer zurückzieht.

Der Gang zum Pfarrhaus, und noch dazu ein paar Stunden nach dem ersten Hinauswurf, ist nicht viel behaglicher als ein Gang zur Hinrichtung. Der Riese wird einen Tobsuchtsanfall bekommen und Bernadette, seinem Versprechen gemäß, mit dem Besen zum Tempel hinauskehren. Vielleicht wird er sie sogar mit diesem Besen durchwalken. Was aber kann sie andres tun, als die Zähne zusammenbeißen und auf das Schlimmste gefaßt sein? Bernadette fleht die gutmütige Tante Lucille an, diese möge sie nicht verlassen, sondern mutig den Pfarrgarten betreten und in gemessener Nähe die Katastrophe abwarten. Man beschließt, den Gang zur Hinrichtung auf die vierte Nachmittagsstunde, gegen Sonnenuntergang, zu verlegen. Um diese abendliche Stunde, so hofft man, ist auch der zornigste Mensch ermüdet und weniger zur Raserei geneigt.

Zur gewählten Zeit steht Peyramale wieder vor seinen Rosenstöcken und betrachtet grimmig die Bescherung, die der Winter angerichtet hat. Diesmal wird er von Bernadette überrascht, die unversehens vor ihm steht, ein Häuflein Angst, und ihn aus ihren dunklen Augen forschend ansieht wie ein Opferlamm. Tante Lucille hat sich nur einige Schritte weit von der Schwelle in den Garten gewagt.

»Ich muß sagen, Mut hast du, Kleine«, grollt die verschleierte Stimme.

»Monsieur le Curé, ich muß Sie stören«, zittert Bernadette. »Es ist meine Schuld. Etwas vergessen hab ich ...«

Der Dechant hat lederne Fäustlinge an und hält das große Gartenmesser in der Hand, wodurch er dem Mädchen noch gefahrdrohender erscheint. Wie von Furien gejagt, haspelt sie den zweiten Teil ihrer Botschaft herunter:

»Die Dame sagt, man möge in Prozessionen hinkommen ...«

»In Prozessionen?« lacht Peyramale auf. »Das ist das Beste bisher! In Prozessionen? Was braucht die Dame noch Prozessionen? Die bringst du ihr täglich selbst mit. Wir geben dir eine große Pechfackel in die Hand, und dann kannst du deine Prozessionen organisieren und anführen, wann und wie du willst. Was brauchst du uns armselige Geistliche? Wie ich höre, bist du ja dein eigener Bischof und Papst und zelebrierst so tolle Offizien bei Massabielle, daß die Leute lachen und weinen!«

Gegen seine bessere Absicht ist Peyramale wieder die Beute des Zorns geworden. Nun kehrt er zum Hohn zurück:

»Will die Dame ihre Prozessionen vielleicht schon morgen haben?«

Bernadette nickt mit der äußersten Einfalt:

»Qua credi – ich glaub's wohl.«

Dann zieht sie sich vorsichtig mit ein paar Knicksen zurück:

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, haucht sie. »Nun hab ich aber alles ausgerichtet ...«

»He du«, ruft sie der Pfarrer zurück. »Hier bestimme ich, wann du zu gehn hast! Weißt du noch, was du der Dame von mir ausrichten mußt?«

»O ja, ich weiß es noch ...«

»Es ist nicht alles. Ich hab noch einen Auftrag für dich«, brummt Peyramale mit einem Blick auf die strohumwickelten Rosen: »Hat die Dame wirklich dir niemals angedeutet, wer sie sei?«

»O nein, wirklich niemals!«

»Wenn sie aber das wäre, was die Leute von ihr behaupten, dann müßte sie ja etwas von Rosen verstehn, hein?«

Bernadette schaut dumm drein, ohne den Pfarrer zu begreifen. Dieser erkundigt sich nun mit einer Stimme, von der man nicht weiß, ob sie grimmig ernst oder grimmig spöttisch ist, nach der Örtlichkeit der Erscheinung:

»Man hat mir erzählt, daß in der Grotte am Felsen ein wilder Rosenstrauch wächst. Ist das wahr?«

»Ja, das ist wahr«, versichert Bernadette, glücklich darüber, daß sich kein neues Wetter über ihr zusammenzieht. »Gleich unter der Nische, wo die Dame immer steht, wächst so eine lange Heckenrose ...«

»Das trifft sich prächtig«, nickt Peyramale, sichtlich erfreut. »Tu deine Ohren auf, Mädel, denn du wirst der Dame noch folgendes ausrichten: Der Pfarrer von Lourdes, meine Dame, fordert Sie auf, ein kleines Wunder zu tun und den wilden Rosenstrauch erblühen zu lassen, jetzt am Ende des Winters. Es dürfte Ihnen sehr leicht fallen, dem Pfarrer von Lourdes diesen bescheidenen Wunsch zu erfüllen ... Hast du's kapiert, Mädel?«

»O ja, ich hab's kapiert.«

»Dann wiederhol's noch einmal, was ich gesagt habe.«

Bernadette wiederholt mit erleichterter Seele und fehlerlos den Auftrag Peyramales an die Dame.


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