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Kapitel Dreizehn. Boten der Wissenschaft

»Wir leben schließlich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts«, seufzt der Cafétier Duran, während er dem Lycealdirektor Clarens seinen schwarzen Kaffee, dem Steuerverwalter Estrade eine Tasse Schokolade, dem Literaten de Lafite einen Bittern und dem stark verschnupften kaiserlichen Staatsanwalt Dutour einen dampfenden Glühwein serviert. Es ist nach vier Uhr. Das Café Français beginnt sich eben zu füllen. »Haben die Herren den heutigen ›Intérêt Public‹ von Tarbes gelesen?« fragt Duran. »Da steht wortwörtlich eine Notiz: ›Die Heilige Jungfrau erscheint einem Schulmädchen in Lourdes‹. – Und das wagt ein Zeitungsschreiber drucken zu lassen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ...«

»Überschätzen Sie dieses Jahrhundert nicht und seine Reife, lieber Duran«, lächelt der alte Clarens. »Unser Erdball ist vermutlich schon Millionen Jahre alt. Wir aber halten schäbige neunzehn Jahrhunderte bereits für eine weite Wegstrecke. Ich sage meinen Jungen immer in der Geschichtsstunde: Bildet euch nichts ein! Die Menschheit geht in den ersten Kinderschuhen.«

Der Wirt des Café Fortschritt ist nicht der Mann, sich durch abgeklärte Sentenzen ins Wanken bringen zu lassen. In seinem Gedächtnis schwirren die Leitartikel der vielen Zeitungen durcheinander, deren Gesinnung er für teures Geld abonniert:

»Sollen wir vergeblich gelitten haben?« deklamiert er, die rechte Hand erhoben in der Art theaterspielender Dilettanten. »Sollen die Fesseln des Dogmas zerrissen sein, damit uns die Reaktion wieder ihre abgeschmackten Pfaffenmärchen auftischen kann?«

Hyacinthe de Lafite sieht seinen Bittern an:

»Ich für meine Person finde, es ist ein sehr hübsches Märchen«, sagt er. »Sie haben recht, mein Freund Clarens. Wir leben in der frühesten Morgendämmerung des Altertums. Zum Teufel hinein, warum soll da nicht eine von den Himmlischen, die Göttin Diana etwa, die Heilige Jungfrau oder auch nur eine Quellnymphe dem armen Hirten- oder Bürstenbinderkind in einer verfallenen Höhle erscheinen? Das ist homerisch, mein Freund. Ich gebe für diese Erscheinung siebenhundert moderne Romanszenen, in denen rothaarige Bankiersfrauen ihre Männer mit dem Kammerdiener betrügen oder Emporkömmlinge à la Balzac und Stendhal die soziale Weltordnung sprengen wollen, indem sie einer aristokratischen Landpomeranze ein Kind machen ...«

J. B. Estrade sieht den Dichter erstaunt an:

»Habe ich Sie recht verstanden, Lafite? Sind Sie gläubig?«

»Gläubig? Ich bin der einzig wirklich ungläubige Mensch, den ich selbst kenne, Verehrter! Ich bete nämlich weder den Rosenkranz noch auch mathematische oder chemische Formeln. Für mich bedeutet die Religion eine volkstümliche Vorform der Poesie. Schaun Sie mich nicht so sauer an, guter Clarens, es ist eine stichhaltige Formel. Kunst ist die völlig säkularisierte Religion. Und deshalb ist die Religion des neunzehnten Jahrhunderts die Kunst.«

Der Steuerverwalter schiebt erschrocken seine Schokoladentasse von sich:

»Das, was Sie da sagen, mag für Paris gelten, nicht aber für uns einfache Landbewohner. Als guter Katholik, der ich bin, gesteh ich's offen, daß ich diese Erscheinungsgeschichte von Massabielle für peinlich und anstoßerregend halte ...«

»Das glaub ich Ihnen gern«, repliziert Lafite unduldsam. »Es kommt daher, daß alles, was man heute Religion nennt, mechanische Wiederholung ist, leere Konvention und politische Parteinahme. Wenn dann ein originelles Geschöpf seine Götter wirklich erlebt und die Unsichtbaren leibhaftig sieht, wie es in echt religiösen Zeiten geschah, dann erregt es das Unbehagen der konventionellen Nachbeter. Denn nichts verstimmt eine Zeit mehr, die selbst nur eine matte Kopie ist, als ein Original.«

»Aber Messieurs, Messieurs«, fleht Duran, der mit verständnislosen Augen vom einen zum andern blickt. »Was wollen Sie? Das Ganze ist doch ein ausgemachter Schwindel. Sie wissen ja, daß sich eine Zirkusgesellschaft von Pau seit einiger Zeit in unserer Gegend herumtreibt. Ich kann nur denken, daß eine bildhübsche Kunstreiterin sich diesen Spaß mit dem armen beschränkten Kind erlaubt hat ...«

»Das ist immerhin eine Hypothese«, lacht der Schriftsteller. »Interessant wär's, die Hypothesen der andern Herren zu vernehmen. Was ist die Ihrige, Monsieur le Receveur Principal des Contributions Indirectes?«

»Hypothesen sind die Sache der kaiserlichen Staatsanwaltschaft«, erwidert Estrade mit einer Verbeugung gegen den glatzköpfigen Vital Dutour.

»Irrtum, meine Herren«, erklärt der Verschnupfte. »Die Staatsgewalt ist nicht hypothetisch ... Die Vorerhebungen aber sind Sache der Polizei ...« Und er reicht dem Kommissär Jacomet die Hand, der soeben an den Tisch gekommen ist: »Gibt's etwas Neues, lieber Jacomet?«

Der Polizeibeamte wischt sich die Stirn, denn die Ofenkathedrale Durans entsendet gewaltige Hitzewellen:

»Die pure Tollheit«, schüttelt er den Kopf. »Ich habe mehrere Rapporte bekommen. Callet meldet eine Demonstration vor dem Cachot. Meine Tochter erzählt mir, daß morgen die halbe Stadt mit der kleinen Soubirous nach Massabielle ziehen will. Und der Brigadier d'Angla von der Gendarmerie berichtet von großer Aufregung in Omex, in Viguès, in Lezignan und den andern Dörfern ...«

»Und das alles mitten im neunzehnten Jahrhundert«, jammert der Wirt noch einmal. »Lourdes wird in Verruf geraten im ganzen aufgeklärten Frankreich. Was wird ›Le Siècle‹ schreiben, ›Le Journal des Débats‹ und gar ›La Petite République‹?«

»Gar nichts«, sagt Lafite. »Überschätzt euch nicht. Schreiben wird nur der ›Lavedan‹, der heute wieder einmal nicht erschienen ist.«

»Demonstrationen aber kann ich nicht dulden«, erwägt der Polizeikommissär. »Was meint der kaiserliche Staatsanwalt dazu?«

Vital Dutour, nachdem er langsam mit einem Hustenkrampf fertig geworden ist:

»Für uns Richter«, erklärt er, »kommt immer nur die Schlüsselfrage in Betracht: Cui bono? Wem nützt es? Und zwar in diesem Fall, wem nützt es politisch? Denn man mache sich klar, daß es in unsern Zeiten kein Wimperzucken gibt, das nicht politisch wäre. Wenn die Heilige Jungfrau heute einem Tagelöhnerkind erscheint, so tut auch sie's zu einem ausgesprochen politischen Zweck. Sie tut es, um der Kirche einen neuen Antrieb zu geben, infolgedessen der Macht der Geistlichkeit, infolgedessen der royalistischen Partei, die ja die Partei der Kirche ist, wenn die Klerikalen zur Zeit auch aus Taktik das liberale Regime unterstützen. Die Erscheinungen von Massabielle dienen somit der Restauration der Bourbonen, die vom französischen Klerus angestrebt wird. Als Vertreter der kaiserlichen Regierung muß ich sie daher in ihren Auswirkungen zu den hochverräterischen Umtrieben rechnen, die sich in letzter Zeit bedenklich überall mehren. Dem Prinzip Cui bono gemäß kann man logisch annehmen, daß hinter dieser Angelegenheit irgendwelche Priester stecken, die unter der abergläubischen und unzufriedenen Bevölkerung ein Quiproquo des Fanatismus zu entzünden entschlossen sind, um die kaiserliche Regierung zu schwächen. Das ist, Messieurs, mein wohl überlegter und durchaus nicht hypothetischer Standpunkt. Ich bitte um einen zweiten Glühwein, lieber Duran. Ein verfluchtes Klima habt ihr hier, in jeder Beziehung ...«

»Sie schießen mit Kanonen auf Spatzen, Monsieur le Procureur«, lächelt der Schuldirektor.

»Sehr klar, sehr richtig«, pflichtet der Kommissär dem Staatsanwalte bei. Estrade aber ist unangenehm berührt.

»Die Einbildungen eines Kindes sind nicht die Religion«, entgegnet er. »Die Religion ist nicht die Kirche. Die Kirche ist nicht der Klerus. Und der Klerus ist durchaus nicht in seiner Gesamtheit royalistisch. Ich selbst kenne manchen Priester, der sogar republikanisch empfindet.«

Hyacinthe de Lafite reibt sich vergnügt die Hände:

»Halt, ihr Herren, bleiben wir bei der Sache. Wir haben zwei feste kriminalistische Theorien gehört. Unser Freund Duran glaubt an eine bildhübsche Kunstreiterin, die als Madonna verkleidet der Kleinen täglich erscheint. Und der kaiserliche Staatsanwalt glaubt sogar, daß irgendein Priester, sagen wir der riesige Peyramale, im Kostüm der Jungfrau diese Erscheinungen hervorbringt ...«

»Ihr Humor, mein Herr, ist nicht gerade zwerchfellerschütternd«, erklärt Dutour sauer. »Ich habe nicht erklärt, daß ein Priester in der Erscheinung steckt, sondern hinter ihr.«

»Die Herren sind nicht einig, wie?« sagt Doktor Dozous, der die letzten Worte schon gehört hat. Von seinem Redingot, den er nicht ablegt, einen Regenschauer nach allen Seiten schüttelnd, setzt er sich provisorisch hin:

»Nur für fünf Minuten, es ist ein Jammer ... Wenn ich nicht irre, redet man auch in diesem gebildeten Kreise, worüber alle Welt redet ...«

»Ja, und man wartet auf die Wissenschaft, damit sie das Wunder erkläre«, nickt der Literat dem Arzt zu.

»Ich weiß, Monsieur de Lafite, Sie sind ein Atheist der Wissenschaft, wie Sie mir jüngst zwischen Marcadale und Pont Vieux auseinandergesetzt haben. In diesem Fall ist aber vielleicht die Wissenschaft wirklich an ihrem Platz, ich meine die voraussetzungslos kritische Wissenschaft, die jedes Phänomen, auch das unglaubwürdigste, als solches anerkennt, ehe sie's unters Mikroskop nimmt ... Persönlich habe ich noch nie die Gelegenheit gehabt, einer echten Halluzinierten zu begegnen. Ich habe die Absicht, an Voisin von der Salpêtrière einen Bericht zu senden ...«

»Und Sie wollen es wirklich wagen, lieber Doktor, sich unter dieses niedere Volk bei der Grotte zu mischen?« fragte Estrade verwundert.

»Oh, tun Sie das nicht«, warnt Duran, der mit neuen Getränken kommt. »Das ist nicht würdig eines Stadtarztes.«

»Ich bin schließlich nicht nur euer Landbader.« Ein mißtrauisch melancholischer Schatten fliegt über Dozous' blasses, aber immer noch jugendliches Gesicht. »Es gibt ein paar bescheidene Arbeiten von mir, und erst letzten Herbst hat die Universität von Montpellier mir eine Professur für Neurologie angeboten. Montpellier, das ist keine Kleinigkeit in der medizinischen Welt, wie die Herren wissen werden. Ich hab's ausgeschlagen, weil ich schon ganz verbauert bin in Lourdes. Aber so verbauert bin ich noch lange nicht, um kein Interesse zu haben für einen seltenen pathologischen Fall ...«

»Nach Ihrer Ansicht also eine Geisteskrankheit«, fragt Dutour gespannt.

»Ich hab kein Recht zu einer Diagnose«, erwidert der Arzt vorsichtig. »Zwar laufen in allen Irrenanstalten Paranoiker herum, die Erscheinungen haben, da ich mich aber an die kleine Asthmatikerin ziemlich genau erinnere, möchte ich eine brutale Erkrankung dieser Art nicht so leicht annehmen ...«

»Also Katalepsie, Mesmerisiertheit, Hysterie?« forscht Dutour eindringlich weiter.

»Das sind feste Worte für sehr schwankende Sachverhalte, bester Procureur. Wir wollen vorerst einmal die Patientin während eines Anfalls genauer betrachten ... Wie ich höre, wird man zwei ganze Wochen lang nach Massabielle gehn ...«

Der kaiserliche Staatsanwalt macht sich in sein Notizbuch eine kurze Vormerkung:

»Ich wäre Ihnen äußerst verbunden, verehrter Doktor, wenn ich einen authentischen Bericht über Ihre Untersuchung haben könnte.«

»Warum nicht«, sagt Dozous, schon im Aufbruch. »Ich komme ja täglich auf einen Sprung ins Café und werde den Herren meine Ansicht nicht geheimhalten.«

Hyacinthe de Lafite hat lange geschwiegen und in das hypermodern helle Petroleumlicht Durans gestarrt.

»Ich finde«, sagt er plötzlich, »daß die Herren alle am Wesentlichen vorbeisehn. Ich finde, das wahre Problem bildet weniger die kleine Visionärin als die große Menge, die ihr nachfolgt ...«

 

Bereits um vier Uhr nachmittags bringt die Schneiderin Peyret das Marienkleid der Elise Latapie, das sie nach Maß für Bernadette umgearbeitet hat. Und nun steht das Soubirous-Kind zum erstenmal im Leben in einem hohen Schrankspiegel sich selbst lebensgroß gegenüber. Die Peyret kniet vor ihr, um die Falten des Satins richtig zu legen.

»Ich hab gar nicht gewußt, daß du so hübsch aussehn kannst«, sagt sie mit der Selbstüberwindung einer kritischen Natur.

Die gute Millet jedoch ist voll offener Begeisterung über diese Verwandlung des Bettelkindes in ein Marienkind, die sie sich selbst zuschreiben darf.

»Ein Bild«, ruft sie, »unsere kleine Seherin ist ein Bild. Man müßte es lithographieren ...«

Bernadette, über und über rot geworden, blickt sich an wie eine erstaunliche Fata Morgana. Sie ist so sehr erregt, weil sie bis zu dieser Stunde nicht gewußt hat, wie sie im Ganzen aussieht. Im Cachot gibt's nur einen viereckigen Scherben, aber keinen brauchbaren Spiegel. Bernadette kennt Gestalt, Antlitz, Gewand der Dame viel genauer in allen Einzelheiten als sich selbst. Man könnte sagen, die Allerlieblichste in der Nische ist weniger »Erscheinung« für sie als ihr eigenes Bild im Spiegel. Vom Bewußtsein einer ganz unbekannten Würdigkeit durchdrungen, klopft ihr das Herz. Sie empfindet ein erschrockenes Entzücken und ein wonnevolles Feiergefühl. Zum erstenmal darf sie morgen dem geliebten Wesen entgegentreten mit einem eigenen Wert. Wird die Dame das Festkleid bemerken, den Tüllschleier, die blaue Gürtelschnur, die nachahmende Huldigung des Ganzen? Oh, die Dame bemerkt alles. Wird's ihr aber auch gefallen? Am liebsten möchte Bernadette sogleich nach Massabielle laufen, um sich zu zeigen. Sie macht einige Schrittchen und dreht sich vor dem Spiegel hin und her. Der Genuß befriedigter Mädcheneitelkeit umschmeichelt sie. Nie wieder will sie ihren alten Kittel anziehn und das verwaschene Capulet. Diese Kleidungsstücke ekeln sie an. Und was wird Maman zu ihr sagen und Marie und Jeanne Abadie und die Nicolaus, wenn sie morgen als eine neue Bernadette unter ihnen erscheint?

Madame Millet hat aus einer ihrer unzähligen, säuberlich verpackten Schachteln eine künstliche weiße Rose hervorgeholt, die sie mit einer goldenen Nadel an der Brust des Mädchens befestigt. Bernadette stößt einen kleinen Schrei aus, so schön und neuartig ist das. Sie rührt sich nicht fort vom Spiegel. Erst die Dunkelheit macht den Freuden der Anprobe ein Ende. Dann sitzt Bernadette (wiederum zum erstenmal im Leben) in einem richtigen Speisezimmer, an einem richtig weiß gedeckten Tisch vor einem richtigen Diner. Philippe serviert in Handschuhen eine köstliche Suppe, Bachforellen mit zerlassener Butter und eine schaumige süße Speise, alldergleichen Bernadette noch nie gegessen hat. Dazu trinkt man einen weißen Burgunderwein, der die Zunge freundlich kitzelt. Frau Millet hält auf eine gute Küche, wie viele Seelen, denen die verschämteren Freudenwünsche vom Leben nur kümmerlich erfüllt wurden. Antoinette Peyret, die es dank ihrem unermüdlichen Klatschmaul verstanden hat, beim Essen dabehalten zu werden, beobachtet scharf Bernadettens Manieren. Sie erwartet, das unerzogene Ding werde sich taglöhnerhaft hinlümmeln und nicht mit Gabel und Messer umzugehn wissen. Da aber Bernadette sich tadellos aufführt, mit einem ihrer freimütigen Blicke der Hausfrau jeden Handgriff abguckt und sich zum Erstaunen Philippes artig wie eine Hofdame aus der Schüssel bedient, wird in der Schneiderin der Verdacht von heute morgen wieder wach, das Mädel sei eine ganz durchtriebene und gehaute Schwindlerin, habe eine Hochstapelei von Riesenmaßen ausgeheckt und trage die Maske der Schlafmützigkeit nur, um ihre verbrecherischen Talente dahinter um so besser zu verstecken. Sie, Antoinette Peyret, immerhin die Tochter eines Gerichtsvollziehers, hat zwei Jahre dazu gebraucht, um sich in den feinen Häusern Lafite, Millet, Cénac und so weiter frei benehmen zu lernen, und dieser vertrackte Fratz hat's heraus binnen einer Minute.

»Wo hast du denn deine gute Erziehung her, Bernadette?« forscht die Schneiderin hämisch, als ob sie fröstle, und die höhere linke Schulter reicht ihr dabei fast bis zum Ohr.

»Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf, liebe Peyret«, bemerkt die Hausfrau. Daraufhin beschließt die Schneiderin, ihr Mißtrauen und ihre feindseligen Empfindungen fürderhin bei sich zu behalten. Die Millet, eine müßige, kindische alte Frau, hat einen Narren an dem gerissenen Mädel gefressen. Antoinette Peyret kennt ihre Gönnerin gut genug, um zu wissen, daß man jede ihrer Überschwenglichkeiten mitmachen muß, will man sich ihre Gunst erhalten. Glücklicherweise aber ist Madame launenhaft und vergeßlich.

Endlich wird Bernadette entlassen. Frau Millet hat sie selbst in das Zimmer der vergötterten Nichte geführt, eine verschwenderische Anzahl von Kerzen entzündet, ihr alles gezeigt und gedeutet, wie in einem Museum, eine Schachtel mit Näschereien auf den Tisch gestellt und sie zum Abschied unter Tränen umarmt. Nun ist Bernadette allein, auch dies zum erstenmal im Leben, soweit es sich um einen geschlossenen Raum handelt. Einsamkeit scheint ihr die beglückendste Folge des Reichtums zu sein. Es ist so, als ob einem ein sehr schwerer Rucksack von den Schultern gehoben würde. Sofort stürzt sie zu Elise Latapies Schrankspiegel, um sich darin, in ihrem Marienkleid, unersättlich zu betrachten. Dieser Genuß braucht lange, lange Zeit. Dann erst nimmt sie ihren weißen Beutel zur Hand, den sie immer bei sich trägt und dessen Inhalt sie allabendlich eifersüchtig abzuzählen pflegt. Ein Strickstrumpf liegt drin, zwei Büchelchen, eine Lesefibel und der Katechismus, ein paar bunte Seidenfetzen, die ihr Madeleine Hillot einmal geschenkt hat, ein gebräuntes Stückchen Kandiszucker, eine trockene Brotrinde, drei Glaskugeln und eine winzige Tragantfigur, einen bepackten Mülleresel darstellend. Ihre ältesten Erinnerungen spielen ja in der Boly-Mühle. Dies ist der Schatz des Beutels, den sie schützt und hütet. Nichts fehlt. Verloren blickt sie sich in dem Zimmer um, das viel größer ist als der Cachot, wo sechs Menschen leben müssen. Welch ein ermüdendes Zimmer! Hier gibt es keine nassen Flecken an der Wand, sondern seidene Tapeten mit Blumenkränzen und Gewinden, die selbst Bilder sind und ihr Auge zum Bildern nicht brauchen. Sogar die Zimmerdecke ist mit kleinen Engelchen bemalt. Hier müßte man täglich bis zehn Uhr morgens im Bett liegen, um mit dem Beschauen der Decke und Wände fertig zu werden. Während Bernadette, eine nach der andern, die dicken Prachtkerzen des Hauses Millet auslöscht, um nur die letzte auf ihrem Nachttisch brennen zu lassen, entdeckt sie plötzlich in einer Vitrine die Sammlung von Püppchen, die Elise Latapie dort aufbewahrt hat. Sie selbst und ihre Schwester Marie haben niemals Puppen besessen, keine großen und keine kleinen, bis auf einen buntgescheckten Hampelmann, den ihnen Papa einmal in seiner Müllerzeit vom Wochenmarkt in Saint Pé de Bigorre mitgebracht hatte. Es war aber kein sympathischer Hampelmann mit seinem Nußknackergesicht und den schreienden Flicken. Er war irgendwie mit dem Ziegenbock Orphide verwandt und entstammte dem Bereich des Teuflischen, von dem sie sich oft verfolgt fühlt. Elise Latapies Püppchen freilich entstammen einem heiteren Feenreich. Atemlos bestarrt sie Bernadette. Besonders hat es ihr eine kleine Tirolerin angetan, mit einem grünen flachen Hütchen und einem roten Mieder. Sie muß große Selbstbeherrschung üben und immer wieder an Mamans Verbot denken, fremde Sachen anzurühren. Am liebsten würde sie die kleine grünrote Bäuerin in ihren Beutel stecken. Ihr fällt aber Papa ein, der wegen eines Stückes Eichenholz, mit dem er nicht einmal etwas zu tun hatte, eines Morgens vom Polizisten Callet abgeholt wurde.

Mit unendlicher Vorsicht legt Bernadette das Festkleid ab, den Schleier, die künstliche Blume, die weißen Seidenstrümpfe und Schuh. Langsam fühlt sie sich wieder als sie selbst. Aber dieses Sie-Selbst erscheint ihr jetzt viel gröber als sonst. Fast kommt es ihr vor, sie sei ein braunes Waldtier, das nun ganz erschrocken und ungeschickt in einem riesengroßen, entsetzlich weichen und eiskalten Bette liegt. Sie vermißt sogar jetzt den hitzig schlafenden Leib der Schwester Marie, vor dem sie sich doch seit letztem Donnerstag scheut. Ihre Müdigkeit aber ist so groß, daß sie trotz des unheimlichen Himmelbettes schnell einschläft.

Als um sechs die Hausfrau, Antoinette Peyret und Philippe ins Zimmer treten, um Bernadette zu wecken, ist sie schon fertig. Zu ihrer größten Betroffenheit aber sehen die Eintretenden, daß das Mädchen nicht ihr schönes Marienkleid anhat, sondern ihren alten Kittel, das Capulet und ihre Holzschuh.

»Was heißt das«, schreit die Peyret. »Warum hast du das Kleid nicht angezogen?«

»Ich hab's schon angezogen gehabt, bitte. Dann aber hab ich's wieder ausgezogen ...«

»Und warum hast du's wieder ausgezogen?«

»Ich weiß nicht, Mademoiselle ...«

»Was ist das für eine Antwort: Ich weiß nicht?«

»Ich hab's halt wieder ausziehn müssen ...«

»Hat dir das jemand befohlen? Die Dame vielleicht?«

»Nein, niemand hat es mir befohlen. Die Dame ist doch nicht hier, sondern in Massabielle ...«

»In dir soll sich einer auskennen ...«

»Ich verstehe notre petite voyante«, strahlt die Millet. »Das Kleid der Präsidentin des Marienvereins scheint ihr nicht demütig genug, um vor ihre Dame hinzutreten. Ist es so, mein Kind?«

Bernadette quält sich mit einer zureichenden Erklärung ab:

»Ich kann's nicht genau sagen, Madame ... Es war ein Gefühl ...«

»Verstockt, ganz einfach verstockt«, murmelt die Schneiderin, die ihren guten Vorsätzen immer wieder untreu wird.

Draußen vor dem Haus in der Rue Bartayrès warten schon mehrere hundert Menschen. Auch Männer sind darunter. Onkel Sajou, Bouriette, Antoine Nicolau, der eigens von der Savy-Mühle in die Stadt gekommen ist, um beim Auszug dabei zu sein, und viele andere. Madame Millet mustert die Versammlung, ob sie keinen der Geistlichen aus Stadt und Land erblickt, da der wundersame Fall schließlich in die Agenden der Kirche fällt. Doch weit und breit zeigt sich keine Soutane. Mutter Soubirous tritt kleinlaut zu Bernadette, als wäre ihr das Kind schon ganz und gar entglitten. Nur durch ihre Schwester Bernarde Casterot empfängt sie etwas Mut, die sich durch den Glanz der reichen Millet nicht im geringsten einschüchtern läßt. Bernarde und Lucille tragen, wie viele andere Frauen, Kerzen. Auch der Bernadette wird eine Kerze in die Hand gedrückt.

»Los, verlieren wir keine Zeit«, drängt die älteste Casterot und bleibt mit ihren Schwestern dem Mädchen dicht auf dem Fuß. Die Nachbarinnen der Rue des Petites Fossées schließen sich an. Ein großes, erwartungsvolles Gemurmel beginnt. Bernadette spricht kein Wort, begrüßt niemanden, kümmert sich um nichts. Sie strebt eilig voran, als sei kein Mensch hinter ihr, als bedeute die ganze große Gefolgschaft erwachsener und nüchterner Leute eine völlig nebensächliche, eher lästige Begleiterscheinung. Und wieder empfindet Antoinette Peyret einen grimmigen Unmut über das unabhängige, durch keine Rücksicht gezügelte Benehmen des Mädchens. Auch Jeanne Abadie, die mit den andern Mitschülerinnen aus den ersten Reihen verwiesen wurde, zischt der Cathérine Mengot ins Ohr: »Immer will sie die erste sein!«

Wahrhaftig, Bernadette will die erste in der Grotte sein. So gleichgültig ihr alle die Menschen sind, es ist unzulässig, es könnte die Dame verstimmen, wenn sie selbst mitten in einem wirren Knäuel auftaucht. Sie weiß aus einem ewig wachen Feingefühl, daß der Umgang mit der Holdseligsten eine sehr heikle Sache ist, daß er unter ganz bestimmten, nur tief im Gemüt empfindbaren Regeln steht, die zu plötzlichen Gewissensbissen werden, wenn man sich nicht richtig verhalten hat. Wie sie stets um das Wohlbefinden der Dame zittert, so zittert sie auch davor, ihr Mißfallen zu erregen. Und schon springt sie über Stock und Stein, allen andern weit voraus, den Steilpfad hinab. Die Millet bleibt stehn, ringt nach Atem: »Sie fliegt wie eine Schwalbe«, keucht sie, »wie ein Blatt im Winde ...«

Als die Menge mit ihren brennenden Kerzen, von deren schmelzendem Wachs die ganze Niederung duftet, sich endlich über den Vorplatz der Grotte ergießt, liegt Bernadette längst auf den Knien und in Verzückung. Das Wohlwollen der Dame beim Wiedersehen heute war noch stärker als sonst. Es war mehr als Wohlwollen, es war innerlichste Freude, von der die Farben des Antlitzes, das Gewand, ja selbst die ewig blassen Hände und Füße zu erglühen schienen. Die Beglückende zeigte sich heute zum erstenmal selbst beglückt, die Gebende als Nehmende, vermutlich deshalb, weil durch die Erfüllung ihres Wunsches ein wichtiger weitreichender Plan sich zu verwirklichen begann. Die Dame kam der Bernadette näher als je, trat fast über den äußersten Rand des Felsens, beugte sich so tief herab, daß ihre langen, zarten Finger das Mädchen zu berühren schienen. Bernadettens Bewußtsein, das dem Zustand der Entrückung trotz seiner unmeßbaren Lust sonst einen ängstlichen Widerstand entgegensetzt, war diesmal im Nu überwunden.

»Sie stirbt, helft, sie stirbt!« Diesen leisen Schrei stößt Bernarde Casterot aus, die Kluge, nicht anders als es die dummen Schulkinder am vergangenen Sonntag getan haben. Louise Soubirous aber starrt mit entsetzten Augen auf dieses Geschöpf, das aus ihrem eigenen Leibe kommt und jetzt einer selig Sterbenden gleichsieht, die alle Leiden der Welt überwunden hat, oder gar einer Toten mit sehr zugespitzter Nase, die unbegreiflich lächelt, weil sie von ihrem langen Marterweg erlöst ist. Die Soubirous schüttelt unaufhörlich den Kopf und bewegt tonlos die Lippen: »Das ist sie nicht ... Das ist nicht die Bernadette ... Ich kenne mein Kind nicht mehr ...«

Auch der Menge, die dicht gedrängt entlang des Savy und des Gave kniet, hat sich eine tiefe Erschütterung bemächtigt. Jede Versammlung von Menschen bildet eine eigene Persönlichkeit und besitzt in mancher Hinsicht andere, feinere, sinnenweitere Nerven als der einzelne. Diese Nerven fühlen jetzt in dem leeren Felsloch nicht nur eine unbestimmte, sondern eine höchst charaktervolle Anwesenheit. Wie sich ein menschlicher Kopf nachhaltig in einem Kissen abdrückt wie ein Gipsguß in der Hohlform, so drückt sich diese charaktervolle Anwesenheit in der Haltung der Entrückten aus, die nicht starr bleibt, sondern, einem Spiegelbild gleich, wiederholt, was sie sieht, dieses Nicken, dieses Lächeln, dieses Winken, dieses Händefalten, dieses Händebreiten der Dame. Bernadette ist gewissermaßen das vollkommene Negativ der Unsichtbaren, die für die Menge dadurch an die Grenze der Sichtbarkeit gezogen wird. Es sind hier viele glaubensbereite Seelen versammelt, einige Spötter und eine Mehrzahl von Neugierigen. Aber alle blicken atemlos von der Felsnische zur Mittlerin, von der Mittlerin zur Felsnische. Sie erwarten nichts mehr. Das Unerwartete ist gegenwärtig. Es erzeugt aber keineswegs himmlisch wohlige Gefühle, sondern einen Schauer im Zwerchfell, gemischt mit einer Devotion von unbekannter Kraft. Im Zwerchfell der Spötter vibriert dieser Schauer am stärksten. In jedem Menschentier lebt der eingeborene Hang nach dem Übersinnlichen. Dort wo es am tiefsten verhehlt wird, schlägt es, angerufen, in das tiefste Unbehagen um. Plötzlich beginnt eine Frau mit dem ersten Ave. Sofort fällt der ganze Chor schallend ein, um das Unsichtbare gleichsam durch den rauschenden Stimmklang auszubalancieren.

Bernadette scheint nichts zu hören. Ein andrer Lärm dringt ihr in die Ohren. Wiederum ist der Gave in Aufruhr geraten. Wiederum jagt eine Panik über ihn hin, der tollen Jagd galoppierender Pferde und Fahrzeuge ähnlich, wiederum gellen Schreie: Rette dich ... pack dich fort! Bernadette hebt die Arme ängstlich gegen die Dame. Deren Antlitz wird zum erstenmal streng und stolz, als sei ihre eigene Laufbahn noch nicht am Ende, als habe auch sie noch immer Kämpfe zu führen und Feinde zu besiegen. Sie runzelt die Stirn und blickt aufmerksam zum Fluß hin, wie um ihn mit ihrem strahlenden blauen Auge zu bändigen. Es gelingt ihr sogleich. Die Stimmen verkreischen. Das uralte Poltern und Schäumen des Gave streckt sich der Dame zu Füßen wie ein gezähmter Wolf.

Plötzlich erhebt sich Bernadette und ist wieder, die sie war. Sie sieht das verzweifelte Gesicht ihrer Mutter. Da fällt sie ihr um den Hals. Viele weinen jetzt ...

 

Am Sonntag beginnt der Apéritif im Café Français bereits um zehn Uhr. Das Lokal ist überfüllt. Es hat sich nämlich herumgesprochen, Doktor Dozous werde heute die Ergebnisse seiner Untersuchung der Tafelrunde darlegen. Der Staatsanwalt Vital Dutour und der Polizeikommissär Jacomet sehen schon ungeduldig auf die Uhr. Beide Herren sind vom Bürgermeister Lacadé zu einer geheimen Beratung für elf auf die Mairie gebeten worden. In den letzten drei Tagen haben die Vorkommnisse bei der Grotte Massabielle einen Umfang angenommen, der es nicht mehr duldet, daß die Behörde müßig zusieht. Heute früh zum Beispiel hatte sich eine Volksmasse von etwa zweitausend Menschen zusammengerottet und den Platz diesseits und jenseits der Gewässer in weitem Umkreis besetzt gehalten. Vor allem war die Dorfbevölkerung in hellen Scharen von allen Seiten herbeigeströmt. Es ist höchste Zeit, einen Beschluß über die zu ergreifenden Maßnahmen zu fassen. Vom Standpunkt der öffentlichen Gewalt ist die verrückte Vorfallenheit über alle Begriffe heikel und unpraktikabel. Es gibt gesetzliche Mittel genug, gegen jede Art von Ordnungsstörung einzuschreiten. Welcher Art von Ordnungsstörung aber ist die mutmaßliche Erscheinung der Allerseligsten Jungfrau zuzurechnen, die von einem beträchtlichen Teile des Stadt- und Landvolkes nicht nur gläubig hingenommen, sondern sogar leidenschaftlich begrüßt wird. Vital Dutour und Jacomet sind recht nervös, besonders der kaiserliche Staatsanwalt, der mit seiner Influenza ins Bett gehört und unter Fieberschauern leidet. Beide aber hoffen, daß der Bericht des Stadtarztes ihnen einen Weg weisen werde. Dieser läßt gerade heute auf sich warten. Ein andrer Bote der Wissenschaft jedoch ist zur Stelle, der Geschichtslehrer Clarens, der gestern nachmittag die Höhle Massabielle in geologischer und archäologischer Hinsicht durchforscht hat. Clarens berichtet, es sei ihm aufgefallen, daß der Kalkfelsen der Grotte in ganz merkwürdiger Weise schwitze:

»Besonders auf der rechten Seite«, sagt er wörtlich, »unterhalb der Nische mit dem Dornstrauch, laufen dicke Schweißtropfen über den Stein.«

Hyacinthe de Lafite lehnt sich gegen diesen Vergleich auf:

»Warum sagen Sie Schweißtropfen? Warum sagen Sie nicht Tränen? Sind auch Sie schon beeinflußt von den Schmutzfinken der realistischen Schule, mein Freund ...«

»Wenn Ihnen Tränen angemessener erscheinen, mein Freund, so mögen es Tränen sein ... Saxa loquuntur. Wahrhaftig! Die Steine haben in dieser Zeit nicht nur Grund zu reden, sondern auch zu weinen ...«

»Das ist doch nicht wichtig, Messieurs«, unterbricht Vital Dutour, der immer verstimmt wird, wenn Lafite und Clarens ihren Feinsinn leuchten lassen. »Haben Sie sonst nichts erforscht?«

Clarens hat, seiner Meinung nach, in der Felsnische selbst eine nicht unwichtige Entdeckung gemacht. Er ist überzeugt, daß sich in uralter Zeit daselbst eine heidnische Kultstätte befunden habe. Der weiße Steinblock hinterm Portal der Nische sei vermutlich ein Opferstein, auf dem irgendeiner rauhen Gottheit Feldfrüchte dargebracht worden sind. Er wisse aus seinen Forschungen längst, daß der ganze Spelunkenberg kein profanes, sondern archaisch sakrales Gebiet sei. Die Verrufenheit von Massabielle erkläre sich durch diese Theorie zwanglos. Die Seele der christlich gewordenen Menschheit bewahrt die dunkle Erinnerung an solche heidnischen Kultstätten auf und fürchtet sie. Die ehemalige Götterfurcht kehrt sich dann in eine Teufelsfurcht um. Denn alte Götter, die neuen weichen müssen, werden immer zu Dämonen. Deshalb war es Praxis der Kirche von je, die heidnischen Opferstätten zu erlösen und an ihrer Stelle Basiliken zu bauen.

Hyacinthe de Lafite frohlockt:

»Sie bestätigen mit dieser Theorie, was ich immer sage, mein Freund, daß diese Landschaft von Bigorre in ihrem Wesen vorchristlich ist und daß einem Hirten- oder Bürstenbinderkind ganz gut die Göttin Diana oder die heimische Quellnymphe erscheinen kann. Zwischen den Bauernkindern von hundert vor und achtzehnhundertachtundfünfzig nach Christi Geburt dürfte seelisch und geistig kein wesentlicher Unterschied bestehen.«

»Diese interessanten Erkenntnisse helfen uns nicht weiter, meine Herren«, leidet Vital Dutour. »Sie ermessen gar nicht, wie unangenehm uns diese Tollheit noch werden kann ...«

»Wenn das so weitergeht«, bestätigt der Polizeikommissär und blickt auf seine starken, aber nutzlosen Fäuste, »werden wir militärische Assistenz gegen die Demonstranten anfordern müssen, denn ein geordnetes Staatswesen kann tägliche Aufläufe von solchem Ausmaß nicht dulden. Der Rüffel der Préfecture, den ich erwarte, der wird sich gewaschen haben. Baron Massy versteht keinen Spaß ...«

»Es ist ein Skandal, der zum Himmel schreit«, klagt der Cafetier. »Gestern hat sogar ›Mémorial des Pyrénées‹ zwei volle Spalten gebracht mit dem Titel ›Die Apparitionen von Lourdes‹. Und im letzten ›Lavedan‹ steht ein merkwürdig knieweicher Artikel. Man munkelt, Abbé Pènes habe ihn auf Befehl Peyramales unter falschem Namen eingesandt, um Ärgeres zu verhüten.«

Vital Dutour blickt um sich und senkt seine katarrhalische Stimme zum Flüstern:

»Die Erscheinungen richten sich gegen den Kaiser in Person ...«

»Wieso gegen den Kaiser?« fragt man erstaunt. »Eugénie ist doch eine sehr bigotte Frau ...«

»Als Staatsanwalt habe ich unser Volk vielleicht besser kennengelernt als Sie, Messieurs. Der Kaiser regiert absolut durch den Ex-lex-Zustand der Sûreté Nationale. Wir Franzosen aber sind durch die Bank Anarchisten. Wenn wir der herrschenden Autorität eins auswischen können, sind uns alle Mittel gut genug. Sozialismus, Republikanismus, das ist schon langweilig. Versuchen wir's einmal mit dem Mystizismus ... Da ist der Doktor ... Wo stecken Sie, Dozous?«

Der Arzt nimmt heute seinen Redingot bedächtig ab und hängt ihn an den Kleiderrechen. Dann setzt er sich zum Tisch, weniger auf dem Sprung als sonst. Seine Laune scheint nicht die beste. Vital Dutour nimmt ihn sofort aufs Korn:

»Haben Sie Ihre Untersuchung durchgeführt?«

»Soweit es möglich war«, bekennt Dozous einsilbig.

»Und das Resultat?«

»Das Resultat ist nicht sehr erheblich.«

»Liegt eine Geisteskrankheit im klinischen Sinne vor?«

»Ich halte das Mädel für nicht verrückter als Sie und mich, Monsieur.«

»Dann ist sie also eine Betrügerin?«

»Ich habe nicht den leisesten Grund zu dieser Annahme.«

»Demnach muß ich vermuten, verehrter Doktor, daß auch Sie zu den Wundergläubigen gehören.«

»Oh, du Heilige Jungfrau«, ruft Duran entsetzt und schlägt die Hände zusammen. Dozous verbeugt sich leicht gegen den Staatsanwalt:

»Mein Name ist Dozous, Mitarbeiter des ›Courier Médical‹, Korrespondent gelehrter Persönlichkeiten und Gesellschaften. Ich habe die Ehre, ein bedingungsloser Naturforscher zu sein ...«

Vital Dutour eifert bereits:

»Da Sie weder Irrsinn noch Betrug annehmen, müssen Sie die Erscheinungen für echt halten.«

»Erscheinungen können im subjektiven Sinn sehr wohl echt sein, ohne objektiv zu bestehn ...«

»Wer etwas sieht, was objektiv nicht besteht, ist eben verrückt ...«

»Dann waren Michelangelo und Shakespeare auch verrückt«, wirft Lafite ein.

Dozous zieht drei vollgekritzelte Blättchen aus der Brusttasche:

»Ich habe vorhin ein rasches Memorandum über das angefertigt, was ich heute früh sah. Wahrscheinlich werd ich's an Voisin nach Paris schicken. Es dürfte am besten sein, wenn ich statt aller Diskussionen den Herren diese kurzen Notizen mitteile ...«

Der Arzt nimmt das Pincenez ab, hält seine Aufzeichnungen dicht vor die kurzsichtigen Augen und beginnt sie, oft stockend, halblaut und mit gleichmütiger Stimme zu entziffern, ohne seine Zuhörer recht zu beachten:

»Am 21. Februar 1858, um sieben Uhr, zehn Minuten vormittags. Ich traf zugleich mit der großen Menge bei der Grotte ein. Es gelang mir sofort, bis zu Bernadette Soubirous vorzudringen, die schon vor den andern am Orte war. Hinter dem Mädchen kniete ihre Verwandtschaft mit brennenden Kerzen. Auch Bernadette hielt eine Kerze. Sie vollführte unaufhörlich die anmutigsten und ehrfurchtvollsten Komplimente gegen die Nische in der Felswand. Diese Komplimente wirkten auf mich possierlich und rührend zugleich, da sie ins dunkle Nichts hinein erfolgten. Bernadette hielt ihren Rosenkranz in der Hand, schien aber nicht zu beten. Schon nach kurzer Frist gingen auf ihrem Gesichte jene Veränderungen vor, von denen man mir erzählt hatte. Sie spiegelten auf das deutlichste die Erscheinung wider, die das Mädchen im Felsen schaute ...«

Hier gibt Jacomet ein ungläubiges Geräusper von sich. Dozous aber läßt sich im farblosen Ablesen seines Memorandums nicht stören:

»... Man glaubte beinahe zu sehen, was das Kind sah. Das war ein Grüßen und Grußerwidern, ein eifriges Lächeln und verzücktes Lauschen, ein verständnisinniges Nicken, und dies alles von solcher Lebensechtheit, wie man sie dem größten Schauspieler kaum zutrauen möchte. Nach und nach wurden die Wangen des Kindes so blaß wie weißer Marmor, die Haut spannte sich so auffällig, daß die Schädelbildung an den Schläfen deutlich hervortrat. Eine ähnliche Verwandlung des Turgors habe ich bei Phthisikern im letzten Stadium beobachten können. Jener mesmerisierte Zustand, den man neuerdings Trance nennt, schien eingetreten zu sein. Ich beugte mich zur Patientin herab, um meine Untersuchung vorzunehmen. Zuerst ergriff ich ihren Arm und fühlte den Puls an der Ader des Speichenmuskels. Er war normal gut gefüllt, kaum leicht frequent, ich zählte sechsundachtzig Schläge in der Minute. Auch wies der Blutdruck, soweit ich ihn ertastete, weder eine Steigerung noch eine Herabsetzung auf, welch letztere bei starken Gehirnanämien vorkommt, ganz abgesehen von der Verflachung und Entleerung des Pulses. Die Blässe der Wangen und die erhöhte Spannung der Gesichtshaut waren mithin nicht die Folge einer vehementen Kreislaufstörung. Ich habe in Montpellier öfters Kataleptiker während des Anfalls beobachtet. Dabei fand ich immer das ganze nervöse System, und im Zusammenhang damit Puls und Blutdruck, in Mitleidenschaft gezogen. Bei Bernadette Soubirous handelt es sich kaum um eine Erkrankung des nervösen Systems, zu der die Katalepsie und die Hysterie zu rechnen sind. Um mich noch weiter zu vergewissern, untersuchte ich, so gut es ging, die Augenreflexe. Auch hierbei entdeckte ich keine Anomalie. Die Pupillen waren etwas vergrößert, die Iris zusammengezogen, das Augenweiß glänzend und feucht. Dies ist aber bei jedem Menschen so, der mit allen Kräften seinen Blick auf ein bestimmtes Ziel richtet. Die Trance, in der Bernadette sich befindet, schien überhaupt weniger ein Verlust des Bewußtseins zu sein als eine übermäßige Konzentration der Aufmerksamkeit. Sie hielt eine brennende Kerze in der Hand. Es war ziemlich windig. Manchmal löschte einer der Windstöße vom Gave die Flamme aus. Sie bemerkte es jedesmal und reichte, ohne ihr Gesicht von der Felswand abzuwenden, die Kerze nach hinten, damit sie neu angezündet werde. Während ich sie untersuchte, hatte ich den Eindruck, die Patientin wisse genau, was mit ihr geschieht ...«

»Den Eindruck habe ich auch, sie weiß genau, was geschieht«, bemerkt Dutour, wird aber von Dozous, der fortfährt, nicht beachtet.

»... Erst als ich fertig war, stand sie auf und machte einige Schritte übers Geröll zur Nische hinan. Ich hörte als Nächststehender deutlich, wie sich zweimal ihrer Brust ein langgezogenes »Ja« entrang. Als sie sich dann wieder zu uns umdrehte, war der Ausdruck ihres Gesichtes ganz und gar verwandelt. Hatte es bisher eine etwas erstarrte Freudigkeit geoffenbart, so war's nun zu einer tragischen Maske des Leidens und der Trauer geworden. Große Tränen rollten die Backen herab ... Einige Minuten später schien die Vision verschwunden zu sein. Bernadette, nun wieder rosig, zeigte es selbst durch eine Gebärde an. Ich fragte sie: ›Warum hast du vorhin geweint?‹ Sie stand sofort und ohne alle Ziererei Rede: ›Weil die Dame mich nicht mehr angesehn hat, sondern über alle Köpfe hinweg nach der Chalet-Insel und der Stadt. Und so viel Kummer hat sie gehabt auf einmal, und gesagt hat sie: Beten Sie doch für die Sünder.‹ Da ich ihre geistigen Fähigkeiten konstatieren wollte, stellte ich die Frage: ›Weißt du denn, was das ist, ein Sünder?‹ – ›Das weiß ich wohl, Monsieur‹, entgegnete sie rasch. ›Ein Sünder ist, wer das Schlechte liebt.‹ Das war eine ganz gute Antwort. Mir gefiel es, daß sie gesagt hatte ›liebt‹ und nicht ›tut‹. Nach diesem Beweis hatte ich jedenfalls keine Ursache, eine Diagnose auf Geistesschwäche zu stellen. Die Menge hatte der Erscheinungsszene wie einem fremdartigen Gottesdienst mit der erregtesten Spannung beigewohnt. Nachher brach sie in einen elementaren Beifallssturm aus, der auf mich einen sonderbar beklemmenden Eindruck machte wie ein gefährliches Naturereignis. Bernadette aber beachtete die Lob- und Segenssprüche gar nicht, die auf sie von allen Seiten einhagelten. Sie schien nicht das leiseste Verständnis dafür zu haben, daß sie dem versammelten Volke etwas bedeutet. Sichtbar trieb sie ihre Gefolgschaft zur Schnelligkeit an, um den Belästigungen schleunig zu entkommen. – So, und das wäre alles ...«

Doktor Dozous hat mit großer Mühe und vielen Pausen sein ziemlich wirres Stenogramm verlesen. Jetzt faltet er die Blätter zusammen. Alle schweigen. Selbst der Cafétier, eine aufgeklärte, aber schlichte Seele, weiß nicht, was er dazu sagen soll. Nach einer längeren Pause erst nimmt der kaiserliche Staatsanwalt das Wort:

»Wenn ich die Wissenschaft recht verstanden habe, so schließt die Wissenschaft sowohl einen Betrug aus, als auch eine Geisteskrankheit, als auch ein Wunder. Was bleibt dann übrig, wenn ich die Wissenschaft fragen darf?«

»Ja, was bleibt dann übrig ...«

Der Doktor wiederholt gedankenvoll diese Frage.


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