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Kapitel Zweiundvierzig. Viel Besuch auf einmal

Der Besuch, der am nächsten Tage im Kloster Sainte Gildarde eintrifft, bildet, so bunt zusammengewürfelt er auch erscheint, eine richtige Gesandtschaft der Stadt Lourdes an ihr berühmtestes Kind. Bürgermeister Lacadé hat seinen Sekretär Courrèges und Dechant Peyramale den Abbé Pomian ausgeschickt, damit sich diese vom Wohlergehen der Sœur Marie Bernarde eine unmittelbare Anschauung holen. Denn draußen in der Welt hört man nichts mehr von Bernadette. Die Zeitungen schweigen über das Wundermädchen der Grotte, und selbst die Kunde von der überstandenen Todeskrankheit ist nur allmählich und undeutlich durchgesickert.

Abbé Pomian ist Führer der Gesellschaft, die eine lange und umständliche Reise zurückzulegen hatte. Neben dem Abgesandten des Bürgermeisters haben sich ihm angeschlossen der Vater Bernadettens, ihre Schwester, die Frau des kleinen Landwirts aus St. Pé de Bigorre, Tante Bernarde Casterot, das scharfe Orakel der Familie, das nicht stumpfer geworden ist mit den Jahren, Tante Lucille und außer diesen Verwandten noch zwei Fremde von gegensätzlicher Art, der geheilte Invalide Louis Bouriette und die Inhaberin des größten Modeateliers von Lourdes, Antoinette Peyret. Auch diese beiden Persönlichkeiten sind von ihren Auftraggebern entsandt, um über das Wohlbefinden Marie Bernardes daheim zu berichten, die Schneiderin von der Witwe Millet und Bouriette vom Müller Antoine Nicolau. Madame Millet ist sehr alt und eine kranke Frau und hegt abergläubische Furcht vor der Eisenbahn. Deshalb hat sie sich trotz ihrer Sehnsucht nach Bernadette zu dieser anstrengenden Reise nicht entschließen können, sondern ihre alte, gewiegte Botschafterin geschickt. Auch Antoine hat sich zu dieser Reise nicht entschließen können und einen minder gewiegten Botschafter gesandt, freilich aus ganz andern Gründen. Die Gesellschaft hat die verschiedenen Umsteigeorte der langen Reise dazu benützt, um berühmte Stätten, die auf der Strecke liegen, zu besichtigen. Nur Vater Soubirous ist von der letzten Station ungeduldig vorausgeeilt.

Bernadette liegt die ganze Nacht wach. Das Wiedersehen mit Papa hat ihre Nerven stark mitgenommen. Ihre mit so vieler Mühe gebändigte und in andere Bahnen gelenkte Phantasie ist aufgestört. Die Bilder des Vergangenen bedrängen sie. Vor dem Besuch aber, der angekündigt ist, empfindet sie mehr Angst als Freude.

Mutter Joséphine Imbert und Mutter Marie Thérèse Vauzous lassen es sich nicht nehmen, der Abordnung von Lourdes selbst die Honneurs zu machen. Es werden den Gästen auf Befehl der Oberin Erfrischungen gereicht. Bernadette ist sehr betroffen über diese Zeugenschaft und diesen Empfang. Man sitzt steif herum in dem größeren der beiden Empfangszimmer, einem trüben Raum mit roten Plüschsesseln, einem ungeschlachten Kanapee, einem Eisenofen, der zumeist raucht, dem grauen Kruzifix und dem blauen Muttergottesbild an der Wand. Die Begrüßung erfolgt so förmlich, als lerne man sich gerade jetzt erst kennen. Abbé Pomian, den sein Humor ganz verlassen zu haben scheint, beginnt den Reigen mit abgemessenen Worten:

»Ich habe den Auftrag, ma Sœur, Ihnen die herzlichen Grüße unseres Herrn Dechanten zu überbringen. Pfarrer Peyramale befindet sich sehr wohl trotz der gewaltigen Arbeit. Sie können sich denken, ma Sœur, wie diese Arbeit gewachsen ist, seitdem Sie uns verlassen haben. An manchen Tagen treffen nicht nur Tausende von Pilgern ein, sondern ganze Eisenbahnzüge mit Schwerkranken aus aller Welt. Da weiß manchmal selbst unser Herr Dechant nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Er wird froh sein, ein Wort von Ihnen zu vernehmen, Sœur Marie Bernarde. Was darf ich Ihrem alten Pfarrer ausrichten?«

»Oh, Herr Abbé«, entgegnet Bernadette nach einer Pause sehr leise, »ich bin dem Herrn Dechanten Peyramale so dankbar, daß er sich meiner erinnert ...«

Madame la Supérieure nickt zu dieser Antwort hocherfreut. Die makellose Form gefällt ihr. An die naive Aufrichtigkeit der Worte Bernadettens denkt sie gar nicht.

Nun überbringt Adjoint Courrèges seinerseits die Grüße des Bürgermeisters:

»Sie ahnen gar nicht, wie stolz wir auf Sie sind, ma Sœur. Die Gemeinde hat den Cachot von André Sajou zurückgekauft. Man wird das Haus instand halten, wie es war ...«

»Man sollte es niederreißen«, versetzt Bernadette erschrocken und beinahe heftig. »Der Hof ist so schmutzig ...«

»Das geht nicht, ma Sœur«, lächelt der Munizipalbeamte nachsichtig. »Es ist ein historisch wichtiges Haus. Einst wird dort eine Gedenktafel angebracht werden ...«

Bernadette wirft einen scheuen Blick auf Mutter Marie Thérèse. Du gütiger Gott, was wird sie denken! Und es ist doch nicht meine Schuld. Um von dem Gegenstand rasch abzulenken, fragt sie:

»Und wie geht es Ihrer Tochter, der lieben Annette, Monsieur?«

»Oh, Annette ist verheiratet, wie die meisten Mädchen Ihres Jahrgangs, ma Sœur, bis auf Mademoiselle Cathérine Mengot, von der man nicht viel Gutes hört ...«

Da das Gespräch über dergleichen Untiefen schwach belebt dahinplätschert, faßt der bescheidenste der Besucher, Louis Bouriette, Mut und vermeldet nun den Gruß seines Auftraggebers. Dem Müller Antoine gehe es gut. Er lebe mit seiner Mutter zusammen, die noch immer rüstig sei, und er schreite als einer der Stattlichsten von Lourdes mit der großen Fahne den Prozessionen nach Massabielle voraus. Das habe er sich doch wohl verdient als der älteste männliche Zeuge der Erscheinungen. Bernadette lächelt zu den schwerfälligen Worten Onkel Bouriettes flüchtig, ohne den Gruß Antoines zu erwidern. Der ungeschlachte Botschafter aber möchte etwas von den Gefühlen seines Auftraggebers verdolmetschen, und so hebt er, halb in Patois, halb in Französisch, zu rühmen an, wie weit es die kleine Bernadette aus der Rue des Petites Fossées in der Welt gebracht hat:

»Schade, daß Sie das neue Lourdes nicht mehr kennen, ma Sœur. Herrgott, Sie würden erstaunt sein. Es gibt jetzt bei uns lauter große Geschäfte, wo man die Figur der Allerseligsten Jungfrau zu kaufen bekommt und Kerzen für die Bilder und Trinkbecher für die Quelle und Rosenkränze in allen Größen und Ihr Bild, ma Sœur. Und Ihr Bild, ma Sœur, kann man schon für zwei Sous haben ...«

»Mehr bin ich auch nicht wert«, sagt Bernadette kurz.

Bouriette erschrickt. Er glaubt, als Abgesandter Antoines einen faux pas begangen zu haben:

»Es gibt auch teure Bilder von Ihnen, ma Sœur. Sogar für zwei Francs fünfzig das Stück, die großen, farbigen ...«

Bernadette blickt zu Boden. Warum schweigt er nicht, der Unglücksmensch? Louis Bouriette, der Steinklopfer, aber ist nicht Antoine Nicolau. Er merkt nichts. Er verirrt sich weiter ins Schwärmen:

»Und ganze Bücher über Sie kann man kaufen, wenn man zu lesen versteht, ma Sœur. In denen steht alles genau aufgeschrieben, wie es gewesen ist damals ...«

Bernadette verschränkt ihre Finger krampfhaft, wie sie es in gequälten Augenblicken immer zu tun pflegt. Nichts aber kann Bouriette aufhalten, der im Namen seines Auftraggebers das Herz der Bewunderten zu erfreuen glaubt:

»Und es ist der Bau eines Panoramas geplant, wo die ganze Geschichte aufgemalt sein wird, rundherum. Und es soll heißen ›Panorama Bernadette Soubirous‹.«

Nach diesen Worten erhebt sich Mutter Imbert:

»Ich glaube, liebe Schwester Marie Bernarde, daß Ihre Gäste jetzt unsere schöne Kapelle werden besichtigen wollen. Wenn jemand Ihre Stickereien zu sehen wünscht, so mögen Sie einige davon ruhig herzeigen. – Sœur Marie Bernarde hat außerordentlich geschickte Hände, meine Herrschaften. – Später werden Sie mit Ihren Verwandten ein wenig allein zu plaudern wünschen, ma fille. Es bleibt Ihnen natürlich überlassen, Ihre Frau Schwester und Ihre Tanten in Ihrer eigenen Zelle zu empfangen.«

Bernadette macht mit eintöniger Stimme die Führerin durch die Sehenswürdigkeiten des Klosters, wie man sie am Sonntag den Besuchern zu zeigen pflegt. Man hat von ihren Stickereien in Lourdes schon gehört. Insbesondere Antoinette Peyret, die Nadelkünstlerin, drängt sehr darauf, etwas davon zu sehen. Erst nach langem Bitten breitet Bernadette mit sichtlicher Unlust einiges auf den Tisch der Sakristei aus.

»Heilige Jungfrau«, staunt die Peyret ziemlich verwirrt, »was Sie alles können, ma Sœur! Haben Sie das nach einer Vorlage gemacht?«

»O nein, Mademoiselle Peyret«, erwidert Bernadette gleichmütig. »Für so was gibt's ja gar keine Vorlagen.«

»Also dann kommen all diese merkwürdigen Vögel, Blumen, Tiere und Muster aus Ihrem eigenen Kopf?«

»O ja, Mademoiselle, die kommen schon aus meinem eigenen Kopf.«

»Ich hab ja immer gewußt, was in Ihrem Köpfchen steckt, ma Sœur«, nickt die Schiefschultrige, die aller Welt einzureden pflegt, sie sei die wahre Entdeckerin der Thaumaturgin von Lourdes gewesen.

»Sehen Sie, Mademoiselle, und ich weiß noch immer nicht, was in diesem Köpfchen steckt«, lächelt Mutter Vauzous scherzhaft, die fern in der Kapellentür aufgetaucht ist.

»Und welch eine Arbeit!« rühmt die Schneiderin, »welch eine Arbeit! Es scheint, daß Ihnen gar nichts schwerfällt, ma Sœur. Alles, was Sie anrühren, gelingt.«

»Oh, das ist mir schon recht schwergefallen, Mademoiselle Peyret«, verteidigt sich Bernadette.

Sekretär Courrèges aber, ein echter Jünger seines Meisters, wiegt den Kopf hin und her:

»Wenn man ein paar dieser Sachen in einem unserer großen Weihwarengeschäfte zum Verkauf anbieten täte, hein – Hunderte könnte man verdienen damit ...«

»Ach nein«, sagt Bernadette rasch, »das ist ja nur für unsern Konvent.« Und sie faltet eilig ihre Werke zusammen.

Später führte sie ihre Tanten und Marie über die Treppe in ihre Zelle. Vier Menschen, darunter die vierschrötige Bernarde Casterot, füllen das Räumchen so an, daß kaum ein Platz zum Stehen bleibt.

»Und hier lebst du, mein Kind?« fragt Tante Bernarde.

»Ja, hier lebe ich, ma tante, wenn ich bete, nachdenke oder schlafe ...«

»Ich sehe dir an, daß du mehr betest und nachdenkst, als du ißt, mein gutes Kind«, sagt das Orakel, das sich nicht so leicht der ehemaligen Überlegenheit begibt wie die andern.

»Wir essen gut hier im Kloster«, versichert Bernadette, »und es schmeckt mir ausgezeichnet ...«

Die Casterot traut dieser Behauptung eines guten Appetits nicht. Sie schüttelt den Kopf:

»Du solltest dich besser ernähren, mein Kind. Ich werde mit Madame la Supérieure sprechen. Als Patin und Stellvertreterin deiner seligen Mutter darf ich's. Gib Obacht auf dich, meine Kleine. Die Casterots zwar sind kerngesund, trotz des Unglücks mit deiner Mutter. Aber von der Familie deines Vaters halt ich nicht viel ...«

Bernadette zieht Marie an sich, die plump geworden ist und nicht ohne Scheu die ganze Zeit abseits steht:

»Und von dir hab ich noch gar nichts gehört, meine liebe Schwester ...«

»Von mir gibt's nicht viel zu hören, Bernadette. Ich bin halt eine Bauersfrau ...«

»Papa sagt mir, du bist glücklich und hast Kinder ...«

»Glücklich«, lacht Marie auf. »Wenn man zu leben hat und die Ernte gut wird und alles ist gesund und man ist nicht unglücklich, dann ist man glücklich. Und Kinder hab ich auch, drei Stück, und ein viertes ist auf dem Weg ...«

»Und du bist trotzdem zu mir gekommen, meine liebe Schwester ...«

»Bäuerinnen, meine liebe Schwester, arbeiten bis in den neunten Monat hinein. Ich vertrag schon einen Puff. Und es war eine großartige Reise. Und ich hab dich doch wiedergesehn. Sonst aber schau ich nicht so aus wie ein Faß.«

»Oh, du schaust hübsch aus, meine liebe Schwester«, sagt Bernadette, und ihr Blick umfaßt das grobe Weib mit den roten, knotigen Händen. Die Hände der jungen Nonne sind keine Arbeiterhände mehr, sondern ausgebleicht und ganz abgemagert. Die andre ist aber Marie, das warme Fleisch, mit dem sie das Bett teilte und vor dem sie nach den Erscheinungen immer solchen Abscheu hatte. Plötzlich packt Marie in der unbewußten Schamlosigkeit der Schwangeren Bernadettens gebrechliche Hand und drückt sie fest gegen ihren Bauch. »Fühl einmal an«, lacht sie, »wie es sich bewegt.«

Bernadette spürt das warme Fleisch unterm Rock. Sie spürt ein leichtes Zucken, das sie sonderbar durchschauert. Schnell zieht sie ihre Hand zurück.

Die Abreise der Gesellschaft ist für den nächsten Vormittag angesetzt. Die Oberin Imbert fordert Bernadette auf, ihre Verwandten und Freunde an die Bahn zu bringen. Sie gibt ihr eine Nonne zur Begleitung. Man steht lange auf dem Bahnsteig herum und führt die leeren und quälenden Gespräche des Lebewohls. Alle tun so, als nehme man nur einen zeitlichen Abschied:

»Wir kommen wieder, Bernadette ... Sehr bald kommen wir wieder, mein liebes Kind ... Kannst du es nicht auch erwirken, daß man dich einmal ins Haus von Lourdes schickt? So viele von euern Schwestern sind ja dort ...«

»Oh, es ist möglich, daß man mich nach Lourdes sendet ... Jedenfalls sehen wir uns bald wieder, Papa, Marie, hier oder dort ...«

Trotz dieses Geredes aber weiß Bernadette genau, daß es kein zeitlicher, sondern ein ewiger Abschied ist. Ihr schwindelt. Seit Jahren ist sie nicht unter Menschen gestanden auf einem freien, bewegten Platz. Ihr ist so elend zumut, daß sie sich kaum aufrecht halten kann. Ehe aber der Zug einfährt, nimmt Abbé Pomian sie zur Seite:

»Ich habe noch einen Auftrag unter vier Augen an Sie, vom Dechanten, ma Sœur. Er schickt Ihnen dieses Muttergottes-Bildchen. Es ist dasselbe, das er an die Schulkinder zu verteilen pflegt. Er läßt Ihnen sagen, sollten Sie ihn einmal brauchen, dann schicken Sie einfach nur dieses Bildchen ...«

Zerstreut dankend, steckt's Bernadette zu sich.

Für Klosterfrauen ist es nicht gerade angenehm, über sehr belebte Straßen zu gehn. Manche Menschen grüßen, manche sehen feindselig drein, und einige Abergläubische greifen sogar nach dem Rockknopf. Auf diesem raschen Heimweg denkt Bernadette: die Losschälung ist gelungen, ohne daß ich es selbst geahnt hätte. Mit ihnen allen, die jetzt im Zug sitzen, hab ich nichts mehr zu tun. Ich bin von Herzen dankbar unserer Meisterin. Oh, wie anstrengend war dieser Tag ...

Im Refektorium daheim begibt man sich gerade zu Tisch. Wiederum wie am zweiten Tage, den Bernadette im Kloster zubrachte, hält Mère Marie Thérèse eine kleine Ansprache:

»Unsre liebe Mitschwester Marie Bernarde hat Besuch aus der Welt gehabt. Sie hat nach Jahren ihre nächsten Angehörigen wiedergesehen und einige Bekannte. Es könnte für uns alle von großem Nutzen sein, zu erfahren, welche Wirkung ein solches Wiedersehen auf eine Seele übt, die in der Losschälung begriffen ist. Wie würd' ich Ihnen dankbar sein, ma Sœur, einige erbauliche Worte darüber zu hören ...«

»Oh, ma Mère«, entgegnet Bernadette ruhig, ohne sich von ihrem Platz zu rühren: »Was wollen Sie Erbauliches aus einem Stein herausschlagen?«


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