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Kapitel Achtunddreißig. Die weiße Rose

Als mißtrauischer Gegner ist nun der Bischof von Tarbes überwunden. Er beugt sich den fünf Widersprüchen, die in den großen Heilungen durch die Quelle Massabielle liegen und die, nach dem Eingeständnis des naturwissenschaftlichen Flügels der Untersuchungskommission, durch menschliche Vernunft nicht geklärt werden können. Es sind dies aber:

Der erste Widerspruch zwischen der Unscheinbarkeit des Heilmittels und der Größe des Erfolgs. Der zweite Widerspruch zwischen der Gleichheit des Heilmittels und der Verschiedenheit der durch dasselbe beseitigten Krankheiten. Der dritte Widerspruch zwischen der kurzen Anwendung des Heilmittels und dem vorherigen langen Gebrauch der durch die medizinische Wissenschaft verschriebenen Arzneien. Der vierte Widerspruch zwischen der augenblicklichen Wirksamkeit des einen Heilmittels und der oft jahrelangen Erfolglosigkeit der andern. Und schließlich der fünfte Widerspruch zwischen dem chronischen Charakter der untersuchten Übel und ihrer urplötzlichen Behebung durch das Heilmittel. – Diese Widersprüche können nur mehr von Geistern geleugnet werden, die sich wissentlich und willentlich den dokumentierten Tatsachen verschließen und sowohl Patienten wie Ärzte für unehrliche Propagandisten des Wunderglaubens halten. Für Bertrand Sévère Laurence aber bilden diese fünf Widersprüche den sicheren Grund, auf welchem er seinen Hirtenbrief errichtet, der das übernatürliche Wesen der Erscheinungen und Heilungen von Lourdes endlich anerkennt. Gleichwohl unterwirft der Bischof, wie es in diesem von Verstandesschärfe funkelnden Pastoralschreiben ausdrücklich heißt, sein eigenes Urteil »dem Urteil des Statthalters Christi auf Erden, der da beauftragt ist, die Kirche Gottes zu regieren«.

Trotz dieses entscheidenden Ereignisses gelingt es Peyramale, noch einen Aufschub für Bernadette zu erwirken. Er veranlaßt eine ärztliche Untersuchung der Neunzehnjährigen, die nicht nur das chronische Asthma, sondern eine bedenkliche Körperschwäche feststellt. Ferner aber ereignet sich eine neue Sensation, die den Blick der Öffentlichkeit von Bernadette ablenkt. Monseigneur hat dem Pastoralbrief einen Aufruf an seine Diözesanen beigefügt. Es möge mit Hilfe des Volkes der ausdrückliche Wunsch der Dame nach einem Tempel erfüllt werden. Da dieses Unternehmen, namentlich im Hinblick auf das schwierige Terrain der Montagne des Espélugues, einen bedeutenden Kostenaufwand erfordern werde, sei der Bischof ohne Unterstützung der Gläubigen nicht imstande, es durchzuführen.

Was jetzt geschieht, gleicht wiederum einem Wunder, insofern nämlich, als es dem Naturgesetz der verschlossenen Taschen widerspricht. Binnen einiger Wochen strömen nach Tarbes zwei Millionen Francs aus der ganzen Welt. Und weil es zumeist die Sous der Armen sind, so soll die ungeheure Summe in der richtigen Münze erglänzen: es sind vierzig Millionen Sous. Fünfundzwanzig solcher Sous hat François Soubirous an jenem elften Februar von Cazenave erhalten, als er den Kranken-Unrat vor der Grotte verbrannte, und er fühlte sich gerettet damals. Monseigneur, ein Mann, der seine Grenzen kennt, bestimmt den Pfarrer von Lourdes zum Bauherrn. Die große Zeit des Lebens bricht für Peyramale an. Er handelt mit Lacadé den Preis für den Spelunkenberg und die umliegenden Grundstücke der Gemeinde aus. Der Bürgermeister ist ein viel zu frommer Mann, um in seinen Forderungen unvernünftig zu sein. Sein viver Geist hat es nicht mehr nötig, in Zukunftsträumen zu schwelgen. Sechs moderne Gasthöfe und Hotels sind schon aus dem gesegneten Boden Lourdes' geschossen, an deren Entstehung und Ertrag er nicht unbeteiligt ist. Und die größte Tat seines Lebens, die Bahnstrecke von Tarbes nach Lourdes, befindet sich im Bau. Wer sein Ziel kennt und die Navigation versteht im Strom der Welt, der kann nicht stranden. Der Erfolg ist für Lacadé kein Mirakel, nicht einmal der Erfolg eines Mirakels.

Im Pfarrhaus drängen sich die Architekten. Nicht milde geht Peyramale mit diesen Künstlern um. Einer bringt das Modell eines Kirchleins, das auf dem Grottenberg sitzt wie das Zuckergebild auf einer Torte. Der Pfarrer zerschlägt's kurzerhand. Der künstlerische Geschmack der Menschen hängt mit ihrer körperlichen Konstitution zusammen. Wer eine strotzende Brust zum Atmen hat, liebt weitgespannte Gesänge. Ein wuchtiger Riese wie Peyramale bevorzugt eine muskulöse Baukunst. Aus den Felsflanken von Massabielle soll der neue Dom massig und schlank zugleich emporwachsen, als wäre der Berg nur sein eigener Unterleib. Dieser Dom ist ja dem Staat und der Kirche abgetrotzt als ein Zeichen des Sieges über das allgewaltige Zwei-mal-zwei-ist-vier. Peyramales Planungen reifen. Der Gave ist abgelenkt, der Mühlbach zum Teil zugeschüttet. Eine breite Esplanade zieht an der Grotte vorbei. Arbeiter und Gärtner verwandeln den Berg von Massabielle in einen blumigen Parkhang, der Straßen wie Umarmungen talabwärts streckt.

In diesen Tagen wird auch Bernadette von der Kunst heimgesucht. Zwei adlige Fräuleins aus Tarbes, die Schwestern de Lacour, haben eine besondere Geldschenkung gemacht. Ein Damenkomitee unter Führung Madame Millets ist von ihnen ausersehen, einen würdigen Künstler mit dem Auftrag einer Madonnenstatue zu betrauen, die in der Felsnische der Dame zur Aufstellung gelangen soll. Dieser würdige Künstler ist Monsieur Fabich aus Lyon. Mit Samtbaret und Skizzenbuch taucht er in Bernadettens Zimmerchen auf. Die Augen einkneifend, den linken Daumen abbiegend, bittet er »la charmante voyante«, ihm genau die verschiedenen Stellungen anzugeben, welche die Erscheinung eingenommen habe. Auch möge sie ihm Gesicht, Hände, Füße, Kleid, Schleier und Gürtel bis ins letzte Fältchen deutlich machen. Bernadette tut, was sie kann, und sie muß es leider hundertmal tun. Die Kohle zuckt übers rauhe Papier. Die Blätter bedecken den Boden.

»Hat sie etwa so ausgesehen?« fragt der eifrige Künstler.

»Nein, so hat sie nicht ausgesehen, Herr ...«

»Aber ich habe doch all Ihre Angaben genau übertragen, Mademoiselle. Woran fehlt es denn?«

»Ich weiß nicht, woran es fehlt, Herr ...«

Einige Tage später hat der Bildhauer eine Statuette ausgeführt, die dem künftigen Werke zum Muster dienen soll. Sehr stolz ist er darauf, daß er nach Vorbild einiger Antiken den Gürtel der Dame mit einem wäßrigen Blau und die Rosen auf ihren Füßen mit Goldbronze angepinselt hat. Mesdames Millet, Baup, Cénac, Gesta und so weiter sind begeistert. Welch eine glückliche Idee, daß man auf diesen sanften Meister verfallen ist, der so ideal empfindet und dabei sein Handwerk versteht. Die Damen loben vor allem den Fleiß des kundigen Mannes, der, selbst in dieser Skizze, keine Falte und keinen Fingernagel vergessen hat. Wie wird la petite voyante, das arme unwissende Kind, beglückt sein, ihre Dame wiederzufinden. Bernadette, die der Jury zugezogen wird, scheint nicht nur nicht beglückt zu sein, sondern macht ein betretenes Gesicht.

»Ist sie nicht ähnlich deiner Dame, liebes Kind?« fragt die Millet, dem Künstler und seinem Werk ganz hingegeben.

»Nein, ähnlich ist sie nicht, Madame«, muß die Seherin erwidern, wenn sie nicht lügen will. Meister Fabich bekommt unruhige Augen. Denn was auf Erden gliche dem Schreck und der Verstörung eines Künstlers, dem man den Wert seines Werkes ins Gesicht hinein leugnet? Er wirft gewissermaßen ein Rettungsseil aus, für sich und seine Kritikerin:

»Die Ähnlichkeit«, sagt er, »für die es ja keinen Vergleich gibt, ist meine Aufgabe nicht. Meine Aufgabe ist es, annäherungsweise die überirdische Schönheit zu formen«, und ein flehender Blick trifft Bernadette: »Ist denn meine Dame nicht auch sehr schön, Mademoiselle?«

»O ja, Monsieur, sie ist sehr schön«, sagt mit äußerster Bereitwilligkeit Bernadette, die weiß, daß sie ein Nichts ist und ein Kind des Cachots und von Rechts wegen gar nicht mitreden dürfte. Der Meister wischt sich den Schweiß, atmet auf und wird mutiger:

»Und nun wäre ich Ihnen herzlich dankbar, Mademoiselle, wenn Sie mir den Unterschied zeigen könnten zwischen Ihrer Dame und meiner Dame hier ...«

Bernadette sieht mit einem verlorenen Lächeln an der Statuette vorbei:

»Oh, meine Dame«, sagt sie leise, »ist viel natürlicher und gar nicht so müde, und betet auch nicht immer ...«

Mit diesen ungeschickten, aber treffenden Worten drückt sie vielmehr aus: Hier steht wieder nur eine Muttergottes, wie es Hunderte in allen Kirchen gibt. Doch meine Dame ist die Eine und Einzige, und niemand ahnt, wie sie aussieht, und mir gehört sie allein. – Dies aber ist wahr. Der Künstler Fabich, Madame Millet und all die andern wiederholen in ihren Vorstellungen nur das schon längst Wiederholte. Das erfüllt sie mit Zufriedenheit. Ihr Glaube und Zweifel, ja selbst ihr Schauen und Hören ist Cliché. Wie aber mag einer Seele geschehen, die einem der Urbilder selbst begegnet ist?

Noch lange vor der Vollendung der Basilika auf dem Felsen fordert das Volk von Bigorre, daß die Grotte, die es schon vor vier Jahren eroberte, endlich zum Heiligtum geweiht werde. Der Bischof, der es der Dame so lange sauer gemacht hat, beschließt nun, würdige Buße als Kirchenfürst zu tun durch die größte und glanzvollste Feier, die seine Diözese jemals sah. Er will sich an die Spitze einer Prozession stellen, die an die hunderttausend Pilger umfaßt. Auch für Bernadette soll es der höchste Ehrentag sein. Man wählt die Frühlingszeit, den vierten April, wo die überschwengliche Baumblüte des Pyrenäenlandes schon im Beginn steht. Lacadé läßt die ganze Stadt beflaggen. Tausende von Kerzen brennen am Vorabend in allen Häusern hinter den Fenstern. An diesem Abend schon trifft Bischof Bertrand Sévère in Lourdes ein. Alle Domherren und Prälaten seines Kapitels bilden das Gefolge. Fünfhundert Priester werden ihm morgen Assistenz leisten bei dem gewaltigsten Tedeum seiner Laufbahn. Die Garnison wird in Parade ausrücken unterm Kommando eines Obersten. Die Mitglieder der verschiedensten Orden werden den Bischof umgeben, Karmeliter, Karmeliterinnen, Christliche Schulbrüder, Barmherzige Schwestern, die Schwestern von Nevers, die Nonnen vom Heiligen Josef. Er aber wird schreiten in seinem reichsten Ornat, in Rochet und Stola, die Mitra auf dem Haupt, den goldenen Hirtenstab in der Hand.

Am frühen Morgen dieses Tages will Bernadette sich erheben. Sie kann's nicht. Ihre Beine sind wie abgestorben. Nach mehreren Versuchen sinkt sie erschöpft zusammen. Sie verliert den Atem. Ein Asthma-Anfall, heftiger als seit Jahren. Jähes Fieber tritt hinzu. Doktor Dozous muß dem Festkomitee mitteilen, daß an eine Mitwirkung des Mädchens beim Aufzug nicht zu denken sei. Alle Glocken beginnen zu läuten. Hunderttausend Menschen und mehr füllen die Gassen und das Gave-Tal. Das Volk ist gierig, der kleinen Soubirous, seinem Kinde, einen Triumph sondergleichen zu bereiten. Bernadette hört draußen das ungeheure Summen. Sie kümmert sich nicht darum. Sie ist vollauf damit beschäftigt, ein wenig Luft zum Atmen zu finden. Pünktlich zu Mittag ist die Feier zu Ende. Pünktlich zu Mittag ist Bernadette wieder gesund. Der Anfall hat genau so lange gedauert, wie es nötig war, um nach Weissagung der Dame einen irdischen Glückstag zu verhindern.

 

Monseigneur Forcade, der Bischof von Nevers, hat dieses und jenes gefragt. Bernadette Soubirous hat dieses und jenes geantwortet, zuletzt, daß es für sie nicht nur notwendig, sondern hochwillkommen sei, der Welt zu entsagen und bei den Schwestern von Nevers, die sie seit Kindheit verehre, den Schleier zu nehmen. Wohlwollend nickt der hohe Herr zu diesem Entschluß und erklärt sich gerne bereit, alles Weitere zu veranlassen. Er löst erstaunlich schnell sein Wort ein, und bald ergeht der Ruf an Bernadette. Zwei Klosterfrauen von Lourdes werden beauftragt, sie nach Nevers ins Mutterhaus zu bringen.

Das Ehepaar Soubirous bewirtschaftet nun seit einem Jahr schon die obere Lapaca-Mühle. Die Geschäfte gehn nicht übel. Ein klapperndes Mühlchen auf den Hund zu bringen, das war heute nachgerade eine Kunst in Lourdes, das von Fremden überströmt wird. Jedes halbe Jahr erschließt ein neues Hotel seine Pforten. Die Restaurants blühen. Der dicke Bäcker Maisongrosse hat viele Konkurrenten bekommen. Wenn François Soubirous jetzt bei Maisongrosse eintritt, wird er erheblich anders empfangen als Anno 58. Freundschaftlich komplimentiert ihn der Dicke in die gute Stube hinter dem Laden und kredenzt ihm ein Gläschen alten Napoleons. Auch Postmeister und Hotelier Cazenave ist nicht mehr François' Brotherr, sondern sein Kamerad und bester Kunde. Nur noch selten erhält er aus Soubirous' Mund den Titel »mon capitaine«. Bei Vater Babou, wo der Müller dann und wann auftaucht, würde die bewaffnete Macht keine dreckige Anspielung mehr wagen. Brigadier d'Angla, Gendarm Belhache und Polizist Callet erheben sich vor Bernadettens Vater ehrerbietig und salutieren stramm. Soubirous ist hoch emporgewachsen über alle Nachbarn der Rue des Petites Fossées. Der Cachot steht leer. Onkel Sajou vermietet ihn nicht mehr. Heute aber, an einem regnerischen Sommertag, drängen sich die alten Nachbarn vor dem baufälligen Arresthaus. Bernadette reist ab, um ihr Noviziat anzutreten. All ihre Freunde, Feinde, Anhänger, Leugner von ehemals, die Vollzahl der Überwundenen, wollen ihr Lebewohl sagen. Der sinnige Einfall, diesen Abschied im Cachot zu feiern, geht von der schiefen Schneiderin Antoinette Peyret aus. Es ist ein Werkeltag. Ein neuer Transport von Kranken ist soeben angekommen. Die Leute haben alle Hände voll zu tun, und die obere Lapaca-Mühle liegt ziemlich weit ab. Die letzten Wochen hat Bernadette dort mit den Ihren verlebt. Die haben sie auch überredet, den Sajous und den andern Nachbarn aus großer Zeit diesen Gefallen zu tun und in den Cachot zu kommen.

Die dickmäurig feuchte Stube mit den vergitterten, ungleichen Fensterchen ist leer. Der verödete Cachot gleicht einem Trauerhaus, aus dem soeben eine Leiche getragen wurde. Die Familie Soubirous steht in einer feierlichen Reihe. Neben François und Louise die beiden Kleinen, Jean Marie und Justin, die jetzt auch schon groß sind. Der dreizehnjährige Jean Marie, der zwölfjährige Justin tragen auf ihren Röcken den Ehrenstaub des Müllergewerbes, denn sie sind Gehilfen ihres Vaters. Es ist eine sonderbare Abschieds-Cour, die Bernadette abzuhalten gezwungen ist. Die Leute ziehn an ihr vorbei und reichen ihr die Hand und versuchen, die ihre zu küssen, und manche umarmen sie, und viele haben Tränen in den Augen. Die Nachbarin Bouhouhorts ist mit dem Kinde Bouhouhorts gekommen, das auch schon acht Jahre alt ist und kerngesund, trotz seiner Säbelbeinchen.

»Sieh dir noch einmal diesen Engel an, mein Kleiner«, schluchzt Madame Bouhouhorts. »Du wirst dein Lebtag an diese Stunde denken, und würdest du hundert Jahre alt ...«

Das Kind Bouhouhorts sieht Bernadette neugierig erschrocken an, macht einen schnellen Bückling und drückt sich. Sehr lang ist der Zug der Abschiednehmenden, der an den unbewegt freundlichen Augen Bernadettens vorüberwandelt: »Au revoir, Monsieur Bouriette, au revoir, Tante Piguno, au revoir, Madame Raval, au revoir, Monsieur Barringues ...« Antoinette Peyret bebt vor Wehmut:

»Vergiß nicht, daß ich die erste war, die an dich geglaubt hat.«

Und Madame Millet drückt sie an ihre gewaltige Brust:

»Bete für mich unglückliche Verlassene.«

Und Tante Bernarde, das Orakel der Familie, gibt schnell noch kluge Verhaltungsmaßregeln fürs Klosterleben. Und Tante Lucille, die leise, drückt ihr ein goldenes Kreuzchen in die Hand und flüstert:

»Wie beneid ich dich, wie beneid ich dich, meine Kleine ...«

Und schließlich erscheint auch Bürgermeister Lacadé mit einem Kistchen verzuckerter Früchte:

»Eine kleine Reisezehrung für Lourdes' gesegnetes Kind ...«

Bernadette wundert sich, daß Antoine Nicolau nicht unter den Abschiednehmenden ist.

Und dann ist auch das vorüber, und man ist unter sich allein. Die Familie begleitet Bernadette zum Hospital, wo der Wagen schon wartet, der sie und die beiden Klosterfrauen nach Tarbes bringen soll. Der Abschied ist ziemlich kurz. François Soubirous, in dem die väterliche Würde mit einem unbestimmten Schmerz im Streite liegt, zeigt, wie immer in großen Augenblicken, eine steife und düstere Grandezza. Obwohl es um seine Mundwinkel zuckt, glaubt er sich's schuldig zu sein, der Tochter eine Vermahnung mit auf den Weg zu geben:

»Sei brav, mein Kind, und mach deinen Eltern Ehre auch dort im Kloster.«

Maman, die in den letzten Jahren die Vorderzähne verloren hat, sieht alt und verhärmt aus. Sie flüchtet sich in die leere Geschäftigkeit der Mütter, die ein Kind scheiden sehen. Schnell packt sie noch einmal den dürftigen Ranzen mit Bernadettens Habseligkeiten um. Sie entnimmt ihm auch ihr Abschiedsgeschenk, ein seidenes Kopftuch. Bernadette trägt ein neues schwarzes Kleid von städtischem Schnitt.

»Binde dir das Kopftuch um, mein Liebling«, bittet die Soubirous. »Sie sollen sehen, wie hübsch mein Kind ist ...«

Gehorsam erfüllt die Tochter diesen Wunsch. Frau Soubirous wird plötzlich ganz grau im Gesicht:

»Wir werden uns nicht wiedersehen, Bernadette ...«

»Aber Maman«, versucht das Mädchen zu lachen, »warum sollen wir uns nicht wiedersehn?«

»Praoubo de jou, du wirst so fern, so fern von mir sein«, bricht die Soubirous endlich in Weinen aus.

Bernadette kämpft um eine leichte Stimme.

»Besuche sind erlaubt, Maman«, sagt sie, »und mit der Eisenbahn kommt ihr schnell nach Nevers. Und Papa verdient jetzt genug Geld, und ihr könnt alle eine schöne Reise machen ...«

Erst als der Wagen schon über die Straße rattert und Bernadette die Ihrigen aus dem Blick verloren hat, wirft sich ein schneidender Schmerz über sie. Es ist aber weniger ein Abschiedsschmerz als ein unbegreifliches Erbarmen mit Eltern und Geschwistern, das sie plötzlich erfüllt, ein Erbarmen ohne Tröstung. Die Begleiterinnen merken, daß Bernadette sich mit geschlossenen Augen und angespannten Gliedern in die Wagenecke drückt. Sie sehen einander an. Schon vorher haben sie die Verabredung getroffen, dem Mädchen eine letzte Freude zu gewähren. Sie möge Abschied nehmen von ihrer geliebten Grotte und dort noch ein Gebet zur Unsichtbaren in der Felsnische empor richten. Der Kutscher, der schon Bescheid weiß, hält an der neuen Esplanade, die in drei Minuten nach Massabielle führt. Wie erstaunen aber die guten Schwestern, als Bernadette sich nicht leidenschaftlich auf die Knie wirft, wie in der großen Zeit, sondern nur ein ganz gewöhnliches Kreuz schlägt. Sie steht vor der Grotte wie ein ehrlicher Mensch vor einem Grabe steht. Was für Zehntausende eine Stätte des Wundersegens ist, das ist für Bernadette ein Grab der Liebe. Die andern empfangen, was sie verloren hat. Sie sieht die wirkliche Dame nicht mehr. An deren Stelle in der Felsnische steht Meister Fabichs Dutzendmadonna, eine Wiederholung von Millionen immer leereren Wiederholungen, die der lebendigen Allerlieblichsten noch unendlich viel weniger gleicht als ein Grabdenkmal dem Toten darunter. Schwer genug war's schon, nach dem Abschied aller Abschiede in die verlassene Nische zu starren. Doch diese Verlassenheit, diese dunkle Leere war ja immer noch ein Rahmen der einstigen Gegenwart und einer möglichen Wiederkehr. Jetzt aber steht da die Fremde aus karrarischem Marmor, den Meister Fabich zu Gips gemacht hat, mit ihrem blau bemalten Gürtel, sie steht da in jeder Sekunde und ist für alle zu haben und verjagt die Wirkliche und Leibhaftige in den Augen derjenigen, die sie geschaut hat. Gequält wendet sich Bernadette ab und geht davon. Die bestürzten Schwestern aber sind geneigt, dieses sonderbare Betragen für unfromme Kälte zu halten.

An der Stadtgrenze muß die Fahrt noch einmal unterbrochen werden. Der Müller Antoine Nicolau läuft plötzlich neben dem Wagen einher, einen Strauß weißer Rosen in der Hand, die er mit viel Verlegenheit Bernadette überreicht.

»Der künftigen Gottverlobten und dem Lieblingskinde der Rosenkönigin diese Rosen«, deklamiert er und ist froh, über diesen mühsam eingelernten Satz nicht zu stolpern.

»Oh, Monsieur Antoine, die sind doch viel zu schön und werden verwelken auf der langen Reise«, sagt Bernadette ganz erschrocken, während eine der Nonnen den Strauß an sich nimmt.

»Ich wollt heut nicht kommen mit den andern, Mademoiselle Bernadette«, stammelt Antoine. »Ich wollte Ihnen nämlich etwas sagen.«

»Was wollten Sie mir denn sagen, Monsieur Antoine?«

»Ja, was wollt ich Ihnen nur sagen, Mademoiselle Bernadette ... Das ist sehr schwer zu sagen ...«

Langes Schweigen. Die beiden Begleiterinnen sitzen sehr aufrecht im Wagen. Bernadette sieht Antoine Nicolau gespannt an. Er massiert verzweifelt seinen schwarzen Schnurrbart, und Schweißtropfen treten ihm auf die Stirn:

»Ich wollte sagen«, bringt er schließlich heraus, »meine Mutter ist nun schon alt. Und wir sind gewöhnt aneinander und vertragen uns recht gut. Und ich bin auch schon vierunddreißig. Und ich hab mich halt entschlossen, keine Frau mehr zu nehmen, Mademoiselle Bernadette. Denn, nicht wahr, Mutter und Schwiegertochter, das geht meist nicht gut zusammen. Und ich werd auch unverheiratet bleiben, das wollt ich sagen ... Und jetzt, viel Glück auf den Weg, Bernadette ...«

Sie nestelt eine der Rosen aus dem Strauß und gibt sie ihm:

»Leben Sie wohl, Monsieur Antoine ...«


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