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Kapitel Fünf. Kein Reisig mehr

Noch ehe Bernadette und Marie aus der Schule heimgekommen sind, tauchen die beiden Kleinen im Cachot zum Mittagessen auf. Das ältere der Brüderchen, Jean Marie, macht ein verwegen schlaues Gesicht, als hätte er ein Abenteuer siegreich bestanden. Das hat er auch. Nach der letzten Vormittagsmesse, die der Dechant Peyramale meist selbst zu lesen pflegt, ist die Pfarrkirche fast immer menschenleer. Um diese Zeit schlich sich der siebenjährige Jean Marie in die kleine Seitennische, wo das Madonnenbild steht, das in Lourdes von den Frauen sehr verehrt wird. Dort brennen auf einem eisernen Rost vor der Muttergottes viele geweihte Kerzen. Jean Marie hat ein paar Klumpen des geschmolzenen Wachses zusammengekratzt und bringt sie nun treuherzig der Mutter nach Hause:

»Maman, mach Lichter draus ... Oder vielleicht kannst du auch damit kochen, ich hab's gekostet ...«

»Praoubo de jou«, ruft die Soubirous, »ich arme Frau ...«

(In Lourdes reden die Leute nur selten Französisch, sondern ihr eigenes Patois, das dem Baskischen nahe verwandt ist.)

»Ich arme Frau ... Mein Kind beraubt die Allerseligste Jungfrau ...«

Sie entreißt dem Jungen die Klumpen. Noch heute will sie damit zum Wachszieher Gazalas gehen und eine dicke Kerze für La Vierge drehen lassen. Madame Soubirous ist so entsetzt über den Religionsfrevel, den ihr Jean Marie begangen hat, daß sie dem sechsjährigen Justin keine Beachtung schenkt, dessen ungewaschenes Händchen ihr seinerseits ein Geschenk entgegenstreckt. Es ist ein schmaler gestrickter Wollstreifen: »Schau nur, Maman, was ich bekommen hab ...«

»Oh, ihr Unglückseligen, ihr habt sicher gebettelt ...«

»Wir haben nicht gebettelt, Maman«, verteidigt sich der Ältere empört. »Justin hat's von dem Fräulein gekriegt.«

»Von welchem Fräulein, du himmlische Güte? ...«

»Von dem Fräulein, das immer herumgeht mit einem Korb, wo lauter solche Sachen drin sind. Wir haben gar nichts gesagt. Wir sind nur dagestanden ...«

»Mademoiselle Jacomet vielleicht, die Tochter des Polizeikommissärs ...«

»Und sie hat gesagt«, plappert Justin, »du sollst das Gestrickte haben, weil du das ärmste Kind bist, das ich kenn ...«

»Paßt nur auf, ihr beiden«, zürnt Maman, »daß euch Monsieur Jacomet nicht beim Herumlungern erwischt. Der steckt euch sicher ins Loch ...«

»Bin ich wirklich das ärmste Kind, das sie kennt, Maman?« fragt Justin mit der lebhaften Neugier eines Unbeteiligten.

»Oh, ihr Dummköpfe«, zischt Mutter Soubirous und zerrt die Bengel zum Waschtrog, wo sie ihnen die Hände mit Flußsand abreibt. Dabei hält sie ihnen eine Predigt.

»Das Kind von Madame Bouhouhorts, das ist viel ärmer als ihr. Es ist gelähmt von Geburt und kann sich nicht rühren. Ihr aber flaniert den ganzen Tag auf der Gasse herum, da kann man tun und reden, was man will. Und außerdem seid ihr gar keine armen Kinder, sondern die Söhne eines früheren Mühlenbesitzers und sollt euch nicht benehmen wie hergelaufenes Gesindel. Und die Familie eurer Mutter ist eine ausgezeichnete Familie. Die Casterots waren immer geehrte Leute, seht euch nur eure Tante Bernarde an, und ein Onkel meines Vaters war Pfarrer in Trie, und ein anderer Onkel war beim Militär in Toulouse. Ihr macht ihnen Schande. Euer Vater sucht eine neue Mühle. Dann wird wieder alles anders werden. Wie gut, daß er schläft, wie gut, daß er nichts weiß, daß ihr die Allerseligste Jungfrau bestehlt und die guten Leute belästigt ...«

Louise Soubirous wirft nach dieser Standrede einen langen Blick auf ihren Gatten, der, auf dem Rücken ausgestreckt, den laut schnarchenden Schlaf des Gerechten schläft, obwohl die Gerechten meist nicht am hellen Vormittag zu schlafen pflegen. Wie alle Leute, die den Raum mit vielen andern teilen müssen, besitzt der Hausvater eine wohlgeübte Schlummertechnik. Er läßt sich durch kein lautes Gespräch und keinen Lärm stören. Die Frau senkt trotzdem ihre Stimme:

»Er plagt sich für euch, der gute Vater, und bringt täglich Geld nach Haus. Und ihr seid gar keine besonders armen Kinder, denn ihr habt ja eure Eltern. Und morgen ist Waschtag bei Madame Millet. Da bekomm ich sicher ein Stück Kuchen für euch ...«

»Werden Früchte sein in dem Kuchen?« fragt Justin mit sachverständigem Argwohn. Die Mutter hat keine Zeit zur Antwort mehr, denn die beiden Töchter sind gekommen, Bernadette und Marie, und sie haben ein drittes Mädchen mitgebracht, Jeanne Abadie, die Vorzugsschülerin aus dem Katechismus. Diese Dreizehnjährige mit den flinken Schwarzaugen und dem aufgeschürzten Mund zeigt eine auffällige Weitläufigkeit. Sie macht einen artigen Knicks:

»Ich habe keinen Hunger, Madame, ich werde nur zuschaun ...«

Die Soubirous hat inzwischen den Topf mit der Zwiebelsuppe auf den Tisch gestellt. Geröstete Brotscheiben schwimmen obenauf. Sie seufzt:

»Lang nur zu, Jeanne! Auf einen mehr kommt's nicht an. Wir haben genug ...«

Marie beeilt sich, den Grund des Besuches zu erklären:

»Jeanne ist mit uns gekommen, Maman, weil wir nachher lernen wollen. Die Vauzous ist aufsässig gegen die Bernadette. Sie hat sie heute vor den Bänken stehn lassen ...«

Bernadette schaut ihre Mutter mit beinahe abwesenden Augen an:

»Ich habe aber auch wirklich nichts gewußt über die Heilige Dreifaltigkeit«, sagt sie gerecht.

»Du weißt von allem anderen ebensowenig, Bernadette«, bemerkt die Vorzugsschülerin grausam. Denn wenn ein Mensch aus Objektivität sich selbst entblößt, wird er geschlagen. »Mit dem Gegrüßt-seist-du allein wirst du nicht durchkommen ...«

»Soll ich das Gegrüßt-seist-du hersagen?« fragt Justin eifrig. Marie kommt ihrer Schwester zu Hilfe:

»Bernadette war doch viele Jahre in Bartrès ... Auf dem Dorf kann man nicht so viel lernen wie in der Stadt ...!«

Die Mutter hat vor Bernadette ein Glas Rotwein hingestellt. Es ist eine Bevorzugung der Kränkelnden, die widerspruchslos hingenommen wird. Heimlich hat sie übrigens drei Stücke Zucker in den Wein getan.

»Bernadette«, fragt sie jetzt, »möchtest du nicht für einige Zeit wieder nach Bartrès gehn, zu Madame Laguès? ... Mit Papa hab ich darüber schon gesprochen ...«

Bernadettes Augen leuchten auf, wie immer, wenn ein starkes Bild in ihr sich entfaltet.

»O ja, sehr gern möcht ich nach Bartrès gehn ...«

Marie schüttelt den Kopf, wird ganz böse:

»Ich versteh dich nicht, Bernadette. Es ist doch so fad auf dem Dorf. Immer nur den Schafen zuschaun, wie sie das Gras rupfen ...«

»Ich hab's gern«, erklärt Bernadette kurz.

»Wenn sie's doch gern hat«, wird sie von der Mutter unterstützt.

»Oh, du Faule«, ärgert sich Marie, »am liebsten würdest du den ganzen Tag im Winkel sitzen und in die Luft gucken. Schwer hat man's mit dir ...«

»Laß sie doch, Mädel«, sagt die Soubirous. »Sie ist nicht so kräftig wie du.«

Dagegen aber lehnt sich Bernadette gekränkt auf:

»Das ist nicht wahr, Maman, ich hab genau so viel Kraft wie Marie. Frag nur die Laguès! Wenn's sein muß, kann ich sogar auf dem Feld arbeiten ...«

Hier mischt sich Jeanne Abadie, den Löffel hinlegend, mit altkluger Gemessenheit ins Gespräch:

»Unmöglich, Madame! Bernadette ist doch die Älteste in der Klasse. Es ist die allerhöchste Zeit, daß sie den Leib des Herrn empfängt. Sonst bleibt sie eine Heidin und Sünderin und kommt nicht in den Himmel und vielleicht nicht einmal ins Fegefeuer ...«

»Gott sei uns gnädig«, ruft die Mutter erschrocken und schlägt die Hände zusammen.

In diesem Augenblick erwacht Soubirous. Ächzend sitzt er am Bettrand und blinzelt in die Stube:

»Das ist ja eine ganze Volksversammlung«, murmelt er und beginnt wild mit den Armen zu rudern:

»Verdammte Hundekälte das ...«

Schlaftrunken tappt er zur Feuerstelle und wirft ein paar Knüppel in die matte Flamme. Der Haufen mit dem Reisig und den trockenen Ästen ist bis auf einen kläglichen Rest zusammengeschmolzen. Der Hausvater erhebt eine düster tadelnde Stimme:

»Was soll das heißen? Kein Reisig mehr, kein Holz mehr? Man läßt es einfach ausgehn. Soll ich vielleicht nach alledem auch noch Dürrlinge suchen? Will man mir denn gar nichts abnehmen? ...«

»Wir gehn um Holz, um trocken Holz!«

Die Kinder rufen's alle freudig wie aus einem Munde. Besonders Jean Marie und Justin äußern stürmische Begeisterung.

»Ihr beiden bleibt schön zu Haus«, kanzelt sie die Soubirous ab. »Von euren Ausflügen hab ich genug für heut ... Marie und Jeanne können um Holz gehn ...«

»Und ich?« fragt Bernadette, wird rot, und ihr so ruhiges Gesicht zeigt das erstemal einen Anflug von Traurigkeit. Maman redet ihr Vernunft zu:

»Sei gescheit! Du bist die Älteste. Marie und Jeanne sind gesund und abgehärtet. Du aber bringst mir sicher einen Husten und Schnupfen heim. Und bei einem Husten und Schnupfen wird dein Asthma immer schlimmer. Erinnere dich nur, wie du dann leiden mußt ...«

»Aber Maman, ich bin doch viel abgehärteter als Jeanne und Marie. In Bartrès mußte ich den ganzen Tag draußen sein, bei Schnee und Regen und Gewitter. Und dort war ich wirklich am gesündesten ...«

Sie wendet sich an den Vater um Hilfe mit der lockenden Begründung:

»Drei können doch mehr tragen als zwei, nicht wahr ...«

»Deine Mutter soll bestimmen, ob du gehst oder bleibst«, sagt François Soubirous, der das vorteilhafte und angenehme Prinzip verfolgt, sich in Fragen der Kindererziehung nur im äußersten Notfall einzumischen oder festzulegen. Es hat geklopft. Madame Bouhouhorts, eine sehr magere, noch junge Frau, die nebenan wohnt, schlüpft herein. Sie ist erschöpft. Sie ringt nach Atem:

»Oh, meine liebe Soubirous, oh, meine gute Nachbarin«, klagt sie. Louise, die eben mit dem Geschirrwaschen beginnen wollte, läßt alles stehn und liegen:

»Mein Gott, was ist bei Euch los, Croisine?«

»Oh, der Kleine, oh, der arme Kleine ... Es ist derselbe Krampf wie vor drei Wochen ... Er verdreht die Augen und preßt die Fäustchen zusammen, ich weiß mir keinen Rat. Kommt doch, helft mir, um Christi willen ...«

»Das geht vorüber, liebe Bouhouhorts, wie schon so oft, nur Ruhe! Ich komme gleich mit Euch. Seht her, ich weiß selbst nicht, wo mir der Kopf steht mit meiner eigenen Gesellschaft ...«

Die beiden Jungen, zum Hausarrest verurteilt, haben ein unzufriedenes Kriegsgeschrei erhoben. Die Soubirous muß hart dreinfahren, um sie zum Schweigen zu bringen. Dabei hat sie aus Mitgefühl für Croisine Bouhouhorts Tränen in den Augen:

»Ich komme gleich, Nachbarin ... Also los, ihr Mädeln, schaut, daß ihr davonkommt!«

»Ich darf mitgehn, Maman, du erlaubst es?« strahlt Bernadette. Louise Soubirous greift sich an die Stirn:

»Ich arme Frau! Wie soll ich fertig werden mit all der Unvernunft? Oh, Bernadette, es wäre besser, du bliebst daheim ...«

Sie geht zum Schrank, holt ein paar Sachen heraus:

»Hier, die Wollstrümpfe zieh dir an! Nimm das dicke Halstuch! Und das Capulet, jawohl, das Capulet, und alles ohne Widerrede!«

Das Capulet ist ein Kapuzenmäntelchen, das über Kopf und Schultern gezogen wird und bis zu den Knien herabreicht. Die einfachen Frauen von Lourdes tragen's. Doch mehr noch die Bauernmädchen in Bartrès, in Omex, im Tal von Batsuguère und im ganzen Lande Bigorre. Scharlachrot sind die Capulets oder weiß. Bernadettens Capulet ist weiß. Unter der spitzen Kapuze verschwindet ihr Gesichtchen in einem bläulichen Schatten.


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