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Zweite Reihe
Wollen Sie mir die Güte erweisen

Kapitel Elf. Ein Stein saust nieder

In der Schule der Schwestern von Nevers gibt es eine Gruppe von sieben, acht Mädchen, die der klugen und tatkräftigen Jeanne Abadie sehr ergeben, ja beinahe untertan sind. Zu dieser Gruppe gehört Annette, die rothaarige Tochter des Sekretärs Courrèges von der Mairie, ferner Cathérine Mengot, die Hyacinthe de Lafite die »Nymphe dieses Drecknestes« genannt hat, und schließlich Madeleine Hillot, ein blasses Kind mit Sommersprossen und langen Gliedern, das eine dünne, aber sehr schöne Stimme besitzt und daher bei allen möglichen weltlichen und kirchlichen Veranstaltungen zum Sologesang herangezogen wird. Die Abadie ist heute als erste in dem großen Schulraum erschienen. Als sie ihre Schar um sich versammelt hat, zwinkert sie:

»Wenn ihr wüßtet, meine Lieben, was sich gestern ereignet hat, ihr würdet staunen ... Ich darf aber nichts reden ...«

»Warum machst du uns denn den Mund wäßrig?« meint die realistische Cathérine. »Vielleicht hat dich gar einer angesprochen?«

»Es handelt sich nicht um mich, sondern um Bernadette Soubirous ...«

»Was kann schon mit der Bernadette viel los sein, diesem faden Huhn«, zuckt Cathérine die Achseln.

Jeanne Abadie spannt die Neugier ihrer Freundinnen auf die Folter:

»Ich hab der Bernadette mein Wort gegeben. Aber geschworen hab ich nicht. So gescheit war ich schon ...«

»Ja, wenn du nicht geschworen hast ...«, gibt ihr Annette Courrèges zu verstehen.

»Ja, wenn du nicht geschworen hast ...«, fällt der ganze Chor ein, die Melodie dieses Satzes steigernd.

»Ja, wenn du nicht geschworen hast ...«, entscheidet Madeleine Hillot, »dann begehst du keine Sünde ...«

Die Abadie senkt ihre Stimme zu einem scharfen Geflüster:

»Also kommt näher, damit die andern nichts hören ... Die Bernadette hat gestern in der Höhle Massabielle eine schöne junge Dame gesehn, ganz in Weiß, mit einem himmelblauen Gürtel. Und nackte Füße hat die Dame gehabt mit goldenen Rosen drauf ... Wir haben Reisig geholt, die Marie Soubirous und ich, und als wir zurückgekommen sind, kniet die Bernadette am Bach und hört uns nicht und hat ganz sonderbar ausgeschaut ...«

»Und ihr habt die Dame nicht gesehn?« fragen alle durcheinander.

»Die Marie und ich haben ja gar nicht gewußt, daß sie da ist, als wir das Dürrholz gesammelt haben ...«

»Goldne Rosen auf den Füßen ... so etwas! ... wer kann das sein, diese junge Dame?«

»Wenn ich das selbst wüßte, Heilige Jungfrau! Ich hab mir doch die halbe Nacht den Kopf zerbrochen darüber ...«

»Vielleicht hat dich die Bernadette angeschwindelt, Jeanne«, erwägt Cathérine Mengot. Die rothaarige Tochter des Stadtsekretärs aber macht eine wegwerfende Geste:

»Ah bah, die Bernadette ist zu dumm zum Lügen und Schwindeln ...«

»Nein, die Bernadette lügt nicht«, erklärt die Abadie nachdenklich, »wir müssen der Sache genauer nachgehn ...«

Sensationslüstern sind die Mädchen mit diesem Vorschlag einverstanden. Allzusammen will man sich nach Massabielle begeben und dort die sonderbare junge Dame mit den nackten Füßen ausfindig machen.

»Wird die Dame aber da sein, wenn wir kommen?« fragt Toinette Gazalas, die Tochter des Wachsziehers.

»Wenn die Bernadette etwas sieht, so müssen wir's doch ebenso sehn«, urteilt Cathérine Mengot, »wir haben ja keine schlechtern Augen als sie ...«

Jeanne Abadie spekuliert eine Weile:

»Sie muß aber mit uns kommen«, sagt sie dann, »denn wenn wir ohne sie sind, da könnte die Dame vielleicht wegbleiben ...«

Als Bernadette mit Marie, ziemlich spät an diesem Tag, den Schulraum betritt, wird sie von Jeannes Anhängerinnen umringt und bestürmt.

»Also was ist's mit dieser Dame? ... Erzähl, beschreib sie genau ... Wo ist sie gestanden? ... Wie hast du sie bemerkt? ... Hat sie dich angerufen? ... Hat sie sich bewegt? ...« Bernadette sucht die Augen der Abadie:

»Oh, warum hast du's verraten, Jeanne?«

Aber es ist wiederum eher eine Erleichterung in ihrer Frage als ein Vorwurf. Nun wissen schon recht viele Menschen von der Dame, die ihr doch allein angehört: Marie, Jeanne, die Eltern, Onkel und Tante Sajou, Madame Bouhouhorts, Onkel Bouriette und jetzt diese ganze Bande, die so neugierig darüber schwatzt, als sei die Dame die alltäglichste Dame der Welt. Wie von Anbeginn an, so wird Bernadette auch jetzt von einem zweischneidigen Gefühl beherrscht. Sie möchte ihre Dame ganz nur für sich haben, nun und immer, bis zum letzten Atemzug, das herzberauschende Geheimnis mit niemandem teilend. Und sie möchte ebenso dieses Geheimnis jedem zuschrein, den sie kennt, alle Menschen vor das Antlitz der Lieblichen bringen, damit sie sich am Anblick nicht minder weiden als sie selbst. Vielleicht ist sogar dieser zweite Wunsch noch stärker als der erste, ihm entgegengesetzte.

»Ich hab's verraten«, rechtfertigt sich die Abadie, »weil ich dir nichts geschworen hab und weil's wichtig ist. Wir wollen nämlich alle nach Massabielle gehen und uns die Dame anschaun ...«

»Glaubst du, daß wir sie auch sehn werden?« erkundigt sich Madeleine Hillot.

»Wahrscheinlich werdet ihr sie sehn«, entgegnet Bernadette. »Genau kann ich's nicht wissen.«

»Maman will aber nicht, daß Bernadette noch einmal nach Massabielle geht«, wendet Marie ängstlich ein. »Sie hat uns geschlagen. Und Papa war schrecklich streng und hat gesagt, wenn die Bernadette Damen sieht, so soll sie mit den Seiltänzern, Marktgauklern und Zigeunern herumziehen ...«

Die Abadie mustert Bernadette scharf:

»Du wirst aber doch nach Massabielle gehn, nicht wahr?«

Bernadette senkt ein wenig den Kopf und antwortet nicht.

»Hat die Dame zu dir gesprochen?« fragt Cathérine Mengot.

Bernadette hebt ihren Blick nicht:

»Nein, gesprochen hat sie kein Wort ... Aber sie ist das Aller-allerschönste, was es gibt ...«

»Wenn sie so schön ist«, zweifelt Madeleine Hillot, die blasse Vorsängerin, »dann ist sie vielleicht gar nichts sehr Gutes ...«

»Das hab ich mir auch überlegt heut nacht«, erklärt die umsichtige Abadie. »Es kann sehr wohl sein, daß die Dame etwas Böses ist. Und da hab ich mir ausgedacht, daß wir Sonntag nach dem Hochamt ein Fläschchen mit Weihwasser aus der Kirche mitnehmen. Und wenn die Dame in der Höhle ist, soll sie Bernadette besprengen und zu ihr sagen: Sind Sie von Gott, Madame, so treten Sie näher. Sind Sie aber vom Teufel, Madame, so heben Sie sich hinweg ... Das macht man so ... Ich glaube, es ist ein vernünftiger Vorschlag, und wir werden so die Wahrheit herausbringen ...«

»Huh, mir wird ganz kalt«, sagt Annette Courrèges. »Vielleicht aber ist die Dame gar nichts Böses oder Gutes, sondern halt eine wirkliche Dame ...«

»Oh, sie ist ganz wirklich«, bekräftigt Bernadette mit großer Leidenschaft.

»Da ist der Ententeich beisammen«, ertönt die Stimme der Lehrerin, die unversehens herangetreten ist. »Und alle lauschen der Weisheit unserer hochgelehrten Bernadette ...«

 

Sonntag. Die flachtönigen Glocken der Kleinstadt haben schon die Wandlung über die Dächer und Hügel ausgeläutet. Das Hochamt geht seinem Ende zu. Bernadette und Marie Soubirous wohnen unter Führung der Vauzous mit der ganzen Katechismusklasse dem Gottesdienste bei. François Soubirous hat bis Mittag Dienst in den Stallungen von Cazenave. Jean Marie und Justin haben sich Straßenurlaub erbettelt, Louise Soubirous sitzt allein im Cachot, endlich einmal müßig, das heißt: mit ihrem Strickstrumpf beschäftigt. Sie hat die Messe um sieben Uhr früh gehört, denn sie liebt es nicht, beim Hochamt anwesend zu sein, wo die Leute erscheinen, die in »besseren Verhältnissen« leben, wohlgekleidet und gut ausgeruht. Sie selbst hat nichts anzuziehen, gehört deshalb zur untersten Klasse und in die dunkle Morgenkirche, wo einer der Kapläne, Pomian, Pènes oder Sempet, die stille Messe zelebriert. Es ist eine ausgesprochene Entsagung, die Louise Soubirous übt, denn das Hochamt ist nicht nur ein Gottesdienst, sondern die köstliche Darbietung der Kleinstadt nach dem zermürbenden Einerlei der Woche. Man wärmt sich am Orgelbraus, an diesem wogenden Kaminfeuer der Seele. Man sieht und grüßt und nickt. Und Pfarrer Peyramale ist ein gewaltiger Priester, und seine prachtvoll rauhe Stimme dringt einem ins Herz, wenn er nach dem Evangelium das Wort an die Gläubigen richtet. Auf dieses Hochamt verzichtet die Soubirous hauptsächlich deshalb, weil sie ihren vermögenden Schwestern in der Kirche nicht begegnen will. Bernarde Casterot, verwitwete Tarbès, das Orakel der Familie, und Lucille, das kümmerliche alte Mädchen, haben nämlich beide etwas anzuziehen. Louise ist aber viel zu stolz, um neben den beiden Glücklicheren als schwarzes Schaf der Familie aufzutreten, als eine Casterot, die schandbarerweise ein ungünstiges Lebenslos gezogen hat. Sie hegt für Bernarde, ihre älteste Schwester, einen ehrerbietenden Respekt und zugleich einen stets gereizten Unmut gegen sie.

Heute aber, an diesem gesegneten Vormittag, fühlt sie sich sehr zufrieden in ihrer Einsamkeit, nicht belästigt durch ihre Söhne, nicht geärgert durch ihre Töchter, nicht besorgt um ihren Mann, der diesmal weder bei Babou noch in einer andern Schenke herumsitzt, sondern als ein »Postbeamter«, wie er sich selbst bezeichnet, eine ehrliche Beschäftigung ausübt. Cazenave hat zehn Franken als Anzahlung gegeben. Die dringendsten Schulden sind beglichen. Nach langen Wochen der Entbehrung hat man endlich wieder einmal ein Stück Fleisch im Hause. Ein »Pot au feu« mit feinen Gemüsen und kleinen Zwiebelchen sendet schon seine ersten Düfte in den Raum.

Auch die Seele der Soubirous lebt seit gestern in beschaulichem Frieden, seitdem sie im Beichtstuhl den Père Sempet zu Rate gezogen hat. Offen gestanden, sie war recht unruhig wegen der Sache mit Bernadette und jener Dame. Was hat man von solchen ausgefallenen Dingen zu halten? Père Sempet aber, ein überlegener Mann, der Bernadette gar nicht kennt, lächelte gütig und sprach: »Meine liebe Tochter, das sind harmlose Kindereien, mit denen sich ein erwachsener Mensch gar nicht beschäftigen soll.« Damit ist die Angelegenheit für die Soubirous erledigt. Sie erschrickt aber trotzdem nicht wenig, als eine halbe Stunde später die Töchter inmitten einer ganzen Bande von Schulmädchen im Cachot auftauchen und von ihr die Erlaubnis erbitten, daß Bernadette alle miteinander zu der wunderschönen Dame nach Massabielle führen dürfe.

»Seid ihr verrückt geworden?« ruft Maman in jähem Ärger. »Bernadette bleibt schön zu Hause ...«

»Aber liebe Madame«, knickst Jeanne Abadie, als Vernunft in Person, »wir wollen uns doch nur überzeugen, ob etwas an dieser ganzen Dame daran ist ...«

Bei diesen Worten hat die Soubirous einen recht gescheiten Einfall. Die Sache ist nach dem Ausspruch des Priesters eine Kinderei, mit der ein erwachsener Mensch sich gar nicht abgeben soll. In der Grotte wird diese ganze grüne Gesellschaft gar nichts sehn und die Bernadette tüchtig auslachen. Diese wird sich dann schämen und gründlich geheilt sein. Die Mutter will ihr Verbot aber nicht so schnell zurücknehmen und läßt sich deshalb noch eine Weile bitten. Dann aber führt sie, wie es ihre erprobte Erziehungsmethode ist, die vorgeschützte Autorität des Hausvaters ins Treffen:

»Wenn ihr keine besseren Narrheiten am Sonntag vorhabt, so geht meinetwegen alle nach Massabielle, das heißt, wenn Papa es erlaubt. Ihn muß Bernadette fragen. Ich bin nur die Mutter. Vom Vater hängt alles ab ...«

Die Gesellschaft stürmt nun, um keine Zeit zu verlieren, im Laufschritt zum Posthof. So manches ehrbar wandelnde Sonntagspaar blickt sich erstaunt nach der Mädchenhorde um, die einem ausgelassenen Vergnügen zuzustreben scheint. Im großen Hof der Postmeisterei stehn einige Männer um einen Gaul, der traurig den Kopf hängen läßt. Diese Männer sind Cazenave, wie immer in Reitstiefeln und mit der Schirmmütze auf dem Kopf, Doutreloux, der zum Wagenlenker avancierte Stallknecht, der Kurschmied und schließlich Soubirous, der das Pferd am Halfter vorgeführt hat. Der Kurschmied tastet den Rücken der Mähre ab, findet einen leichten Kummetdruck und will gerade den Salbentiegel aus seiner Ledertasche hervorholen, als die Mädchen eindringen. Mit den Soubirous-Kindern sind's neun an der Zahl. Die Abadie bringt das allgemeine Anliegen in wohlgesetzter Rede an den Mann, wobei sie Cazenave, Doutreloux und den Kurschmied, die ja nichts wissen, von der zu ergründenden Merkwürdigkeit in Kenntnis setzt. Soubirous möchte ihr am liebsten den Mund zuhalten. Ein dumpfes, zorniges Unbehagen steigt ihm in die Kehle. Er fühlt sich durch Bernadettens Dame vor Cazenave und den andern Männern aufs peinlichste blamiert. Nun hat er einen Posten und einen festen Verdienst und hat sich nach dem Sturz in die Arbeitslosigkeit auf die erste Sprosse der bürgerlichen Stufenleiter wieder aufgeschwungen; da aber kommt sein eignes Kind, um durch unregelmäßige, zweideutige, aufreizende Dummheiten sein frisch erworbenes Ansehen als Biedermann unter Biedermännern zunichte zu machen. Ohne die andern Mädchen zu beachten, knurrt er die Tochter mit gerunzelter Stirn an:

»Was habt ihr hier zu suchen? Nach Hause mit euch beiden! Nichts mehr mag ich hören von der Sache!«

»Aber, aber, mon vieux«, lacht Cazenave, »warum willst du den lieben Dingern ihren Sonntagsspaß verderben? Was ist dabei? Kinder sind Kinder; laß sie doch ihre Dame suchen, wo sie wollen ...«

Jeanne und ihre Gefährtinnen erneuern im Chor die Bitte. Nur Bernadette schweigt.

»Was hat deine Dame in der Hand gehalten?« fragt Cazenave. »Einen Rosenkranz, heh?«

»Ja, Herr, einen Rosenkranz, einen sehr langen mit großen, weißen Perlen ...«

»Nun, da siehst du's, Soubirous«, amüsiert sich der Postmeister. »Wenn die Dame einen Rosenkranz bei sich hat, wie alle andern Damen von Lourdes, dann kannst du dein Töchterchen ruhig mit ihr verkehren lassen ...«

Der Intervention eines Brotherrn muß man sich beugen. Da hilft nichts.

»Aber in einer halben Stunde habt ihr zurück zu sein«, gebietet der Vater.

»Das ist doch ganz unmöglich, Monsieur Soubirous«, erklärt die Abadie. »Es ist ein langer Weg ...«

Der völlig geschlagene und zum Rückzug gezwungene Hausvater brummt:

»Mit dem Mittagessen wird nicht gewartet ...«

Die Mädchen plättern auf und davon wie ein Strich Rebhühner im Feld. Der Kurschmied beschmiert die wunde Stelle auf dem Pferderücken mit schwarzer Salbe. Wenige Minuten später führt Soubirous den kranken Gaul in seinen Stall zurück. Während er ihm frisches Stroh aufschüttet, bemerkt er zu seinem eigenen Erstaunen, daß er Tränen in den Augen hat. Er weiß selbst nicht, ob er über seine eigene Niederlage als Vater weint oder über ein heraufziehendes Unheil, das er in der dumpfen Brust spürt.

 

Auf dem Pont Vieux kommt es zu einem heftigen Streit zwischen den Mädchen. Jeanne Abadie will den kürzeren Weg über die Chalet-Insel nehmen, um dann über den Mühlsteg der Nicolaus aufs andere Ufer des Savy-Bachs zu gelangen.

»Es hat seit zwei Tagen ununterbrochen geschneit und geregnet«, meint Bernadette. »Da wird die Schleuse offen sein und der Steg unter Wasser. Wir müssen über den Berg ...«

»Aha«, spottet die Abadie. »Das Ei ist wieder einmal klüger als die Henne ... Ich glaub, auf mich kannst du dich verlassen ...«

Bernadette bleibt fest. Es bilden sich zwei Parteien. Selbstverständlich stößt die Mehrheit zur Abadie, dem Oberhaupt des Bundes. Auf Seiten Bernadettens verharren nur Marie, Madeleine Hillot und Toinette Gazalas. Hinter der Brücke trennen sich die Wege und die Parteien.

»Wir werden ja sehen, wer früher da ist«, ruft die ehrgeizige und siegesbewußte Jeanne dem feindlichen Häuflein zu. Bernadette fliegt voran, so daß ihr die andern kaum folgen können. Ein Wirbelwind scheint sie Massabielle entgegenzutragen. Jeder schnelle Lauf bedroht sie sonst mit Atemnot. Heute aber weiß sie nicht, daß sie je an Asthma gelitten hat. Marie will sie zurückhalten. Sie hört nichts. Keinen Augenblick zweifelt sie daran, daß die Dame ihrer wartet, mit den blassen, nackten Füßen am Rande der Felsnische stehend. Vielleicht ist sie schon ungeduldig, weil Bernadette so lange säumt. Vielleicht auch leidet sie unter der feuchten Kälte. Nebeldämpfe wälzen sich durch die Täler. Bernadette umhegt das körperliche und seelische Wohlbefinden der Dame mit eifersüchtigst sorgenden Gedanken. Der Gefährtinnen denkt sie kaum. Es ist ihr nicht wichtig, ob die Allerlieblichste den Mädchen erlauben wird, sie anzuschaun oder nicht. Bernadette hat nicht den geringsten Wunsch, irgend jemanden von der Wirklichkeit ihrer Dame zu überzeugen. Für sie gibt es nichts Wirklicheres. Die Mädchen keuchen und rufen hinter ihr drein. Sie aber ist so bedingungslos einsam, wie nur einer einsam ist, den eine übermächtige Liebe bis zum Rande erfüllt. Nun eilt sie über den Knüppelpfad des Spelunkenberges dahin. Die halsbrecherische Stelle kommt, die am oberen Rande der Grotte entlang führt. Mit halb geschlossenem Auge springt, ja schwebt Bernadette von Stein zu Stein. Noch ein Schwung, und sie ist unten. Mitten im Geröll des Grottenbodens macht sie eine kleine Pause, atmet tief, preßt die Hand aufs Herz, sammelt sich. Dann hebt sie die Augen zur Nische auf ...

Die drei Mädchen, die mühsam das letzte steile Wegstück hinabklettern, hören ihren Aufschrei:

»Sie ist da ... Ja, sie ist da ...«

Sie finden Bernadette, wie sie mit zurückgeworfenem Kopf und weit aufgerissenen Augen in das ovale leere Fenster starrt und immer wieder flüstert:

»Sie ist da ... Sie ist da ... Sie ist da ...«

Die Mädchen drängen sich dicht an Bernadette und flüstern nun auch aus verengten Kehlen:

»Wo ist sie ... Wo siehst du sie ...?«

»Dort oben, sie ist gekommen ... Seht ihr nicht, wie sie grüßt?«

Bernadette macht einige ihrer eifrig scheuen Schulmädchenkomplimente.

»Ich seh dort oben nur das schwarze Loch«, sagt die Gazalas. »Dahinter ist ein großer Stein. Da kann doch niemand heraustreten ...«

»Ich seh überhaupt gar nichts«, zwinkert Marie angestrengt.

»Sie sieht euch, sie sieht euch«, flüstert Bernadette. »Sie hat genickt und euch begrüßt. Ihr müßt auch grüßen ...«

»Sollen wir nicht näher kommen?« zischt Marie.

Bernadette breitet entsetzt die Arme aus:

»Nein, nein, um Gottes willen nicht näher kommen, keinen Schritt!«

Allzu nah fühlt sich die Beglückte der Beglückenden, ganz anders als das erste Mal. Damals war zwischen ihnen ein weiter Abstand, die ganze Breite des Bachs. Die Dame mußte in wellenhaften Annäherungen der Erkorenen ihr Antlitz darbieten, darbringen. Heute ist sie zum Greifen nahe. Bernadette müßte nur auf einen der Blöcke unter der Felswand sich schwingen und die Arme ausstrecken, dann könnte sie fast die bloßen Füße mit den goldenen Rosen berühren. Sie bleibt aber angewurzelt stehn, um durch ihre, wie sie es fühlt, plumpe und gewöhnliche Gegenwart der Dame nicht lästig zu werden. Diese hat zur großen Befriedigung des Mädchens ihr Kleid nicht gewechselt, obwohl der Vornehmen gewiß eine unerschöpfliche Garderobe zur Verfügung steht. In weichen Falten schmiegt sich der schneeweiß unbekannte Samt um die zierlichen Glieder. Der durchsichtige Schleiermantel fällt über die Schultern herab. Es ist herzerquickend zu sehn, daß der leichte Wind dieses Tages mit ihm spielt. Die Dame scheint eine ewige Braut zu sein und immer vor dem Traualtar, da sie den Schleiermantel nicht ablegt. Merkwürdig aber ist es, daß sie mitten in ihrem Glanz nicht die geringste Verstimmung zu erkennen gibt, weil Bernadette sie nicht allein aufgesucht hat, sondern in Begleitung dieser albern wispernden Mädchen. Es macht sogar den Eindruck, als fände sie es von ihr recht lobenswert, nicht den Mund gehalten zu haben. Sie nimmt jedenfalls keinen Anstoß an der Gesellschaft, in der sie sich findet, und wirft der Marie und der Madeleine und der Toinette dann und wann einen ermunternd freundlichen Blick zu. Bernadette hört hinter sich das Geflüster der Hillot:

»Jetzt nimm das da und spritz sie an und sag zu ihr, was wir besprochen haben ...«

Bernadette hält das Fläschchen mit dem Weihwasser in der Hand, das Madeleine Hillot aus dem Becken in der Kirche gefüllt hat. Mehr aus einer Schwäche den Mädchen gegenüber als aus eigenem Antrieb tut sie das, was man verabredet hat. Sie spritzt ein bißchen von dem Weihwasser ungenau in die Höhe zur Nische empor und dann leiert sie zaghaft:

»Wenn Sie aus Gott sind, Madame, so kommen Sie bitte näher ...«

Erschrocken bricht Bernadette ab. Nie könnte sie den häßlichen Satz mit »Teufel« und »heben Sie sich weg« beenden. Die Dame aber würde vermutlich auch ihn nicht übelnehmen. Sie scheint über die Beschwörungsformel recht erheitert zu sein, denn ihr Lächeln ist fast schon ein herzinniges Lachen. Und jetzt gehorcht sie. Und jetzt tritt sie über die Maßen weit aus dem Felsoval mit ihren so ungebrauchten Füßen. Jedes schwerere Geschöpf müßte das Gleichgewicht verlieren. Sie aber streckt mit einer umarmenden Gebärde die Hände aus. Bernadette spürt, daß es wieder über sie kommt, dieses schrecklich süße Wohlsein, diese Schläfrigkeit ohne Grenzen, aus der das Erwachen ein Erwachen in die grauenhafteste Fremde ist. Sie fürchtet sich vor diesem Erwachen, ehe sie stumm in die Knie bricht.

In diesem Augenblick erscheint Jeanne Abadie mit ihren fünf Freundinnen oben auf dem Weg am scharfen Rande der Grotte. An einem Strauch sich festklammernd, beugt sie sich hinab, um zu sehen, ob die Gegenpartei schon am Werke sei. Jeanne hat diesmal Pech gehabt. Der Mühlsteg war, nach Bernadettens Voraussage, wirklich unpassierbar. Die Gruppe mußte umkehren und den Spuren der Klügeren folgen. Die Abadie ist wütend, daß Bernadette recht behalten hat. Sie ist zwar eine Freundin der Soubirous-Tochter, aber immer nur unter der Bedingung, daß sie als eine Gescheite auf eine Dumme, als eine Geschickte auf eine Ungeschickte, als eine Welterfahrene auf eine Hilflose herabblicken und sich ihrer erbarmen könne. Seit Donnerstag jedoch hat sich dieses Verhältnis um und um gekehrt. Bernadette ist ihr entglitten. Jeannes hochfahrender Wille kann sie nicht mehr erreichen. Und jetzt hört man noch die zuckrige Vorsängerinnenstimme der Hillot, die ein Ave nach dem andern plärrt, wahrscheinlich auf Bernadettens Befehl. Da bemächtigt sich der Abadie ein Zustand der Rachsucht und Verzweiflung, der ihr selbst völlig unbekannt ist. Sie weiß nicht mehr, was sie tut.

»Ihr sollt aber erschrecken«, kreischt sie, packt einen runden Stein von der Größe und Form eines Menschenschädels und schleudert ihn in die Tiefe. Der Stein schlägt haardicht neben der knienden Bernadette ins Geröll. Die Mädchen unten schrein auf. Nur Bernadette bleibt regungslos, als habe sie nichts bemerkt.

»Hat's dich getroffen, bist du heil?« jammert Marie und rüttelt die Kniende, die keine Antwort gibt. Jetzt erst, da sie aufspringen und sie von vorne sehn, erkennen die Mädchen, daß Bernadette Soubirous' Gesicht nicht mehr das Gesicht von Bernadette Soubirous ist. Die rundliche Form ist zwar dieselbe, die glatte Stirn, der weiche, halb geöffnete Mund, und doch ein überaus fremdes Wesen und nicht die Schwester Maries starrt aus unersättlichen Augen zur Nische empor. Diese Augen haben den Lidschlag vergessen, um das Bild, das sie erblicken, auch nicht für das geringste Zeitteilchen zu verfinstern. Die Pupillen sind vergrößert und noch dunkler als sonst, das Weiß des Auges glänzender. Die Gesichtshaut ist sehr scharf gespannt, so daß die Knochen der Backen und Schläfen stark hervortreten. Es ist nicht das Gesicht eines Kindes mehr und auch nicht das einer jungen Frau, sondern das Antlitz einer seligen Dulderin, das alle Leiden der Welt in sich vereinigt, ehe es auslöscht. Dabei ist der Ausdruck selbst nicht leidend, sondern hingegeben und überlegen zugleich. Was aber Marie am heftigsten erschreckt, das ist wiederum diese Leichenfarbe des Gesichts, das alles Blut verloren, dafür aber eine entsetzlich neue Schönheit gewonnen hat.

»Der Stein hat meine Schwester getötet«, gellt Marie der Jeanne entgegen, die mit ihrer Schar jetzt herabjagt. Man drängt sich klagend um die Bewegungslose, bildet aber einen ziemlich weiten Kreis, denn niemand wagt es, sie anzurühren.

»Es ist ihr nichts geschehn«, stößt die erbleichende Abadie hervor. »Die Dame ist schuld. Bringt Wasser her, dann kommt sie gleich zu sich ...«

Trotz der Besprengung mit dem Savy-Wasser aber weicht die Entrückung nicht von Bernadette. Nun verlieren die Mädchen den Kopf. Sie laufen durcheinander und schreien wie besessen. Marie heult: »Maman, Maman« und stürzt davon, die Mutter zu verständigen. Jeanne Abadie und Cathérine Mengot rennen zur Savy-Mühle, um von dort Hilfe zu holen. Die andern reden auf Bernadette ein, ohne sich allzusehr zu nähern. Sie haben Furcht vor ihr und ihrem Zustand. Zwei schwer beladene Bäuerinnen aus Aspin-les-Angles kommen des Weges, gesellen sich kopfschüttelnd zu und vernehmen aus abgerissenen Interjektionen die Geschichte von Bernadette und der Dame. Oh, wer kann diese Dame sein? Aus großen, ernsten Augen sehen sich die Bäuerinnen an.

Endlich, endlich kommen Mutter Nicolau und Antoine, der Müller. Die Frau, die von einer Ohnmächtigen gehört hat, bringt gehackte Zwiebeln mit, die sie der Bernadette unter die Nase hält. Das Mädchen aber wendet nur den Kopf ein wenig zur Seite, ohne den Blickpunkt der Augen zu verändern. Antoine beugt sich nun seinerseits über die Kniende, die ins Gebet versunken ist, wie es ihm scheint:

»Komm, Bernadette«, lockt er mit zärtlicher Stimme. »Es ist genug, gehn wir nach Hause!«

Da er keine Antwort erhält, versucht er die Augen des Mädchens mit seiner großen Hand zu verdecken. Aber eher kann eine ungeschlachte Arbeiterhand ein Lampenlicht verdecken als diese kristallenen Augen, die ungehindert weiter schaun. Kurz entschlossen hebt Antoine Nicolau die Bernadette hoch und trägt sie in seinen Armen zur Mühle. Während des ganzen Weges verliert sie ihr starres Lächeln nicht, mit dem sie durch des Müllers gutes Gesicht hindurch der Dame verbunden bleibt.

Nicolau, mit der Bernadette in seinen Armen, dahinter die aufgeregten Schulmädchen, die Bäuerinnen mit ihren Lasten, die alte Müllerin, die atemlos nachtrippelt, dieser sonderbare Zug genügt, um die Leute, die in der Gegend ihren Sonntagsspaziergang machen, von allen Seiten anzulocken. Ehe man noch die Savy-Mühle erreicht hat, ist ein ganz hübscher Volksauflauf beisammen. Man fragt, man hört, man staunt, man diskutiert. Einige lachen. Rasch bildet sich das Urteil: die kleine Soubirous hat den Verstand verloren. Antoine hat Bernadette in den großen Lehnstuhl gesetzt, der dicht ans Feuer gerückt ist. Die Wohnstube ist voll von fremden Leuten. Mutter Nicolau bringt einen Holzbecher voll Milch, um die vermutlich Ohnmächtige zu laben. Der Zustand Bernadettens aber hat gar nichts mit einer Ohnmacht zu tun. Ihr Bewußtsein ist nicht erloschen, sondern in einer übermenschlichen Sammlung auf die Schönheit der Dame gerichtet, so daß es alles andere nur wahrnimmt wie ein entferntes und äußerst gleichgültiges Rauschen.

Die Entrückung zerrinnt nicht allmählich, sondern mit einem Schlag. Es ist so, als würde das erhabene Frauenantlitz, das alle Leiden der Welt einschließt, von einem raschen, unsichtbaren Feuer weggezehrt werden, und nun ist wieder das gewohnte Kindergesicht Bernadettens da, unwissend, ein wenig stumpf und mit apathischen Augen.

»Ich danke sehr, Madame«, sagt Bernadette ruhig, die Milch Frau Nicolaus ablehnend. »Ich brauche nichts ...«

Nun wird sie mit Fragen bestürmt:

»Was war mit dir? ... Was ist vorgegangen? ... Was hast du gesehn?«

»Oh, nichts«, erwidert Bernadette ziemlich gleichmütig. »Nur die Dame war lange da ...«

Dieses »Oh, nichts« und »nur« verrät eine Entwicklung, die zwischen Bernadette und der Dame sich vollzogen hat. Die Beziehung ist nun intim und gewissermaßen schon alt. Der erste Rausch der verwunderten Hingerissenheit ist abgelöst vom Drang zu stetiger Hingabe. Die Dame bedeutet für Bernadette kein einmaliges Wunder mehr, das in nichts zergeht, sondern einen ständigen Besitz. Sie sieht die Leute an, läßt sie reden und fragen, öffnet kaum den Mund. Antoine, der seinen Blick von ihrem Gesicht nicht abkehrt, kommt ihr zu Hilfe:

»Seht ihr nicht, wie müde sie ist? Laßt sie doch endlich in Ruhe!«

Bernadette aber ist gar nicht müde. Den Grund ihres Schweigens bildet das wachsende Schuldgefühl, das sie bedrängt. Es gilt ihren Eltern. Verrät sie ihre Eltern nicht, da sie nur mehr die Dame liebt? Und was wird die Mutter sagen zu ihrem Benehmen?

Mutter Soubirous und Marie laufen, was sie die Beine tragen können, den langen Weg vom Cachot nach Massabielle. Doch schon vor dem Sägewerk begegnen sie der Piguno. Die Piguno weiß alles. Bernadette befindet sich in der Savy-Mühle, heil und gesund. Was für ein Mädel! Nachdem sie in der schmutzigen Höhle irgendeine hübsche, aber unsichtbare Dame angebetet hat, läßt sie sich von Antoine, der ebenfalls ein hübscher Bursch ist, davontragen, ohne auch nur zu mucksen.

»Beruhige dich, liebe Cousine«, schließt die Piguno ihren erfreulichen Bericht. »Kein Mensch kann etwas für seine Kinder ...«

Das Gesicht der Soubirous verzerrt sich. Sie hat den wirren Reden Maries entnommen, daß Bernadette tot oder zumindest in Todesgefahr sei. Jetzt hört sie von der schandbaren Aufführung ihrer Ältesten. Und dafür hat sie den Pot au feu, das erste inhaltsreiche Mittagessen seit undenkbarer Zeit, verkochen und verkommen lassen. Und dafür muß ihr armer Soubirous, vom schweren Dienste heimkehrend, angstvolle Minuten durchleben und sich mit einem Stück Brot begnügen.

»Warte nur, dir werd ich's zeigen«, stöhnt sie und beschleunigt ihren Lauf.

Die vielen Leute, die vor der Savy-Mühle herumstehn, machen sie schamrot. Und als sie dann Bernadette in der Wohnstube sieht, wie die auf dem Lehnstuhl thront, gleich einer Prinzessin, und alle scheinen sich um ihre Gunst zu bemühn, da kann sie nicht an sich halten und fährt die Tochter mit keifenden Lauten an:

»Du bringst ja alle Welt auf die Beine, du Närrin!«

»Ich habe niemandem gesagt, daß er mitkommen soll«, verteidigt sich Bernadette der Wahrheit gemäß.

Das ist eine jener Antworten, so recht dazu geschaffen, Lehrerin oder Mutter zu erbittern:

»Lächerlich machst du uns vor der ganzen Welt«, schreit die Soubirous und holt zu einer saftigen Ohrfeige aus. Mutter Nicolau fällt ihr in den Arm:

»Warum, um Christi willen, wollt Ihr das Kind schlagen«, ruft sie. »Es ist doch wahrhaftigen Gottes ein Engel, da seht nur ...«

»Ein Engel, welch ein Engel«, knirscht die Soubirous.

»Ihr habt sie nicht gesehn vorhin«, mischt sich Antoine ein.

»Da war sie schon so, so wie ...«

Und weil der rechte Vergleich für die Schönheit der entrückten Bernadette seinem ungelenken Verstand nicht einfällt, wählt er ein mißverständliches Wort, das in der plötzlichen Stille schweben bleibt:

»... da war sie so wie eine Tote ...«

Louise Soubirous, eine schwanke Seele, stets von entgegengesetzten Gefühlen hin und her gerissen, wird von diesem Wort ins Herz getroffen. Sie ist ja nicht hierher gekommen, um ihre Tochter zu züchtigen, sondern aus Angst um ihr Leben. Diese Angst überwältigt sie wieder. Sie fällt auf eine Bank und weint:

»Du guter Gott, laß mir doch mein Kind ...«

Bernadette erhebt sich, tritt ganz ruhig auf ihre Mutter zu und tippt sie auf den Arm:

»Komm, Maman ... Vielleicht sind wir noch vor Papa zu Hause ...«

Jetzt aber ist für Louise der gute Soubirous und sein Mittagessen ganz gleichgültig geworden.

»Ich rühr mich nicht vom Fleck hier«, flennt sie verstockt, »wenn mir Bernadette nicht vor allen Menschen verspricht, nie wieder nach Massabielle zu gehen ... nie wieder ...«

»Versprich es deiner Mutter«, ermahnt die Nicolau. »Solche Aufregungen sind sehr schlecht, du würdest sicher krank werden davon ...«

Bernadette verkrampft ihre immer noch eiskalten Hände ineinander.

»Ich verspreche dir, Maman«, sagt sie, »nie wieder nach Massabielle zu gehn ...«

Doch mit der ganzen verzweifelten Schlauheit der Liebe fügt sie eine advokatorische Klausel hinzu:

»... wenn du mir's nicht selbst erlaubst ...«

Die Nicolaus sind allein geblieben. Antoine zündet sich eine Sonntagszigarre an.

»Was hältst du davon, Mutter?« fragt er.

»Die liebe Kleine gefällt mir gar nicht«, seufzt die Nicolau.

»Solche Dinge sind schlimme Vorzeichen ... Mein Gott, und die Eltern sind doch ganz gesunde und grobe Leute ...«

Der Sohn erhebt sich, geht einmal durch die Stube und wirft ganz überflüssigerweise einen neuen Scheit in das lebendige Feuer. Dabei sagt er:

»Ich habe nie was Schöneres gesehn als das Gesicht von dem knienden Mädel, liebe Mutter, und ich werd nie was Schöneres sehn ...«

Und er erschrickt fast bei dem Gedanken, Bernadette in Armen gehalten zu haben:

»Gar nicht anrühren dürfte man solch ein Geschöpf«, sagt er.


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