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Kapitel Vierzig. Das ist meine Stunde noch nicht

Nicht lernt Bernadette den rechten Schlaf, die große Kunst der Ordensleute. Sie liegt auf ihrem Strohsack wach, Nacht für Nacht. Es ist nicht das harte Lager, das den Schlaf verjagt. Viel schlechter war das Bett, das sie im Cachot mit Marie teilen mußte. Es ist auch nicht die schwere Arbeit des Tages, immer wieder unterbrochen durch Chorgebet, Betrachtung, Gewissensforschung, welche die Kräfte überspannt und die Nerven wachhält. Es ist die Lebensflamme in Bernadette, die sich flackernd wehrt. Mutter Marie Thérèse führt einen gewaltigen Hammer, mit dem sie ihre Schar glatt und gleich macht. Ihr hohes Ziel ist es zwar, die Seelen zu schmieden und sie geläutert dem ewigen Leben entgegenzuführen. In Wirklichkeit aber bilden diese jungen Seelen trotz des ausgezeichneten Programms der Generalstochter nach einiger Zeit so etwas wie eine gut gedrillte Kompanie. Sollte diese Kompanie einst an jenem Ort einziehen, wo die Wahrheit und die Freude und das Leben angeschaut wird, so wird man ihr vermutlich erst abgewöhnen müssen, in Reih und Glied zu stehn und in Reih und Glied zu empfinden. Es ist immer wieder dasselbe Kreuz mit der Erziehung des Menschengeschlechts. Die unbeschnittene Freiheit schafft einen sinnlosen Urwald. Und die Uniform schafft eine leblose Wüste. Vielleicht hat Hyacinthe de Lafite nicht so völlig unrecht gehabt, als er einst zum Entsetzen Estrades im Café Français sagte, die Welt sei nur für die wenigen Begnadeten geschaffen. Sie allein entkommen dem Urwald und entgehen der Wüste. So gut die Absichten Bernadettens auch sind, der Novizenmeisterin gelingt es nicht, sie so rasch glatt und gleich zu hämmern wie die andern:

»Marie Bernarde, Sie schlendern ja daher, als würden Sie im Grünen spazierengehn. Es ist jetzt nicht Rekreation, sondern Arbeitszeit.« – »Marie Bernarde, werden Sie Ihre Augen nie in die Zucht bekommen? Man reißt seine Augen nicht auf, sondern schlägt sie nieder.« – »Schaun Sie mich, bitte, nicht so neugierig an wie einen Marktschreier.« – »Marie Bernarde, Sie sind wieder einmal äußerst zerstreut. Haben Sie noch immer nicht begriffen, daß dieses Abschweifen der Gedanken sehr fehlerhaft ist? Wir sind nicht hier, um zu träumen und zu phantasieren, sondern um uns zu sammeln.« – »Marie Bernarde, welch grober, gewöhnlicher Tonfall, ich bitte Sie. Hinter Ihrem Französisch hört man noch immer das Patois hindurch. Und warum so laut? Was täten Sie unter beschaulichen Schwestern, bei den Kartäuserinnen zum Beispiel, die das Gelübde des Schweigens üben. Wir geben unsere Antworten mit gesenkter Stimme. Sie bleiben leider hinter Ihren Mitschwestern zurück, Marie Bernarde ...«

Es ist wahr, Bernadette bleibt hinter ihren Mitschwestern zurück. Die schlurfen schon mit dem kurzen Nonnenschritt über die Korridore. Die schaun nicht mit Bernadettens großen Wunderaugen in die Welt, sondern schlagen ihre Augen vor Mère Vauzous nieder. Ihre Gedanken schweifen nicht ab, und ihre Antworten geben sie mit gesenkter Stimme. Binnen weniger Wochen nehmen sie das verhuschte und weltscheue Wesen an, das Mère Thérèse Vauzous von ihnen fordert, wie man Strammheit in der Kaserne fordert. Alle fügen sich leicht ein und merken es selbst nicht. Nur der Bevorzugten des Himmels wird es schwer, in diese Konvention der Heiligmäßigkeit unterzutauchen.

In den Nächten liegt Bernadette immer wach. Sie hadert zum erstenmal mit der Dame. Nicht, daß sie sich anmaßen würde, eine neue Erscheinung zu begehren. Aber warum kommt die Dame noch immer nicht in ihren Traum? Von zehntausend Dingen träumt Bernadette, von ganz verschollenen Menschen und Gegenständen. Nur von der wirklichsten Gestalt ihres Lebens, von ihrer einzigen, ewigen Liebe darf sie nicht träumen. Wenn die Dame im Traum käme und sagte: Gehen Sie fort von hier! Kehren Sie nach Bartrès zurück und arbeiten Sie wieder als Hirtin bei Madame Laguès – sie würde augenblicklich gehorchen, so alt sie ist. Die Dame aber entzieht sich absichtlich und willentlich ihren Träumen, und Bernadette ist nur ein rostiges Werkzeug, das man fortgeworfen hat. Zugleich aber wächst nächtlicherweile noch ein anderer Schmerz in der Brust der Novizin. Sie leidet um ihre Mutter. Es ist dasselbe schneidende Erbarmen wie damals beim Abschied. Gerade weil Maman keine weiche Person ist und nur selten im Leben zur Zärtlichkeit geneigt, leidet die Tochter um sie. Es steht so viel Unausgesprochenes und Unausgelebtes zwischen ihnen. Bernadette ruft hundertmal die Plage des Cachots zurück und die Wäschetage der Mutter in den verschiedenen Häusern und den dürftigen Milloc im Kochtopf, und wie Papa bei hellem Sonnenlicht im Bette schnarcht. Jetzt geht es zwar Maman viel, viel besser, dennoch empfindet Bernadette ein dunkles Schuldgefühl, daß sie hier an ihrer eigenen Seele arbeiten darf, anstatt ihrer Mutter zu helfen. Oft überrascht sie um viereinhalb Uhr das Morgenwecken in Tränen.

Man erhebt sich schnell, man begibt sich in geschlossenem Zug zur Hauskapelle zum gemeinsamen Morgengebet mit den Schwestern. Danach hält Mutter Imbert oder eine ältere Nonne die kurze Betrachtung über einen Gegenstand aus dem Leben Jesu, über die Ordensregel, über die Gelübde oder über das Streben nach Vollkommenheit. Schon schreitet der Priester, der die heilige Messe liest, an den Altar. Dann kommuniziert man. Nachher wird das Marianum, ein Chorgebet zu Ehren der Allerseligsten Jungfrau, verrichtet. An diesem Gebet erfreut sich Bernadette herzlich. Dann kommt das Frühstück, und das Tagewerk beginnt. Bernadette ist froh über ihre Arbeit, die der Arbeit Mamans gleicht. Sie holt Wasser. Sie schält Kartoffeln und Rüben und reinigt den Salat. Kartoffeln und Rüben und Salat sind so wirklich. Der feuchte Duft der Erde hängt an ihnen. So hat die Erde in Bartrès gerochen, wenn man das Gesicht ins Gras tauchte. Nach dem Mittagessen kommt es wieder zu einer Adoration im Gebetchor. Später versammelt Mère Vauzous die Novizinnen zu ernster Unterredung, die sie entweder in Gemeinschaft oder viel öfter noch unter vier Augen abhält, mit jeder einzelnen Kandidatin. Diese Unterredungen berühren alle Probleme des sittlichen Wandels, die nicht in das Reich des Beichtgeheimnisses gehören.

»Meine liebe Marie Bernarde, die Selbstheiligung, zu der wir verpflichtet sind, betrifft, wie Sie wissen, unsre Vorzüge und unsre Fehler. Von welchem Ihrer Fehler haben wir das letzte Mal gesprochen? Helfen Sie meinem Gedächtnis?«

»Wir haben von dem Fehler gesprochen, ma Mère, daß ich mich für was Besondres halte ...«

»Und was gibt Ihnen das Recht, sich heute noch für was Besondres zu halten, ma fille?«

Bernadette gibt mit gesenktem Kopf ihre Antworten, wie in der Schule:

»Ich bin noch immer hochmütig, ma Mère, weil mir die Dame erschienen ist.«

»Nach der Entscheidung des Herrn Bischofs von Tarbes dürfen Sie ruhig von der Allerseligsten Jungfrau sprechen, mein teures Kind. Und was tun Sie gegen ihren Hochmut? Haben Sie erkannt, wie sehr wertlos das Beifallsgeheul ist, dessen Gegenstand Sie einst waren?«

Bernadette hebt jäh ihre auffunkelnden Augen:

»Darum hab ich mich niemals gekümmert, ma Mère.«

»Das ist nicht die rechte Entgegnung, Marie Bernarde«, sagt die Novizenmeisterin, durch den sehr milden Ton die Unerschöpflichkeit ihrer Geduld andeutend. »Über diese zuchtlose Art von Entgegnungen haben wir doch schon so oft gesprochen. Ich wäre sehr glücklich, eine andere Antwort hören zu dürfen.«

Bernadette hat längst wieder den Kopf gesenkt:

»Ich habe die Wertlosigkeit des Beifalls erkannt, ma Mère«, sagt sie.

»Und welches Opfer haben Sie sich auferlegt, um Ihren eigenen Hochmut zu brechen?«

Bernarde erwidert nach einem kurzen Nachdenken recht leise:

»Ich habe mich seit Tagen von der Novizin Nathalie ferngehalten.«

»Hm, hm, das ist sehr gut, ma chère fille«, nickt Mutter Thérèse.

»Sie sollten den Umgang mit der Novizin Nathalie, die ich sehr schätze, mehr und mehr einschränken. Ich fürchte, Sie fühlen sich von dieser Novizin aus Gründen der Weltlust angezogen, weil sie ein sehr hübsches und fröhliches Mädchen ist. Das ist verzeihlich, mein teures Kind, und ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Auch ist die Novizin Nathalie eine schmiegsame Natur, und das schmeichelt Ihrer eigenen Herrschbegierde und Rechthaberei. Sagen Sie selbst, Marie Bernarde, waren Sie nicht immer rechthaberisch gegen die Menschen?«

»Gewiß, ma Mère, ich war rechthaberisch gegen die Menschen.«

»Dann wäre es besser, Sie würden zum Umgang einen harten und unnachgiebigen Charakter unter den Novizinnen wählen. Wie denken Sie selbst darüber, mein Kind? Wäre es nicht besser?«

»O ja, ma Mère, es wäre sicher besser ...«

»Und nun zu den Vorzügen«, wechselt die Novizenmeisterin das Thema. »Welche Ihrer Tugenden denken Sie fortzuentwickeln?«

Bernadette errötet verlegen, blinzelt, wird lebhaft:

»Ich bitte um Verzeihung, ma Mère, aber ich glaube bestimmt, daß ich ein bißchen Eignung zum Zeichnen habe. Letzthin habe ich eine Skizze von Nathalie gemacht, und die hat allen gut gefallen ...«

Marie Thérèse Vauzous schlägt die Hände zusammen:

»Halt, mon cher enfant, wir verstehen uns noch immer nicht. Sie befinden sich auf dem Holzweg. Ihre Eignung zum Zeichnen, die ich nicht bestreite, ist ein Talent, aber keine Tugend. Ein Talent ist eine natürliche Anlage, die auszuüben uns leicht fällt. Eine Tugend ist eine nicht ganz so natürliche Anlage, aber sie zu entwickeln, fällt uns schwer, sehr schwer. Eine Tugend zum Beispiel nenne ich die Kraft, Schmerzen zu ertragen, ohne einen Laut von sich zu geben. Eine andere Tugend ist die Enthaltsamkeit. Vom Zeichnen aber wollen wir nicht mehr reden. Wie? Oder nicht?«

»O nein, ma Mère, vom Zeichnen wollen wir nicht mehr reden.«

»Unser Orden ist keine Kunstakademie«, sagt die Novizenmeisterin mit einem schwachen Lächeln. »Wir haben die Aufgabe bekommen, Kranke zu pflegen und Kinder zu unterrichten. Bei Ihnen aber ist es immer wieder dasselbe, meine liebe Marie Bernarde. Ihr ganzes Wesen treibt Sie zum Außergewöhnlichen und Glanzvollen ... Es wäre sehr erfreulich, wenn Sie mir am nächsten Freitag eine wirkliche Tugend nennen könnten, die auszubilden Sie gesonnen sind ...«

Das Schwerste für Bernadette aber sind nicht einmal diese pädagogischen Unterredungen. Das Schwerste für sie sind die Rekreationen, die Erholungsstunden der Novizen. Diese finden statt zwischen ein und zwei Uhr nachmittags. Das Kloster Sainte Gildarde besitzt einen großen, schönen Garten. Inmitten dieses Gartens liegt ein runder, zertretener Rasen. Er dient zum Spielplatz der jungen Kandidatinnen.

Die Offizierstochter Marie Thérèse legt mit Recht hohen Wert auf die Bewegung in freier Luft. Darin ist sie zu ihrer Zeit eine Bahnbrecherin und ein Ausnahmefall. Sie sieht im Bewegungsspiel das rechte Gegengewicht, das dem Gebet, dem Studium, der Arbeit, der Betrachtung, der ständigen Gewissensprüfung die Waage hält. Doch auch das Spiel soll dem Willen und der Vernunft untertan sein und keine unbewußte Hingabe an das körperlich seelische Vergnügen. Die Novizinnen sind den ganzen Tag zu bedächtigem Schritt, zu stets gefalteten Händen, zu niedergeschlagenen Augen, zu gesenkten Stimmen verpflichtet. Zwischen eins und zwei werden sie, nach dem diätetischen Prinzip ihrer Meisterin, zur Fröhlichkeit angehalten. Wenn man den Spielplatz betritt, pflegt Mutter Vauzous ihre Schar anzuspornen:

»Seid fröhlich jetzt, ihr Mädchen, seid munter und habt ein leichtes Herz ...«

Das ist das Signal, und nun beginnt man den großen Ball zu werfen oder den kleinen Federball mit Holzschlägern. Man schleudert einander bunte Reifen zu oder springt über die Schnur und was dergleichen kindliche Freuden sonst sind. Die Meisterin will, daß die Novizinnen zu dieser Stunde so recht die unschuldigen Küchlein des Ordens seien, denen es sogar gestattet ist, allerlei mutwilligen Schabernack zu treiben. Die Grenze setzt diesem Schabernack das erstaunliche Taktgefühl der Erzieherin, die es nicht duldet, daß der himmlische Bräutigam durch zügellose Temperamentsäußerungen seiner künftigen Bräutchen verstimmt werden könnte.

Obwohl Bernadette niemals ein Wildfang gewesen ist, so hat sie doch in fernen Tagen mit Marie, Jeanne Abadie, Madeleine Hillot und andern Mädchen sehr gerne alle jene Spiele gespielt, welche den Kindern der Armen zugänglich sind. Jetzt aber ist sie über zwanzig alt. Die Verkindlichung, die Mère Vauzous in der Rekreation von ihr verlangt, beleidigt sie. Warum wollen die Gebietenden immer wieder, daß man lügt? Tut das ihrem Herzen so wohl? Die Novizinnen in ihren langen Kutten hüpfen teils in natürlicher, teils erzwungener Munterkeit auf dem Rasenfleck herum. Für Bernadette ist's ein verletzender Anblick.

»Liebe Marie Bernarde«, winkt ihr die Meisterin, »warum so kopfhängerisch? Sonst tragen Sie ja Ihren Kopf hoch. Jetzt ist Erholungszeit. Wollen nicht auch Sie ein bißchen Freude an den Tag legen?«

Bernadette gibt sich dann die größte Mühe, diese Freude an den Tag zu legen. Aber es wird nichts Rechtes draus.

 

Ein grauer, rauher Spätherbsttag. Die Adoration ist vorüber, die Rekreation droht. Es ist die Stunde, wo die Post für die Insassen des Konvents eintrifft. Marie Thérèse Vauzous ruft Bernadette zu sich. Sie schaut feierlich drein und ist sehr weich. Sie nimmt sogar den Kopf der Novizin Marie Bernarde zwischen ihre langen, knochigen Hände:

»Mein liebes, gutes Kind, es ergeht heute der Ruf nach einem schweren Opfer an Sie. Ich selbst weiß genau, was das heißt. Alle ehrlichen Versuche der Losschälung zerreißen gewisse natürliche Bande nicht. Ich zum Beispiel hänge an meinem Vater mit angstvoller Liebe ...«

Bernadettens Augen werden noch größer als sonst:

»Mein Vater ... Ist meinem Vater etwas geschehen?«

»Nein, mit Ihrem Vater ist nichts geschehen ... Teuerste Marie Bernarde, nehmen Sie jetzt Ihre ganze Kraft zusammen! Ihre Frau Mutter ist selig hinübergeschlummert, ohne Schmerz und mit den heiligen Gnadenmitteln versehen. Sie starb am Tage der Unbefleckten Empfängnis. Das möge für Sie ein gewaltiger Trost sein und eine geheimnisvolle Bestätigung!«

»Meine Mutter«, stammelt Bernadette, »Maman ...«

Sie wird plötzlich so schwach, daß die gestrenge Seelenmeisterin sie an ihre Brust drückt.

»Legen Sie sich einen Augenblick hier auf die Pritsche nieder, mein Kind ...«

Bernadette setzt sich hin, gegen die Wand gelehnt. Man schweigt ein paar Minuten. Als das Mädchen wieder Farbe im Gesicht hat, spricht die Vauzous:

»Es ist selbstverständlich, daß ich Sie in den nächsten Tagen von allen Verpflichtungen befreie, die Sie nicht leisten wollen oder können. Wenn Sie für Ihre Trauer der Einsamkeit bedürfen, so bleibt es Ihnen überlassen, in die Kapelle zu gehn, in den Garten oder wohin sonst Sie wollen. Ich aber würde Ihnen die Einsamkeit nicht anempfehlen, ma très chère fille.«

Auf den grauen Wangen der Nonne zeigen sich die scharf abgegrenzten Flecken einer steigenden Begeisterung:

»Marie Bernarde, Sie können jetzt über sich selbst hinauswachsen«, mahnt sie. »Ihre Mutter ist tot. Aber es gibt keinen Tod. Sie werden Ihre Mutter wiedersehn. Unser Heiland hat durch seinen Tod den Tod aller Menschen überwunden. Zeigen Sie Ihren Glauben an diese Wahrheit. Bringen Sie Ihren Verlust dem Himmel als ein bewußtes Opfer dar. Geben Sie ein Beispiel. Kommen Sie zur Rekreation. Verwandeln Sie Ihre Tränen durch unerschütterlichen Glauben in erhabene Fröhlichkeit. Verstehn Sie mich recht, es ist nur ein Rat, den ich Ihnen gebe, mein teures Kind ... Wollen Sie nicht zur Rekreation kommen?«

Nach einer Weile entgegnet Bernadette:

»Jawohl, ma Mère, ich will kommen.«

Als die Novizinnen paarweise den Rasenfleck betreten haben, winkt Mère Marie Thérèse:

»Unsere liebe Marie Bernarde hat einen bitteren Schmerz durch den Tod ihrer Mutter erlitten. Es ist das Traurigste, was einem liebenden Kinderherzen hier auf dieser Erde begegnen kann. Marie Bernarde aber ist bereit, ihren Schmerz aufzuopfern. Helfen Sie Ihrer Schwester dabei durch munteres Spiel.«

Die Novizenmeisterin drückt Bernadette einen der Holzschlegel in die Hand:

»Machen wir eine Partie Federball miteinander, meine Liebe«, ruft sie und beteiligt sich, was sie noch nie getan hat und nie wieder tun wird, selbst einige Minuten lang am Spiel.

Bernadette wirft den Federball, schleudert die bunten Reifen, läuft Wette, springt über die Schnur. Letzteres tut sie so oft, so schnell, so mechanisch hartnäckig, daß die Nonne gebietet:

»Halt, Marie Bernarde, es ist genug! Sie sind sehr erhitzt ...«

Dann sammelt man sich wieder zum Heimweg. Ein eisiger Wind zaust die letzten gelben Blätter von den Bäumen. Es dürfte keine Rekreation im Freien mehr geben, denken die Novizinnen. Bernadette und ihre Freundin Nathalie sind das letzte Paar.

Als man durchs Tor in den dunklen Flur getreten ist, knickt Bernadette plötzlich zusammen und setzt sich auf die Fliesen. Ein würgender Husten schüttelt sie. Nathalie kniet neben ihr hin. Gellend schreit sie auf:

»Helft doch ... Marie Bernarde ... Aus ihrem Mund kommt Blut ...«

 

Es ist ein Uhr nachts. Durch die leeren, schlecht beleuchteten Gassen von Nevers kämpft sich ein einsamer Mann gegen den Wind vorwärts. Der eigene Mantel umschlägt seine untersetzte Gestalt. Mit beiden Händen muß er den breiten, flachen Hut auf dem Kopf festhalten. Nur an diesem Hut mit der violetten Schnur würde man den Prälaten erkennen. Monseigneur Forcade, Bischof von Nevers, braucht lange Zeit, um das Kloster Sainte Gildarde zu erreichen, sosehr er auch seinen Gang beschleunigt. Ihn treibt die Angst, zu spät zu kommen. Man hat ihn mit vollem Recht aus dem Schlaf geweckt. Der bevorstehende Tod der Wundertäterin von Lourdes erfordert die Zeugenschaft des Bischofs. Die Geschichte lehrt, daß sich angesichts des Todes einer Bevorzugten Mirakel zu ereignen pflegen. Es ist außerdem notwendig, daß die kirchliche Autorität in Person die letzten Geständnisse und Botschaften einer Begnadeten entgegennimmt. Da aber der Lauf der Welt verwickelt und das Menschenherz ein Abgrund ist, so erscheint es ferner nicht ganz ausgeschlossen, daß jenes Mädchen an der Schwelle des Todes und der ewigen Vergeltung vielleicht gewisse Aussagen zurücknimmt und sogar manches widerruft, worauf sich das Urteil der bischöflichen Kommission gestützt hat. – Im Tor des Klosters erwartet den Bischof schon Mutter Joséphine Imbert. Der alte, etwas korpulente Herr ist ganz außer Atem und wischt sich die Stirn:

»Nun, wie geht es Ihrer Kranken?«

Die Oberin, sonst die Ruhe selbst, ist sichtlich tief verstört. Das Nachtlicht, das sie in der Hand trägt, beflackert ihr mürbes Gesicht, dessen Backenknochen scharf hervorspringen:

»Doktor Saint Cyr hat alle Hoffnung aufgegeben, Votre Grandeur«, erwidert sie. »Welch eine Prüfung, Heilige Muttergottes!«

»Und was hat man unternommen?« fragt der Bischof mit gerunzelten Brauen.

»Vor einer Stunde sollte Marie Bernarde das heilige Viatikum empfangen. Es war aber unmöglich wegen des ständigen Erbrechens. Man hat sie dann mit den heiligen Sterbesakramenten versehen, Monseigneur.«

»Und ist die Kranke bei Bewußtsein, Mère Imbert?«

»Sie ist sehr schwach, Monseigneur, aber bei vollem Bewußtsein.«

Der Bischof, der sich im Hause gut auskennt, tritt ins Besucherzimmer, wohin ihm die Oberin folgt. Er legt seinen Mantel ab und setzt sich nieder, um zu verschnaufen.

»Und wie konnte das geschehen, mein Gott?« fragt er. »Hat man nicht genügend Sorgfalt geübt?«

Madame la Supérieure erwidert mit verschränkten Händen:

»Wir haben ja mit Einverständnis von Euer bischöflichen Gnaden die Novizin in der Küche beschäftigt. Auf Rat Doktor Saint Cyrs wurde sie schon in der ersten Woche von allen schweren Arbeiten ferngehalten. Wir wissen aber, daß der Dienst in der Küche die Novizin sehr befriedigt ...«

Der Bischof wirft einen zweifelnden Blick auf die Oberin:

»Hat man etwa in geistlicher oder seelischer Hinsicht übertrieben?« forscht Monseigneur sehr offen.

Mutter Imbert entgegnet steif:

»Mère Vauzous wurde von mir angewiesen, die Novizin Marie Bernarde mit größter Gewissenhaftigkeit und Fürsorge in Obhut zu nehmen.«

»Wie man mir von verschiedenen Seiten schon mitgeteilt hat, ma Mère«, sagt der Bischof, »soll die Rekreation der Novizinnen in diesem Hause ein wenig ungewöhnlich gestaltet werden ...«

Die Lippen der Oberin scheinen ganz zu verschwinden. Sie senkt den Kopf bei der Antwort:

»Es ist die Ansicht unserer Novizenmeisterin, daß ein Spiel in frischer Luft das beste Gegengewicht bildet gegen die zeitweilige Entmutigung junger Geschöpfe. Doktor Saint Cyr hat eigens gewünscht, daß Marie Bernarde von dieser kindlich harmlosen Erholung nicht ausgeschlossen werde ...«

Bischof Forcade seufzt aus tiefer Brust:

»Ich bin außer mir, meine Liebe, wirklich außer mir. Im Sommer vertraut man uns Bernadette Soubirous an, und noch ist das Jahr nicht zu Ende, da ... Auf Bernadette Soubirous ruhen die Augen der ganzen Welt. Malen Sie sich bitte aus, welche Folgen dieser jähe Tod haben wird. Welch ein Gerede, welch ein Geschreibe, du gütiger Gott! Und welch ein schauriger Argwohn! Monseigneur Laurence, mein Amtsbruder in Tarbes, ist ein aufrechter und bewunderungswürdiger Greis ...«

Monseigneur Forcade zieht es vor, diesen Satz nicht zu vollenden. Hingegen fordert er, sogleich ins Zimmer der Sterbenden geführt zu werden. Es ist das Krankenzimmer des Hauses, ein ziemlich großer Raum. Man hat Bernadette hoch gebettet. Sie liegt regungslos ausgestreckt. Ihr Gesichtchen ist ganz zusammengeschrumpft nach dem schweren Blutsturz, nach dem stundenlangen Erbrechen. Die Augen sind glänzend und bewahren jene hoheitsvolle Apathie, die sie auszeichnen. Der Atem aber geht so kurz und röchelnd, daß man meinen könnte, die Agonie habe schon begonnen. Doktor Saint Cyr bewacht den Puls. Der Hauskaplan Fèbvre flüstert die Sterbegebete, die von ein paar knienden Schwestern mitgemurmelt werden. Aufrecht steht die Novizenmeisterin da, völlig erstarrt, mit gefalteten Händen. Das Gesicht von Marie Thérèse ist sonderbar grünlich. Ihre tiefliegenden Augen sind geradezu mit verschmachtender Spannung auf Bernadette gerichtet. Monseigneur Forcade tritt ans Bett. Er legt seine wohlgepolsterte Hand zart auf die Hand der Kranken:

»Können Sie mich verstehn, meine Tochter?« fragt er.

Bernadette nickt bejahend.

»Haben Sie mir als Ihrem Bischof einen Wunsch anzuvertrauen?«

Bernadette schüttelt leise den Kopf.

»Haben Sie die Kraft zu sprechen?«

Bernadette verneint wieder.

Forcade kniet nieder und verrichtet ein Gebet. Dann erhebt er sich tiefbewegt und bittet die Oberin, ihm für diese Nacht eine Zelle einzuräumen. Als er auf dem Gang draußen der Mutter Imbert folgt, hört er hinter sich den klappernden Schritt grober Schuhe. Es ist die Novizenmeisterin:

»Votre Grandeur«, beginnt Marie Thérèse mit flackernder Stimme, »wird uns die Allerseligste Jungfrau nicht gar sehr zürnen, wenn sie ihre Bevorzugte ohne die Gelübde empfangen muß?«

»Meinen Sie?« fragt der Bischof ziemlich herb, während ihn ein unbestimmtes Mißgefühl gegen diese Nonne erfüllt.

»Und würden Sie es wünschen, daß die Sterbende die Gelübde ablegt?«

»Ich würde es recht sehr wünschen, Monseigneur«, entgegnet die Erregte mit einem gepreßten Atemzug.

Bischof Forcade, ein kluger Mann, empfindet große Unruhe, wenn er an den aufrechten und bewunderungswürdigen Greis in Tarbes denkt. Eine Novizin ist nicht Fisch noch Fleisch. Die Katastrophe kann vielleicht dadurch ein wenig gemildert werden, daß man Bernadette in die geistlichen Scharen rechtens aufnimmt, die sich durch die Gelübde einen Vorrang verdient haben. Laut sagt er:

»Es liegt in der Macht des Bischofs, die Profeß eines Sterbenden entgegenzunehmen. Ich tue es übrigens nicht das erste Mal.«

Man tritt neuerdings an das Bett Marie Bernardes, deren Zustand sich nicht verändert hat, und Monseigneur Forcade beugt sich tief über sie und spricht mit zärtlicher Stimme:

»Nehmen Sie jetzt Ihre ganze Kraft zusammen, meine Teure. Diejenige, die Ihnen so gnadenvoll erschienen ist, wird es gerne sehen, daß Sie beizeiten noch die drei heiligen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams vor Ihrem Bischof ablegen. Sie haben nichts anderes zu tun, als auf meine Fragen durch ein Zeichen mit Ja zu antworten. Haben Sie mich verstanden und sind Sie dazu gewillt?«

Bernadette nickt ziemlich lebhaft.

Darauf nimmt der Bischof diese höchst ungewöhnliche Zeremonie der Profeß mit leiser Stimme und höchster Behutsamkeit vor. Das Krankenzimmer ist voll von Nonnen, die sich zu Boden geworfen haben, allen voran Marie Thérèse Vauzous. Nachher flößt der Arzt der Erschöpften ein paar Tropfen Wasser ein. Es ist das erste, was seit Stunden Bernadette bei sich behalten kann. Der Bischof lächelt ihr zu:

»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem neuen Stand, ma Sœur.«

Man schiebt ihm einen Fauteuil ans Bett. Er blickt Doktor Saint Cyr an. Der Blick bedeutet: wie lange noch? Der Arzt zuckt die Achseln. Eine Viertelstunde lang herrscht Totenstille. Die Augen Monseigneurs ruhen aufmerksam auf dem Mädchengesicht, das sich bei jedem Atemzug aufbäumt. Die Auflösung muß ganz nahe sein, denkt er. Da wagt er noch einen letzten Versuch:

»Vielleicht haben Sie irgend etwas auf dem Herzen, ma Sœur. Ich bin da, um es Ihnen abzunehmen. Alle werden dieses Zimmer verlassen ...«

Kaum hat der Bischof diese Worte zu Ende geflüstert, als sich etwas ganz Unerwartetes begibt. Bernadette atmet ein paarmal sehr tief auf. Man meint schon, es seien die letzten Atemzüge. Die Sterbegebete des Abbé Fèbvre erheben sich dringlich. Es sind aber nicht die letzten, sondern die ersten Atemzüge, die einem asthmatischen Anfall zu folgen pflegen. Sie dauern an. Und plötzlich sagt Bernadette mit leiser, aber voller Stimme:

»Meine Mutter ist tot ... Aber ich sterbe noch nicht ...«

Und sie hat die Wahrheit gesprochen, wie immer. Denn bereits sechs Tage später kann sie sich von ihrem Lager erheben. Und Doktor Saint Cyr findet weniger verdächtige Geräusche in der Lunge als vorher.


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