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Kapitel Neunundzwanzig. Ein Bischof ermißt die Folgen

Monseigneur Laurence hebt die Tafel auf. Es sind neben dem Dechanten Peyramale nur noch zwei andere Tischgäste anwesend, ein Chanoine von der bischöflichen Kanzlei und der Privatsekretär, ein junger Kleriker. Beide Herren ziehen sich sehr bald mit einer Entschuldigung zurück. Monseigneur hat den Wunsch, mit dem Pfarrer von Lourdes nach Tisch ein Stündchen allein zu bleiben. Das ist eine große Auszeichnung. Der Bischof von Tarbes liebt es nicht besonders, die Menschen auszuzeichnen. Er kennt sie zu gut. Wie viele, die von ganz unten kommen, bewahrt er auf seiner glanzvollen Höhe die Bitterkeit des einstigen Elends als einen geheimen Bodensatz der Seele. In ihm liegt das Gebot der Nächstenliebe mit einer mühsam verhehlten Menschenverachtung in ständigem Kampf. Das Resultat dieses Kampfes ist eine sehr seltene Spielart von eisiger Müdigkeit, hinter welcher ein diamantener Verstand schamhaft auf Lauer liegt. Für den Dechanten von Lourdes aber hegt Bischof Bertrand Sévère eine ausgesprochene Schwäche. Die Zuneigung männlicher Wesen untereinander gründet sich auf der richtigen Mischung gleichartiger und gegensätzlicher Eigenschaften. Dieser Peyramale, ein Mann gegen Ende Vierzig, hat es noch immer nicht gelernt, sich selbst zu beherrschen. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, bekommt er unziemlich brennende Augen. Er überlegt nicht, was er sagt, er kennt keine Menschenfurcht. Er ist schlagfertig rüde, und das amüsiert Seine Gnaden. Peyramale ist ein Herr, und das imponiert dem Sohn des Straßenarbeiters, der von Geistlichen umgeben ist, die aus kleinen Verhältnissen stammen und daher jene salbungsvolle Servilität niemals überwinden können, wie sie den untergeordneten Priester so oft charakterisiert, zumal in südlichen Ländern. Monseigneur ist stolz darauf, einen Herrn wie Peyramale unter seinem Klerus zu haben.

Der Kammerdiener öffnet die Flügeltüren einiger Salons, die der Bischof, auf seinen elfenbeinernen Krückstock gestützt, mit seinem Gaste durchschreitet. All diese Räume und ihre verschlissene Pracht sind kalt und unbewohnt. Zwölf Jahre schon lebt Bertrand Sévère Laurence in diesen Räumen, ohne ihnen die leiseste Spur seiner Existenz aufgedrückt zu haben. Wie er sie von seinem Vorgänger, dem Bischof Double, übernommen hat, so sind sie geblieben. Double, noch aus einer früheren Zeit stammend, hatte Sinn für schöne Dinge und war in bescheidenem Maße ein Sammler. Laurence hat keinen Sinn für schöne Dinge und ist kein Sammler. Er hat, im Gegenteil, eine Anzahl von Bildern und Kunstgegenständen aus dem Palais zum Verkauf gebracht, um den Erlös den Werken der Caritas zuzuführen. Männer von unten sind zumeist Rationalisten.

Endlich ist man am Ziel der Wanderung. Eine zweite Auszeichnung Peyramales. Der Bischof läßt den schwarzen Kaffee in seinem eigenen Zimmer servieren. Es ist das Zimmer, in dem Monseigneur wohnt, arbeitet, schläft. Er hat, bevor er Bischof wurde, immer nur einen beschränkten Raum sein eigen genannt. Als Bischof besitzt er wiederum nicht mehr. Da konnte sein Zeremoniär Einwendungen machen, soviel er wollte. Sa Grandeur hatte eine geräumigere Wohnstätte schlankweg abgelehnt. Niemand könnte behaupten, dieses Zimmer sei behaglich oder auch nur wohnlich. Es ist ein mittelgroßer Raum mit einem Eisenbett, einem Betschemel, einem Kruzifix, einem schlechten Madonnenbild, einem ungeschlachten Kanapee, einem Bürotisch und mehreren Lehn- und Polsterstühlen. Mönchisch oder asketisch kann man freilich dieses Zimmer auch nicht nennen, denn Monseigneur verzichtet auf keine Bequemlichkeit, deren er sich je erfreut hat. Er verschmäht es nur, und zwar ohne jede Koketterie, als Bischof sein Leben zu ändern. Er war arm, er ist arm geblieben, der Sohn eines Arbeiters. Auch der Mangel kann eine Art Angewöhnung werden. Um aber ganz genau bei der Wahrheit zu bleiben, des Bischofs Küche ist gut, sie ist sogar vortrefflich, wie Peyramale bei jedem seiner Besuche feststellen muß.

Die dritte Auszeichnung: der Kammerdiener bietet dem Pfarrer eine lange Pfeife an. Monseigneur selbst zieht den guten alten Schnupftabak vor, wovon seine Soutane zu erzählen weiß. Man nimmt dicht am Kamin Platz. Welch ein kalter Frühling! Das einzig gemütliche Element dieses Raumes ist das Feuer. Monseigneur pflegt auch noch im Sommer zu frieren. Vielleicht friert ihn vor seiner eigenen Müdigkeit.

»Die Ereignisse vor der Grotte«, hebt der Bischof an, »von denen Sie uns bei Tische erzählten, haben mich nur in der Überzeugung bekräftigt, daß unsre Handlungsweise richtig war. Das aber haben sich weder der Präfekt noch der Herr Bürgermeister träumen lassen, daß man ihnen den Lattenzaun täglich frisch zertrümmern werde. Bedenken Sie nur, welch ein Schade der Kirche erwachsen wäre, wenn die Welt einen Teil dieser Latten auf unsere Rechnung buchen könnte. Ich muß Ihnen meine Anerkennung aussprechen, Pfarrer von Lourdes ...«

»Votre Grandeur«, erwidert Peyramale dem alten Mann mit vollendeter Ehrerbietung, »ich habe die heutige Audienz zu erbitten gewagt, weil ich gar nicht zufrieden bin, weil ich es nicht für gut finden kann, wie es ist, weil ich fürchte, daß ein Wandel in unserer Haltung sich als nötig erweisen wird ...«

Der Bischof stäubt seine Prise vom Fingerknöchel in die Dose zurück, ohne sie zur Nase zu führen. Seine tiefliegenden Augen haften erstaunt an dem Gesicht des Dechanten. Mit einem Räuspern schiebt er aber den Vorstoß Peyramales zur Seite:

»Ich habe vorerst eine Frage an den Pfarrer von Lourdes: wer ist Bernadette Soubirous?«

»Ja, wer ist Bernadette Soubirous?« murmelt der Dechant und blickt zu Boden. Es dauert eine volle Minute, ehe er das durchfurchte Gesicht wieder seinem Oberen zuwendet:

»Monseigneur, ich gestehe offen, ich habe Bernadette für eine Schwindlerin gehalten, für eine Rose Tamisier, und es gibt flüchtige Momente, in denen ich sie auch heute noch dafür halte. Allzugut kenne ich dieses Volk von Märchenerzählern, Phantasten und Komödianten und seine Kunst, nicht nur andern, sondern auch sich selbst etwas vorzumachen. Ah, es ist ein so verzweifelt armes Volk. Ich gestehe ferner, Monseigneur, ich habe Bernadette später für eine Verrückte gehalten, und manchmal tu ich's noch heute, wenn auch immer seltener. Und drittens gestehe ich, Monseigneur, daß ich in Bernadette Soubirous wirklich eine Begnadete und eine Wundertäterin sehe ...«

»Das ist keine erleuchtend klare Auskunft, Pfarrer von Lourdes«, brummt der Bischof, dessen juridisch scharfer Geist für sanguinische Paradoxa nicht viel Verständnis hat. Er weist mit einer vagen Gebärde auf den Schreibtisch:

»Ich habe den Brief eines pensionierten Generals namens Vauzous erhalten. Er bittet mich, gegen diese Gefährdung des kirchlichen Ansehens Schritte zu unternehmen. Es ist ungefähr dasselbe Lied, das seit Wochen die Regierung singt. Baron Massy, Roulland und, wie man mir verraten hat, auch der Kaiser. Der einzige Unterschied ist, daß der alte, würdige General es aufrichtig meint. Er hat bei den Schulschwestern von Nevers eine Tochter. Sie kennen jedenfalls diese Klosterfrau, da sie in Lourdes unterrichtet ...«

»Ich kenne sie, Monseigneur, und habe zweimal mit ihr über den Fall Bernadette Soubirous gesprochen. Ich wollte natürlich das Urteil der Lehrerin hören, die das Kind täglich sieht ...«

»Das Urteil der Lehrerin, die Bernadette Soubirous besser kennen muß als jeder andere, ist unvergleichlich eindeutiger als das Urteil des Pfarrers ...«

Marie Dominique Peyramales Augen brennen auf:

»Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Lehrerin dem Mädchen nicht besonders wohl will«, sagt er.

»Wie ich höre«, fährt der Bischof nach einem beobachtenden Schweigen fort, »ist Sœur Vauzous eine Zierde ihres Ordens. Sie zeichnet sich in allen Dingen aus. Es gibt sogar einige Schwärmer, die behaupten, sie stehe im Geruch der Heiligkeit. Sœur Vauzous stammt aus glänzender Familie. Nach einigen Jahren wird man sie gewiß zur Novizenmeisterin machen und später zur Oberin. Warum sollte eine Nonne von solcher Tugend und solchen Verdiensten einem Geschöpf wie Bernadette Soubirous ohne Grund mißtrauen?«

»Die Nonne Vauzous«, entgegnet Peyramale, »mag Anspruch auf die höchsten Würden und einen Ehrenplatz im Himmel haben; spricht man aber mit ihr, Monseigneur, gewinnt man durchaus nicht das Gefühl, einem besonderen oder gar auserwählten Wesen gegenüberzustehen. Sœur Vauzous läßt gleichgültig. Bernadette Soubirous hingegen läßt niemals gleichgültig. Ich weiß nicht, was das ist mit dem Mädel. Es ist ein grobes, gewöhnliches Ding. Ein Gesicht, so wie die meisten dieser Doutreloux, Orous, Gozos, Gabizos. Man wird ganz wütend, daß solch ein windiger Fratz mit seinen Ausgeburten Frankreich in Atem hält. Da kommt aber plötzlich im einfältigsten Ton eine Antwort, Monseigneur, eine Antwort, die einen halbe Nächte beschäftigen kann. Mit dieser Antwort wird man nicht fertig. Und mit den Augen der Kleinen wird man auch nicht so leicht fertig. Monseigneur wissen, ich bin alles eher als ein Schwarmgeist und ein mystischer Hitzkopf, ich bin mit Gottes Hilfe ein praktischer Mann. Wenn ich die Bernadette längere Zeit nicht sehe, dann wachsen meine Zweifel. Wenn ich sie aber zu mir kommen lasse, wie jüngst, dann setze ich nicht sie in Verwirrung, sondern sie mich. Denn, bei der Allerseligsten Jungfrau, Votre Grandeur, die Kleine ist so ganz wundersam wahrhaftig, sie hat in einer Art und Weise recht, wenn sie spricht, daß ich es selbst nicht verstehe ...«

»Sie haben hiermit ein ganzes Loblied gesungen auf Bernadette Soubirous«, nickt der Bischof mit unbeweglichen Zügen. Peyramale holt sich selbst zurück:

»Ich verdiene Ihre Anerkennung nicht, Monseigneur. Ich tue nichts anderes, als meinen Klerus davon zurückzuhalten, die Grotte zu betreten. Auch das ist schwer genug, insbesondere bei den Herren von den kleinen Landgemeinden. Doch zur Klärung, zur Beruhigung der Geister kann ich nichts beitragen, da ich selbst einen Mittelpunkt der Verwirrung bilde. So alt ich bin, ich brauche Ihre väterliche Hilfe, Monseigneur. Denken Sie doch an die Quelle! Denken Sie an die Heilung des Kindes Bouhouhorts! Und seit gestern gehen wieder Gerüchte um, daß die Gnadenquelle einem blinden Bauernkinde das Augenlicht wiedergegeben habe. Wenn wir ganz absehen von der Person Bernadette Soubirous', es geschehen unzweifelhaft Wunder ...«

»Halt, Pfarrer von Lourdes«, unterbricht der Bischof. »Sie wissen genau, daß es weder Ihnen noch mir zusteht, diesen äußerst gefährlichen Begriff zu verwenden. Einzig und allein die Kongregation der Riten zu Rom kann darüber befinden, ob etwas ein echtes Wunder ist oder eine Täuschung ...«

»Sehr richtig, Votre Grandeur«, greift der Dechant lebhaft zu. »Damit aber das Kurienamt seine Entscheidung fällen könne, muß es im Besitz des notwendigen Materials sein. Der Pfarrer von Lourdes tritt in seiner ganzen Unwürdigkeit vor seinen Bischof und sagt: Ich kann so nicht mehr weiterkommen. Mein ganzer Sprengel lebt in der tiefsten geistigen Unsicherheit. Lourdes ist zum Kampfplatz geworden, nicht nur sinnbildlich, leider, denn gestern haben die Gendarmen gegen die Menge blank gezogen. Die Schwarmgeister vom Schlage der Millet benehmen sich herausfordernd. Die Freidenker holen einen Vorteil nach dem andern aus diesen Vorfällen. Klare, nüchterne Köpfe wissen nicht mehr, woran sie sind. Ich selbst weiß es nicht. Monseigneur, ich wage es deshalb, Sie mit der größten Inständigkeit zu bitten: Entwirren Sie diese Verwirrung! Berufen Sie endlich die bischöfliche Untersuchungskommission ein, damit das Volk einen Halt bekommt!«

Der Bischof erhebt sich schwer an seinem Krückstock und geht schleppend zum Schreibtisch. Dort kramt er aus der Schublade ein Schriftenbündel hervor, das er auf die Tischplatte wirft.

»Hier ist die bischöfliche Untersuchungskommission«, sagt er. »Sie ist ausgearbeitet in allen Einzelheiten.«

»Und wann werden Sie das Zeichen zum Beginn ihrer Arbeit geben?« fragt Peyramale erregt.

»Wenn es Gott gefällt, niemals«, erwidert Bertrand Sévère herb und winkt dem Dechanten unwillig, er möge sitzenbleiben. Dann tritt er zum Fenster und schaut auf die blühenden Fliederbüsche seines Gartens hinab:

»Das Wunder ist etwas sehr Furchtbares, Herr«, murmelt der Alte, »ob's nun anerkannt wird oder nicht. Die Menschen sind voll von Begierden. Darum sehnen sie sich nach Wundern. Auch viele der Gläubigen wollen ja gar nicht glauben, sondern eine Sicherheit haben. Diese Sicherheit soll ihnen das Wunder verschaffen. Unser Herrgott schickt mit Recht nur äußerst selten Wunder. Denn was wäre sonst unser ganzer Glaube wert, wenn ihn jeder Flachkopf täglich bestätigt fände? Auch das tägliche Meßwunder verbirgt sich in der natürlichen Gestalt von Brot und Wein. Nein, nein, mein Lieber, das Außerordentliche ist für jede Institution ein Gift, sei es der Staat, sei es die Kirche. Nehmen Sie das, was die Menschen Genie zu nennen pflegen, einen Napoleon Bonaparte zum Beispiel. Was war dieses sogenannte Genie für die Welt? Eine blutige Verlegenheit, Pfarrer von Lourdes. Und viele der Heiligen, die wir anrufen, waren zu ihrer Zeit für die Kirche auch nur eine unblutige Verlegenheit. Hervorragender sein zu wollen oder hervorragender zu sein als die andern, das ist ein Übergriff, den wir als eingesetzte Pfleger der christlichen Gemeinschaft zurückweisen müssen, ehe uns nicht ein unwiderruflicher Beweis der göttlichen Gnade überwältigt. Die Kirche als Corpus Christi Mysticum ist die Gemeinschaft der Heiligen, das heißt, jeder ihrer Teile ist als solcher heilig ... Wenn ich nun als Bischof diese Untersuchungskommission loslasse, so bestätige ich offiziell nicht nur die vage Möglichkeit, sondern die hohe Wahrscheinlichkeit übernatürlicher Geschehnisse. Das darf ich nur dann tun, wenn kein Weg natürlicher Erklärung mehr offen bleibt. Tue ich es vorzeitig, so führe ich nicht nur meine Diözese, sondern die gesamte Kirche an den Abgrund der Lächerlichkeit. Was beweisen zwei oder drei Heilungen, deren tatsächliche Natur von keinem medizinischen Gremium unwiderleglich nachgeprüft worden ist? Nicht sehr viel beweisen sie. Sie selbst, Pfarrer von Lourdes, der Sie das Loblied des Mädchens Soubirous singen, schließen Schwindel und Verrücktheit noch immer nicht völlig aus. Bedenken Sie, was unser hochkritisches, hochwissenschaftliches Zeitalter von einem Bischof sagen würde, der einer kleinen Faxenmacherin oder Närrin aufsitzt, der erregten Altweibergerüchten über eine Gnadenquelle nachgibt und eine Wunderkommission bemüht, um schließlich ein Taschenspielerstück zu entlarven. Der Schaden wäre unermeßlich.«

Marie Dominique Peyramale zeigt Unruhe, meldet sich zum Wort. Der Bischof winkt ihm kurz ab:

»Sollte aber die Dame von Massabielle«, fährt er fort, »wirklich und wahrhaftig die Allerseligste Jungfrau sein, was in letzter Instanz Rom allein entscheiden kann, dann will ich Buße tun, um ihre Vergebung zu erlangen. Dennoch aber werd ich es ihr bis dahin pflichtgemäß als Bischof von Tarbes so sauer machen, wie ich's nur kann.«


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