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Kapitel Dreiundvierzig. Das Zeichen

Sœur Sophie ist gestorben. Es war ein stiller, ein lächelnder Tod, bei dem Sankt Josef sich besonders auszeichnete. Man brachte die Kranke nicht in die Infirmerie. Immer wieder deutete sie an, sie wünsche im Hause zu bleiben. In ihren letzten Tagen duldete die alte Nonne meist nur mehr Bernadette um sich. Da Sœur Sophie die beliebteste und verehrteste Person des Konvents war, so bildete diese Bevorzugung Marie Bernardes die Ursache mancher Eifersüchtelei. Immer wieder durchkreuzt die Wesensart des Mädchens von Lourdes den weitsichtigen Führungsplan von Mutter Imbert und Mutter Vauzous. Dieser Plan will, daß die Persönlichkeit zu einem bestimmten Typus wird, zum Typus aller Damen von Nevers, der eine benediktinische Frömmigkeit mit großer Aktivität in den Werken der Nächstenliebe verbindet. Im Fall der Bevorzugten von Massabielle soll sogar ein Cliché erreicht werden, wie man's erwartet und wünscht: ein einfältig passives Kindergemüt ohne ausgeprägte Eigenschaften, eine Bernadette freilich, die niemals den Kampf für ihre Dame geführt hätte. Die ursprüngliche, die erwählte Wesenheit soll sich in die Reihen derjenigen einordnen, welche am wenigsten Eigenleben besitzen. Bernadette wäre herzlich gern bereit, auch dieses Opfer zu bringen, wenn es nur ginge. Aber hier wie überall entzweit sie heimlich die Seelen, erregt Glauben und Unglauben, Bewunderung und Widerstand, ohne auch nur den Mund für sich selbst zu öffnen. Sie hat leidenschaftliche Parteigängerinnen, wie zum Beispiel Sœur Nathalie, die mittlerweile zu einer so tüchtigen Nonne herangereift ist, daß Mutter Imbert sie demnächst zur zweiten Assistentin machen will. Die sterbende Sœur Sophie aber zeichnet Bernadette so sehr vor allen andern aus, daß sie ihnen winkt, das Krankenzimmer zu verlassen, wenn das Mädchen von Lourdes bei ihr sitzt.

Nun aber ist der Tod im Kloster etwas durchaus Verschiedenes vom Tode in der Welt. Der Tod in der Welt ist wie ein Betriebsunfall bei einem geschäftigen Wolkenkratzerbau. Einer der schwitzenden Arbeiter stürzt vom hohen Gerüst, und seine Kollegen nehmen für ein paar Sekunden die Pfeife aus dem Mund und zwinkern scheu in die Tiefe, wissend, daß es ihnen heut oder morgen ebenso ergehen wird. Der Tod im Kloster aber ist eine Art Richtfest der Seele, das die zünftigen Maurer und Zimmerleute feiern, wenn das Haus aufgestellt ist. Man hat mit unermüdlichem Fleiß gearbeitet für diesen einen einzigen Tag, wo man aufatmen darf und hoffen, daß die sichere Wohnung erbaut ist für immer. Ein Todestag im Kloster kann mit der Sensation festlicher Neugierde verbunden sein. Die Nonnen drängen sich gerne um die Sterbende zum inbrünstigen Gebet. Sie glauben, ihrer Schwester helfen zu können in den letzten Wehen. Sie fühlen sich als weise Frauen, als Hebammen der übernatürlichen Entbindung einer Seele in die andere Welt. Und gar, wenn es sich um eine Sophie handelt, die weitaus die älteste und erfahrenste ist und bereits das fünfzigjährige Jubiläum ihrer Profeß gefeiert hat. Von einem solchen Sterben pflegen oft hohe Gnaden der Ermutigung und Aufrichtung auszugehen.

Diese Gnaden nimmt Bernadette in Empfang. Es ist der erste Tod, den sie mit Augen sieht, und so leicht er auch vonstatten geht, er wühlt sie auf bis in ihre Grundfesten. Die Jugend eines Menschen hört genau in dem Augenblick auf, in dem für ihn der Tod zur Wirklichkeit wird. Bernadette hängt an den hellen Augen der Sterbenden, die immer wieder mit Bewußtsein um ein Lächeln kämpft. Dieses Lächeln soll in die Seele der Zeugin strömen. Bernadette versteht genau, daß die Stumme von der Dame spricht: Laß dich durch nichts schwach machen, Marie Bernarde, sagt das Lächeln. Die Dame weiß genau, was sie tut. Sie weiß, warum sie zu dir gekommen ist und zu keiner andern. Sie weiß auch, warum sie dir jetzt dieses Leben gibt. Das geht halt nicht anders, das muß so sein. Aber wenn man so weit ist wie ich, da ist man so froh, so leicht und glücklicher als alle. Und du wirst noch viel froher sein als ich, meine Kleine, denn die Dame sieht dir zu, im Leben und im Sterben.

Nach dem Begräbnis von Sœur Sophie versucht Bernadette ihr Stickwerk wieder aufzunehmen. Sie kann's nicht. Ihre Hände sind wie erfroren. Ihre Augen unterscheiden die Farben der Seidenfäden nicht mehr. Es ist, als würde die Dame in Person sagen: Genug mit diesem Spiel! – Sie versteht. Sie gibt das Spiel auf. Es folgt ein Jahr, in dem Mutter Imbert und der Hausgeistliche Fèbvre eine Veränderung spüren, die mit Marie Bernarde vor sich geht. Sie selbst offenbart sich niemandem. Aber es geschieht, daß sie jetzt nicht mehr wie früher das geistliche Leben kindlich schülerhaft als eine Aufgabe hinnimmt, mit der man fertig werden muß, sondern als einen Weg, den man mit immer größerem Bewußtsein zu Ende geht. Obwohl sie auf den fürsorglichen Befehl des Bischofs noch immer allerlei Vergünstigungen genießt, so beteiligt sie sich jetzt an allen Übungen mit einer neuen Aufmerksamkeit und Intensität. Im Kloster Sainte Gildarde hausen nicht beschauliche, sondern in Hospital und Schule tätige Frauen. Nachtgebete sind daher weder Regel noch Sitte. Nur einige wenige ältere oder von der Tagesarbeit beurlaubte Nonnen stehen schon um drei Uhr morgens auf und halten die Matutin in der Kapelle. Zu ihnen stößt jetzt immer öfter Marie Bernarde, bis ihr die Oberin mit Rücksicht auf ihre Zartheit das frühe Aufstehn untersagt. Es ist so, als würde Bernadette jetzt mit großer Anstrengung gegen irgend etwas kämpfen, das sie von allen Seiten einzuschließen droht.

Im Konvent wird eine einzige Zeitung gehalten und auch diese nur in einem einzigen Exemplar. Es ist dies »L'Univers«, das Blatt des berühmten Louis Veuillot, der einst für Bernadette und das Mirakel von Lourdes eine Lanze brach. Im Grunde aber wird dieses Journal nur von Madame la Supérieure und der Novizenmeisterin gelesen. Die andern Nonnen haben nicht viel Interesse am Tagesgeschehen und sind in ihrer freien Zeit meist auch zu müde, um Zeitung zu lesen. Es kommen aber Tage, wo »L'Univers« dennoch von einer Hand zur andern wandert. Mächtige Überschriften melden: »Kriegserklärung – Das Verbrechen Preußens – à Berlin.« Dann folgen die Meldungen großer Siege. Dann folgen die Meldungen kleinerer Siege. Und dann liest man nur mit Schrecken die Namen der vom Feinde eroberten Städte Frankreichs. Zuletzt erfährt man, daß Kaiser Napoleon gefangen ist und daß die Preußen Paris belagern.

Schon in den ersten Wochen des Unheils leert sich das Mutterhaus von Sainte Gildarde sehr rasch. Die erste, tauglichste Garde der Krankenschwestern geht an die verschiedenen Kriegslazarette ab, die in Paris und in andern Städten ins Leben gerufen werden. Da dieser Krieg sehr blutig ist, da hier und dort Epidemien entstehen, werden von den Behörden immer neue Pflegerinnen angefordert. Jetzt müssen auch jene Nonnen dem Ruf gehorchen, die nur zu Lehrerinnen ausgebildet worden sind. Die wenigen, die im Mutterhaus und in den zweihundert Filialen der Damen von Nevers zurückbleiben, zupfen Charpie und wickeln Verbandszeug. So auch Bernadette. Sie wird von Tag zu Tag unruhiger. Ständig liegt sie Mutter Imbert in den Ohren, man möge sie doch um Christi willen an ein Hospital weisen, da sie ja nach ihrem Noviziat den Pflegerinnenberuf erlernt habe. Die Oberin vertröstet sie damit, daß sie bei nächster Gelegenheit Monseigneur diesen Wunsch vortragen werde. Bischof Forcade ist aber nicht geneigt, das kostbare Gut, das ihm Laurence von Tarbes anvertraut hat, einer Gefahr auszusetzen. Jetzt aber treten verwirrende Umstände ein. Ein erzbischöflicher Sitz ist erledigt. Monseigneur Forcade wird erwählt, ihn einzunehmen. Der Bischofsstuhl von Nevers bleibt mehrere Tage vakant. In diesen Tagen gewährt der stellvertretende Generalvikar die Bitte der Sœur Marie Bernarde. Das Hospital von Nevers ist überfüllt, da selbst hierher, hundertdreißig Meilen von Paris, Verwundete gebracht worden sind. Ein großer Teil des alten Pflegepersonals ist nach Norden und Westen gesandt worden. Jede Hand, und gar jede kundige Hand wird dringend benötigt. Man teilt also Bernadette Soubirous als Krankenschwester dem Hospital von Nevers zu. Doch nun läßt es auch Mère Marie Thérèse nicht mehr ruhen. Sainte Gildarde ist verödet. Die Novizenmeisterin, obwohl nur geprüfte Lehrerin, meldet sich ebenfalls zur Krankenpflege. Auch sie wird dem Hospital von Nevers zugeteilt, und zwar als Aufsichtsschwester.

Es offenbart sich wiederum eine neue Bernadette. Die Casterots sind durch die Bank halbe Doktoren, pflegt Tante Bernarde zu behaupten. Sie haben eine gute Hand für Kranke. Louise Soubirous hat die Wahrheit dieser Behauptung nicht selten bewiesen, wenn sie das Kind Bouhouhorts behandelte und noch manche andere Kinder der Nachbarschaft in der Rue des Petites Fossées. Bernadette beweist nun, daß sie eine echte Casterot ist, und man kann den Gedanken nicht abwehren, daß die Dame, die in Erscheinung trat, um etwas gegen die Krankheit der Welt zu unternehmen, auch in dieser Hinsicht ihre Wahl genau überlegt hat.

Kein Mensch in den Krankensälen weiß, daß Sœur Marie Bernarde das Mädchen von Lourdes ist. Man sieht in ihr eine Pflegenonne wie alle andern, die sich freilich durch ihre ungewöhnlich großen Augen und angenehmen Züge auszeichnet. Und es geschieht, daß immer mehr Verwundete und Kranke nach ihr begehren, auch in den Zimmern, die ihrer Wartung nicht übergeben sind. Den ganzen Tag ruft es nach Sœur Marie Bernarde. Von ihren Handreichungen geht ein mildernder Einfluß aus. Ihr in die Augen zu blicken, ist eine Erquickung. Die resolute Seite ihres Wesens, die das Klosterleben zurückgedrängt hat, jene Erbschaft Tante Bernarde Casterots, tritt siegreich hervor. In dem Lazarett befinden sich recht viele Soldaten aus den Linien- und Kavallerieregimentern, die in Pau, in Tarbes und in den Pyrenäenländern ihre Ergänzungsbezirke haben. Mit ihnen spricht Bernadette in der heimischen Mundart, die sie noch immer leichter und natürlicher handhabt als das hohe Französisch. Sie tut es so frisch, ihre Antworten sind so schlagfertig, sie weiß so bäurisch drollig zu scherzen, daß sie überall, wo die Arbeit sie hinführt, ein Wölkchen von Gelächter und Behaglichkeit zurückläßt. Wenn es einen ganz störrischen Kranken zu bändigen gilt, holt man Marie Bernarde herbei. Die Arbeit ist schrecklich groß. Aber Bernadettens Kräfte scheinen mit ihr zu wachsen. Sie macht einen gesünderen Eindruck als seit Jahren. Die Ärzte und Geistlichen, die das Lazarett betreuen, singen ihr Lob, das bis hinauf zu Monseigneur Lelonge, dem neuen Bischof, dringt.

Auch Marie Thérèse Vauzous gibt alles her, was sie hat, und gibt noch mehr her und plagt sich, weit über die Grenzen ihrer Kraft. Sie opfert ihre Nächte. Sie verzichtet auf ihre Erholungsstunden. Sie wacht unerbittlich darüber, daß die Vorschriften der Ärzte streng erfüllt werden, daß die Patienten pünktlich und reichlich und wohlzubereitet ihre Kost erhalten. Stundenlang steht sie in der Küche und in den Wäschekammern und teilt aus und zählt und rechnet und rechnet immer wieder mit der ihr eigenen unersättlichen Skrupelhaftigkeit. Dann wiederum geht sie langsam durch die Säle von Bett zu Bett, mit ihren tiefliegenden und klaren Augen nach dem Rechten sehend. Doch keine einzige Stimme begehrt nach der Nonne Vauzous, obwohl sie hundertmal mehr »Wirkliches« leistet als Bernadette. Auch sie spricht zu den Verwundeten und Kranken die gütigsten Worte, schreibt Briefe für sie, verspricht den Ärmsten, für ihre Zukunft zu wirken. Und dennoch, wenn sie in der Tür erscheint, geht ein gelinder Schreck durch die Bettreihen, als käme ein hoher Offizier, um unter Straffälligen Musterung zu halten. Einmal gegen Abend sitzen Marie Bernarde und Marie Thérèse allein in der Ruhekammer der Pflegerinnen.

»Ich kenne Sie nun schon so lange Zeit, ma Sœur«, beginnt die ehemalige Meisterin, »und glauben Sie mir, mein Respekt vor Ihnen wächst von Tag zu Tag. Wie verstehn Sie es doch, die Menschen zu bezaubern und im Handumdrehn die Widerspenstigsten zu gewinnen. Ich bin Ihre alte Lehrerin gewesen in Lourdes. Jetzt aber müßt ich Ihre Schülerin werden in der schweren Kunst des Umgangs mit den armen Seelen, die wir alle sind. Wie machen Sie das nur, Marie Bernarde?«

»Aber, ma Mère«, erwidert Bernadette erstaunt, »was mache ich denn? Ich mache doch gar nichts ...«

»Ja, das ist es eben, ma Sœur«, nickt die Vauzous lange Zeit. »Genau das ist es. Sie machen gar nichts ...«

Man hört, daß der Kaiser und die Kaiserin nach England ins Exil gegangen sind. Die Zeitung bringt in Riesenlettern einen neuen Namen: Gambetta. Wiederum werden Kämpfe gemeldet. Neue Verwundete kommen. Dann ist auch das vorüber und alles vorüber. Aber die Ereignisse gehen schneller dahin, als zerschmetterte Knochen, eiternde Eingeweide und andere Kriegsverletzungen heilen. Das Jahr ist schon ziemlich fortgeschritten, als sich der Konvent von Sainte Gildarde wieder mit den rückkehrenden Schwestern füllt und auch Marie Bernarde und Marie Thérèse abgelöst werden. Beide gehen eines Abends zum letztenmal aus dem Hospital heim, jede mit ihrem kleinen Koffer in der Hand. Mère Vauzous bemerkt, daß Bernadette den linken Fuß ein wenig nachschleppt. Sie sagt nichts, denn ihr Herz wird wieder von dem ewigen Argwohn gequält: Aha, sie will mir zeigen, wie müde und verbraucht sie ist durch den langen Krankendienst.

In den folgenden Nächten wird Marie Thérèse Vauzous von einem Traum heimgesucht, der sich öfters wiederholt. Sie sieht die Grotte von Massabielle vor sich. Es ist aber nicht die Grotte, die sie kennt, sondern ein offener Schlund, der trotz der vielen brennenden Kerzen ins höllisch Unermessene führt. In der abgründigen Tiefe aber lauert das große Untier, der durch Hochmut gefallene Böse. An der Grotte rauscht nicht der Gave vorbei, sondern ein grauer Strom, mächtiger als die Loire. Nebel steigen auf. Im Uferwasser stehen Hunderte von Gestalten mit schmutzigen Verbänden, an Stöcken und Krücken, Verstümmelte mit Holzbeinen. Alle starren sehnsüchtig in die Grotte. Dort sieht man Bernadette. Sie ist ein halbwüchsiges Kind, das mit andern Kindern Auszählen spielt und einen Reigen aufführt, wobei sie in die Hände klatscht. Dann und wann aber lacht Bernadette so laut, ja so gellend auf, daß die Novizenmeisterin im Traum vor Scham errötet. Es scheint der Träumerin, als lache dieses spielende Kind die ganze Welt aus ...

Dieser Traum, der sie in mehreren Nächten verfolgt, versetzt Marie Thérèse in heftige Bestürzung. Soll sie, vierzehn Jahre nach den Erscheinungen von Massabielle, in diesem beklemmenden Nachtgebild einen prophetischen Wink erkennen, der ihren alten Zweifeln recht gibt? Sie betet nächtelang um Erleuchtung. Sie betet, daß Marie Bernarde nicht sei, was sie argwöhnt. Sie betet, daß Marie Bernarde den Fuß nicht aus affektierter Wichtigtuerei nachschleppen möge, ein Umstand, der ihre Erzieherinnenseele immer wieder mit verborgenem Unwillen erfüllt. Eines Abends tritt Marie Thérèse Vauzous in Marie Bernardes Zelle. Sie ist grau im Gesicht wie nach einer Krankheit:

»Helfen Sie mir, Sœur Marie Bernarde«, bittet sie, und ihr ganzes Wesen tut eine Verstörung kund, die Bernadette nicht für möglich gehalten hätte.

»O wie gerne, ma Mère. Womit aber könnt ich Ihnen helfen? ...«

»Nur Sie können mir helfen, ma Sœur, denn es handelt sich ja um Sie ...«

»Um mich?« fragt Bernadette erschrocken. »Habe ich vielleicht einen Fehler begangen, ma Mère?«

»Wenn ich das nur wüßte, ma Sœur«, stöhnt die andere auf. »Ich habe kein Recht, so zu Ihnen zu sprechen. Ich bin weder Ihr Beichtvater noch Ihre Oberin, und nicht einmal die hätten das Recht dazu. Aber ich bitte ja um Ihre Hilfe, weil diese Ungewißheit mich martert ...«

»Von welcher Ungewißheit sprechen Sie, ma Mère?«

Marie Thérèse lehnt sich an die Wand, als könne sie ohne Stütze nicht aufrecht stehn:

»Bernadette Soubirous, helfen Sie mir! Denn ich kann Ihnen nicht glauben ...«

»Hab ich in der letzten Zeit eine Unwahrheit gesagt, ma Mère?« forscht Bernadette ganz bestürzt.

»Sie sagen nie eine Unwahrheit, ma Sœur ... Und doch, über die große Wahrheit oder Unwahrheit Ihres Lebens bin ich mit mir zerfallen.«

»Das versteh ich nicht, ma Mère«, sagt Bernadette und senkt ihren Blick.

»Ich habe mein Vorhaben gehalten, Sœur Marie Bernarde, und seit Anbeginn nicht mehr mit Ihnen über die Erscheinungen gesprochen. Ich weiß, daß es sehr zuchtlos von mir ist, wenn ich dieses mein Vorhaben jetzt verleugne. Ich weiß auch, daß es eine unverzeihliche Verfehlung ist, gegen die Entscheidung einer theologischen Untersuchungskommission, gegen das Urteil eines Bischofs, ja gegen die Meinung des Heiligen Vaters im Zweifel zu verharren. Gott sieht aber mein verworfenes Herz, und es ist so, ich kann's nicht abstellen. Deshalb komme ich zu Ihnen, ma Sœur, um Hilfe zu erbitten.«

Bernadette hebt langsam und ernst ihre Augen:

»Und was glauben Sie mir nicht, ma Mère?«

»Oh, das ist eine gute Frage, Marie Bernarde! Ich glaube Ihnen, daß Sie Visionen gehabt haben, und zwar sogar einige Male. Ich vermag Ihnen aber nicht zu glauben, daß diese Visionen Patois gesprochen und sich ausdrücklich selbst benannt haben. Seit Jahren bemühe ich mich nun um Sie, in Gedanken und Gebeten. Davon kann ich Rechenschaft ablegen vor Gott. Ich kenne Ihr kindhaft liebes, Ihr verspieltes Wesen. Dieses, wie soll ich's nur nennen, dieses künstlerische Wesen. Ihre fast zügellose Phantasie kenne ich aus den Skizzen, die Sie zu Ihren Stickereien angefertigt haben. Vielleicht hat diese zügellose Phantasie damals zu den wirklichen Erscheinungen, die Sie hatten, das Wesentliche hinzugegaukelt, und Sie haben selbst nicht mehr unterscheiden können zwischen wahr und unwahr. Vielleicht hat sogar seinerzeit in jenen Februartagen das Gerede der Frauen und Mädchen um Sie diese Phantasie noch weiter erhitzt, so daß Sie dann zu sehen und zu hören meinten, was man Ihnen vorher eingeredet hat. Sie verstehen es, die Seelen der Menschen zu bannen wie kein anderer Mensch. Auch das ist eine Gabe von Gott, aber eine gefährliche Gabe. So mag eins das andre gefördert haben. Sie waren ein Kind. Sie sind's noch immer. Sie konnten die Scheidungslinie zwischen echter Vision und Phantasie selbst nicht mehr wahrnehmen. Das Erzählte wurde immer mehr Wirklichkeit. Einmal auf diesem Wege, gab es für Sie keine Rückkehr mehr. Durch Ihre Gabe, die Herzen zu rühren, gewannen Sie die Herren der Kommission, so wie Sie vorher den hochwürdigen Herrn Bischof von Montpellier weinen machten mit Ihren Worten. Kann es nicht so gewesen sein, mein geliebtes Kind?«

»Nein! Es ist nicht so gewesen, ma Mère«, sagt Bernadette still.

»Oh, Sie würden mich von einem grausamen Leiden befreien, könnten Sie mich überzeugen. So aber bin ich Unwürdige außer den Gottesleugnern wahrscheinlich die einzige, die noch Zweifel bewahrt. Es ist namenlos schrecklich, daß ich so mit Ihnen sprechen muß. Aber nennen Sie mir doch ein Zeichen, das mir helfen könnte!«

»Sind die Heilungen durch die Quelle keine Zeichen?« fragt Bernadette nach einer langen Pause.

»Sie sind ein großes Zeichen, ma Sœur, das größte, das möglich ist. Aber ich verlange nach einem andern Zeichen, das Sie allein betrifft, Marie Bernarde ... Hören Sie zu. Ich will Ihnen etwas aus der Zeit meines Noviziats erzählen. Damals lebte noch in unserm Hause die alte Sœur Raymonde. Sie war sehr ähnlich unserer jüngst verklärten Sœur Sophie, nur hatte sie in ihren kräftigen Tagen viel, viel mehr gearbeitet, und zwar im Pfründner- und Siechenhaus von Nîmes, wo man die hinfälligen Greise betreut, was ja, wie Sie wissen, die widerwärtigste Pflege ist. Doch Sœur Raymonde war auch die allererste im Gebet und in der Betrachtung. Und dabei so still und heiter wie ein Kind. Von ihr hat die Welt nichts gewußt. Sie behauptete nicht, Erscheinungen zu haben. Weder die Zeitungen noch ein hochwürdiger Bischof sprachen und schrieben über sie. Bis vielleicht auf ihren Beichtvater kannte niemand ihre hochbegnadete Seele. Wir alle wußten es nicht bis zu ihrem Tode, daß sie wirklich die schönste aller Gnaden empfangen hatte und auf den Handflächen die Wundmale trug ...«

Bernadette schüttelt heftig, ja empört den Kopf.

»Ich glaube, daß ich Ihnen nicht helfen kann, ma Mère«, sagt sie kurz. Dann setzt sie sich auf ihre Bettstatt und bleibt regungslos. Auch die Vauzous starrt sie an ohne Bewegung. Nach einer Weile aber hebt Bernadette den Kopf, als habe sie einen plötzlichen Einfall und lächelt schwach:

»Vielleicht gibt es doch ein Zeichen für Sie, ma Mère«, flüstert sie und hebt langsam den Rock, ihr linkes Bein entblößend. Das Knie ist furchtbar entstellt von einem Tumor, der fast die Größe eines Kinderkopfes hat. Die ältere Nonne wankt unter diesem Anblick. Sie geht zur Tür. Sie kommt wieder zurück. Sie öffnet den Mund zum Reden. Sie bringt kein Wort hervor. Stumm bricht sie vor Bernadette nieder, von der Erkenntnis der Zusammenhänge gefällt.


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