Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel Sechs. Das Wut- und Wehgeheul des Gave

Die Mädchen haben mehrere Begegnungen, ehe sie an ihr Ziel gelangen.

Beim Pont Vieux, zwischen dem ersten Brückenpfeiler und der Fischerbude, liegt auf der leicht geneigten Uferböschung der gepflasterte Platz der Wäscherinnen. Ist das Wetter sonnig, so pflegen hier die Frauen von Lourdes in langen Reihen ihr Leinenzeug im Gave zu spülen, dessen Wasser den Ruf einer ungewöhnlich reinigenden und bleichenden Kraft hat. Dann mischt sich in das Rauschen des ewig querulierenden Flusses der hundertfältige Klatsch der Weiber und die energischen Schläge der vielen Wäschepracker. Heute freilich ist nur ein einziges Weib zur Stelle, das sich durch die Witterung nicht abschrecken läßt. Es ist die Piguno. Was der Spitzname Piguno bedeutet, das weiß kein Mensch. Sollte er etwa auf die Taubenhaftigkeit dieser Alten hinzuweisen versuchen, so wär's ein blanker Euphemismus von der Art, wie die Alten ein besonders tückisches Meer, den ›Wohlgesinnten Pontus‹ nannten, um ihn nicht durch die wahre Bezeichnung seines Wesens zu erzürnen. Die Piguno ist keine Taube, sondern eine wind- und wetterfeste Krähe, ein Hutzelweib mit verrunzeltem Gesicht, Ausbund der Neugier und beinah allwissend. Eigentlich heißt sie Maria Samaran und ist mit den Soubirous entfernt verwandt. Diese aber blicken mit einem gewissen Hochmut auf die Piguno herab. Denn niemand steht auf der gesellschaftlichen Stufenleiter so niedrig, daß er nicht andre fände, die zum Glück noch tiefer postiert sind.

»Heda, ihr Soubirous-Mädeln«, ruft die Piguno. »Wohin, wohin?«

»Die Eltern haben uns fortgeschickt, Tante Piguno«, schreit Marie durch die hohle Hand, denn bei dem Rauschen kann man sich nicht leicht verständigen. Die Piguno stemmt die roten Fäuste in die Hüften:

»Was für unmenschliche Eltern, bei der Allerseligsten Jungfrau! Keinen Hund jagt man vom Herd bei diesem Frost!«

Nach einer kurzen Überlegung ruft Bernadette:

»Aber Tante Piguno! Warum sollen wir nicht um Holz gehn, wenn Ihr selbst Euern Waschtag haltet bei diesem Frost?«

Es ist eine von jenen Bemerkungen des Mädchens Bernadette, welche die Nonne Vauzous unweigerlich für dreist erklären würde. Die Piguno, die sich nur selten auf den Mund geschlagen fühlt, kommt näher:

»Kann mir denken, daß es bei euch keine Heizung gibt. Euer Vater versteht es nicht, sich nach der Decke zu strecken. Und eure Mutter? Na, ich will eurer Mutter nichts Schlechtes nachsagen, weil ihr ja nichts dafür könnt, daß ihr die Kinder seid. Euren Eltern aber könnt ihr erzählen, daß die Piguno euch einen guten Rat gegeben hat ...« Und mit gesenkter Stimme tuschelt sie: »Der Verwalter von Monsieur de Lafite hat mehrere Pappeln schlagen lassen, auf der Chalet-Insel, am Ende des Parks, gleich beim Gitter. Dort findet ihr Holz, o jemineh, für sieben Familien ...«

»Wir danken ergebenst für Ihre Güte, Madame«, knickst Jeanne Abadie.

Die drei nehmen nicht denselben Weg wie François Soubirous mit seinem pestilenzialischen Karren am heutigen Morgen. Sie laufen einen Pfad landeinwärts. Dieser Pfad führt zur Savy-Mühle am linken Ufer des Bachs. Dort können sie später über den Mühlsteg auf die Chalet-Insel gelangen. Bernadette denkt sehr langsam. Die Vorstellung, über den Parkzaun kriechen zu müssen, um das frische Holz zu stehlen, erfüllt sie mit Unbehagen. Zugleich aber ist es ihr auch unangenehm, sich als ›fades Huhn‹ zu erweisen und den beiden Lebenstüchtigen ihre Bedenken einzugestehn. Man hat bereits die Mitte des Weges erreicht, ehe Bernadette eine Einwendung versucht:

»Das Pappelholz ist immer grün und schlecht. Nach all dem Regen wird es ganz naß sein und nur rauchen ...«

»Holz ist Holz«, meint die Abadie. »Wir können nicht wählen wie die Kunden im Laden.«

»Aber wir haben ja kein Messer, um die Äste abzuschneiden«, versucht Bernadette noch einmal ihr Glück.

»Ich hab Papas Taschenmesser mitgenommen«, triumphiert Marie und zieht das plumpe Ding aus der Schürzentasche. Das Gespräch wird von Leyrisse und seinen grunzenden Schweinen unterbrochen, die den Heimweg von Massabielle ums Mittagläuten angetreten haben. Der gute Sauhirt grinst übers ganze Gesicht und zieht vor Bernadette eigens die Mütze. Sie lächelt ihn an.

»Oh, Leyrisse hat für Bernadette eine große Vorliebe«, spottet Marie, die, um der überlegenen Jeanne zu gefallen, sich dann und wann auf Bernadettes Kosten lustig macht. »Die beiden sind ja Kollegen ...«

»Ich hab keine Schweine gehütet«, stellt Bernadette ohne Gekränktheit fest, »sondern Ziegen und Schafe ... Ah, wenn ihr wüßtet, wie süß so ein ganz kleines Lamm ist, ein fast neugeborenes, wenn's einem im Schoß liegt ...«

Marie beginnt sich wieder über ihre Schwester zu ärgern, denn sie fühlt sich als Städterin und verachtet Viehzucht und Landwirtschaft.

»Geh, du Blöde, mit deinem süßen Wollknäuel ... Wenn nur etwas ganz kleinwinzig und niedlich ist, dann wird sie verrückt ...«

»Ich hab Schweinernes lieber als Lämmernes«, behauptet Jeanne Abadie kennerisch, obwohl man auch in ihrer Familie nur selten zu beiderlei Genüssen kommt.

Die Schleuse am Sägewerk ist zur Zeit geschlossen, damit das Staubassin sich füllen kann. Wenn das geschieht, so senkt sich jedesmal der Wasserstand des Baches so tief, daß die Räder der Savy-Mühle stillestehn. Antoine Nicolau, der junge Müller, benutzt die Gelegenheit, um ein paar der schadhaften Radschaufeln auszuflicken. Mutter Nicolau steht vor der Tür, denn obwohl die Kälte eher schärfer geworden ist, hat sich das Wetter ein wenig aufgeheitert. Die Windstöße haben die Wolkendecke zwar nicht zerrissen. Aber die Wintersonne dahinter durchdrängt sie mit einem feuchten Licht, das die Chalet-Insel mit leichten Schauern übersprüht.

»Das sind die Soubirous-Kinder«, sagt die Müllerin. »Das dritte Mädel kenn ich nicht.«

»Ich glaub, die heißt Abadie, ein naseweiser Fratz«, meint Antoine, legt das Handwerkszeug beiseite und strafft seine Gestalt. Er ist ein hübscher großer Junge mit treuen Augen und einem schwarzen, ausgezwirbelten Schnurrbart, auf den er nicht wenig stolz ist. Die Mädchen grüßen zur Mutter Nicolau hinüber.

»Wie geht es euren Eltern«, ruft die Müllerin. »Richtet eine schöne Empfehlung aus von der Savy-Mühle!«

Obwohl François Soubirous kein Mühlenbesitzer mehr ist, sondern nur ein arbeitsloser Tagelöhner, so befleißigt sich Madame Nicolau dennoch einer herablassenden Freundlichkeit, hat sie es doch mit ehemaligen Standesgenossen zu tun.

»Und mir wünscht niemand einen guten Tag«, beklagt sich Antoine.

Da geht Bernadette auf ihn zu und reicht ihm die Hand:

»Verzeihn Sie bitte, Monsieur Nicolau!«

»Und wohin des Wegs, meine Damen?«

»Oh, wir bummeln nur ein bißchen so herum«, erwidert Marie vorsichtig, »und vielleicht nehmen wir vom Weg eine Welle Reisig mit nach Hause ...«

»Ist es erlaubt, den Mühlsteg zu benutzen?« fragt Jeanne Abadie mit gewohnter Höflichkeit. Antoine macht eine galante Geste:

»Von den Damen wird keine Brückenmaut eingehoben.«

Der Steg besteht aus drei schmalen Brettern mit fast ebenso breiten Spalten dazwischen. Marie und Jeanne balancieren geschwind hinüber. Bernadette bleibt in der Mitte stehn und beugt sich tief hinab, um durch die Spalten des Stegs die hüpfenden Wellchen des Savy zu betrachten. Sie liebt es über alles, ins Wasser zu schaun. Die Stimmen der Müllersleute hört sie nicht mehr: »Wie schnell man herunterkommt, wenn man nicht zusieht«, meint die Nicolau. »Jetzt schicken die Soubirous ihre Kinder Holz stehlen in den Schloßpark ...«

»Warum nicht«, versetzt Antoine großmütig. »Vielleicht stehlen sie gar kein Holz bei Lafite, sondern holen nur ein bißchen Reisig im Saillet-Wäldchen. Das tun wir doch auch ...«

Mutter Nicolau aber runzelt die Stirn:

»Wer spricht von Reisig? Der gute Soubirous hat doch schon einmal Pech gehabt mit frisch geschlagenem Holz ...«

Antoine nimmt den Hammer und beginnt das neue Brett an die bemooste Radschaufel anzunageln. Die Hammerschläge des Müllers verfolgen die Mädchen auf ihrem ganzen Weg. Jetzt haben sie das Parktor erreicht, das zum Herrenhaus führt. Eine breite Platanenallee gewährt den Durchblick zur Rampe. In dieser Allee geht ein einsamer Herr in einem weiten Mantel mit großen Schritten auf und ab. Er scheint äußerst erbittert zu sein, denn er gibt auf den Gruß der Kinder keine Antwort, sondern spricht mit taktierenden Armen zu sich selbst. Hie und da macht er Eintragungen in ein Taschenbüchlein.

»Das ist Monsieur de Lafite, der Cousin aus Paris«, flüstert Jeanne Abadie ehrfurchtsvoll. »Sicher zählt er jetzt alle Bäume des Parks zusammen und berechnet, was sie kosten ...«

»Guter Gott«, erschrickt Marie. »Da wär's besser, wir würden den Rat der Piguno nicht befolgen ...«

»Freilich, das ist jetzt ganz unmöglich«, ruft Bernadette und fühlt sich befreit.

»Wie seid ihr doch feige, ihr Soubirous«, erklärt die Abadie, läuft aber ebenso schnell wie die andern davon, um den Augen des vermeintlichen Baumzählers zu entkommen. Und dies war die vierte Begegnung der Mädchen.

Sie stapfen nun durch die weglose, feuchte, stark bebuschte Heide. Bernadette beginnt aus den Sträuchern Ruten zu knicken. Die beiden Lebenstüchtigen lachen:

»An dem Zeug da wird sich niemand die Fingerspitzen verbrennen.«

»Am besten, man geht hier immer weiter«, sagt Bernadette, die diese Gegend kaum kennt. »Man wird schon weiter unten mehr finden ...«

Jeanne Abadie, eine patente Geographin, deutet mit der Hand großartig nach Westen:

»Wenn wir da weiterlaufen, werden wir leicht in Betharram sein, ohne etwas gefunden zu haben ...«

Sie irrt sich insofern, als ein natürliches Hindernis, der Zusammenfluß des Mühlbachs mit dem Gave, sich ihnen in den Weg stellt. Sie haben die Landzunge voll Geröll und Sand unter den Füßen und können die schwarze Brandstelle sehn, wo Vater Soubirous heute, um das Entgelt von fünfundzwanzig Sous, sein Autodafé fleischlichen Elends abgehalten hat. Zu ihrer Linken zieht sich der niedrige bewaldete Rücken des Spelunkenberges hin, und die Höhle Massabielle liegt da im Licht- und Schattenspiel des träge ziehenden Gewölks.

»Da«, schreit die Abadie. »Seht nur dort die vielen Knochen ...« Und sie zeigt mit den Fingern auf ein paar weißliche Hammel- oder Rindsknochen, die das Wasser an den Fuß des Grottenfelsens gespült hat. Die leuchten unterm Geröll deutlich hervor.

»Wenn man diese Knochen an Gramont, den Lumpenhändler, verkauft«, berechnet Marie eilig, »so bekommt man zwei bis drei Sous mindestens. Dafür gibt einem Maisongrosse ein großes Weißbrot oder einen ganzen Kristall Kandiszucker ...«

»Halbpart, das ist das wenigste«, eifert Jeanne. »Ich hab die Knochen zuerst gesehn. Eigentlich gehören sie mir ...«

Mit wildem Schwung wirft sie ihre Holzschuhe ans andre Ufer des Baches, der nicht breiter ist als sieben Schritte. Und schon watet sie entschlossen durch das seichte Wasser, das ihr an der tiefsten Stelle kaum bis zum Knie reicht. Als heute am Vormittag Leyrisse dieses Wasser durchschritt, als sei es keines, ging es ihm bis an die Hüften.

»Huh hih«, quiekt die Abadie. »Das schneidet wie Messer. So was von Kälte ...«

Marie hat Angst, um ihr Geschäft zu kommen. Eilig nimmt sie die Pantinen in die Hand, rafft sehr hoch den Rock und folgt der anderen durch den eisigen Bach. Dabei stößt sie immerfort spitze Entsetzenslaute aus. Bernadette wird von einem merkwürdigen, ihr ganz und gar unbekannten Abscheu ergriffen. Der Anblick der nackten leuchtenden Schenkel ihrer Schwester, mit der sie doch das Bette teilt, flößt ihr jetzt, wie etwas ungemein Häßliches, einen solchen Ekel ein, daß sie sich abwendet. Die beiden, die inzwischen das andere Ufer erreicht haben, setzen sich hin, reiben wie toll ihre Beine unter Zähneklappern. Die Tränen rinnen ihnen über die Wangen.

»Und was wird aus mir?« ruft Bernadette ihnen zu.

»Komm gefälligst auch herüber«, schnattert die Abadie.

»Das darf sie nicht«, wendet die besorgte Schwester sofort ein. »Sonst kriegt sie einen Schnupfen, und dann wird ihr Asthma so schlimm, daß man die ganze Nacht nicht schlafen kann ...«

»Ja, ich krieg sicher einen Schnupfen und Husten, und Maman wird entsetzlich schimpfen und mich schlagen ...«

Marie springt in einem Anfall von Großmut auf:

»Warte du! Ich komm zu dir und werd dich herübertragen, huckepack ...«

»O nein, dazu bist du doch viel zu klein und schwach, Marie ... Wir würden beide ins Wasser plumpsen ... Vielleicht findet ihr ein paar große Steine, über die ich springen kann ...«

»Große Steine«, höhnt die Abadie. »Dazu mußt du dir erst große Männer mieten ...«

»Aber du könntest mich hinübertragen, Jeanne, du bist von uns die Größte und Stärkste ...«

Jeanne Abadie, die sonst so manierliche Vorzugsschülerin, wird von einem ordinären Zorn gepackt:

»Danke ergebenst für die freundliche Einladung! Noch einmal in diese gefrorene Sauce hinein? Nicht für drei Kilo Kandiszucker. Und wenn du keine Courage im Leib hast, und wenn du dich vor deiner Frau Mama fürchtest, dann bleib hocken, wo du bist, du zimperliche Ziege. Der Teufel soll dich holen!«

Bernadette besitzt die kindhafte Eigenschaft, sich alles Gesprochene sofort vorzustellen. Es gibt für sie keine leeren Redewendungen. Die abgebrauchteste Phrase erfüllt sich mit Wirklichkeit. Der Teufel steht somit unsichtbar hinter ihr, um sie zu holen, nur weil Jeanne Abadie es so will:

»Das wünschst du mir?« schreit sie herüber. »Wenn du mir das wünschst, dann bist du nicht meine Freundin, und ich will nie wieder was mit dir zu tun haben!«

Empört dreht sie der Grotte den Rücken und hört nur noch Maries Stimme:

»He, dort oben, da gibt's Dürrlinge ... Wart auf uns, Bernadette, wir brauchen dich nicht ...«

Bernadette beruhigt sich langsam. Sie kann die Holzsammlerinnen noch sehen, die zwischen dem Felsen und dem Wäldchen gebückt hin und her huschen. Dennoch fühlt sie sich allein jetzt. Jedesmal, wenn man sie allein läßt, empfindet sie dasselbe wohlige Gefühl der Entspannung und Heimkehr in eine Existenz, so selig, still und gleichmütig, wie man sie unter Menschen nicht führen darf. Auch die äußere Ruhe wird jetzt durch keinen Windhauch gestört. Die lichtdurchtränkte Wolkendecke steht unbeweglich. Bernadette blickt umher. Dort verschmelzen die schwach blitzenden Wellchen des Savy mit den rasenden Gischtwirbeln des Gave. Die Grotte Massabielle ist bis zum Rand gefüllt mit dem rosig stetigen Licht einer Sonne, die sich verbirgt. Fast alle Schatten sind verschwunden. Den einzigen dunklen Fleck bildet die spitzbogenförmige Nische, die rechter Hand im Innern der Grotte in die Tiefe des Felsens führt. Unbeweglich greift darunter der Arm der wilden Rose aus dem Dorngesträuch. Bernadette horcht umher. Es ist nichts zu vernehmen als die sich entfernenden Stimmen der Mädchen und der alte, ungehobelte Zank des Gave, den sie kennt wie das Rauschen in ihren eigenen Ohren, wenn man nachts aus einem Angsttraum auffährt.

Wir brauchen dich nicht, denkt sie jetzt ohne Erbitterung. Zugleich aber erwacht in ihr das Pflichtgefühl: Ich bin doch die Älteste und darf mich um die Arbeit nicht drücken. Das wär ein schlechtes Beispiel. Und wenn ich auch so oft Asthma habe, so bin ich doch keine zimperliche Ziege, und wegen dem bißchen kalten Wasser muß ich auch nicht gleich einen Schnupfen bekommen. Dumm nur, daß Maman mich gezwungen hat, Strümpfe anzuziehen ... Bernadette setzt sich auf denselben Stein, wo vor einigen Stunden der Sauhirt mit ihrem Vater das Brot und den Speck geteilt hat. Sie tritt aus den Pantinen und beginnt den weißen Wollstrumpf vom rechten Fuß zu streifen. Noch aber ist sie nicht am Knöchel angelangt, als sich irgend etwas verwandelt hat. Sie lugt mit ihren scharfen Kinderaugen nach allen Seiten. Da ist alles beim alten geblieben. Niemand ist gekommen. Nur die Wolken sind wieder undurchlässig, und das Licht ist bleiern. Es vergeht einige Zeit, ehe die langsame Bernadette erkennt, daß die Veränderung sich nicht vor ihren Augen abspielt, sondern vor ihren Ohren. Der Gave hat die Tonart gewechselt.

Es ist, als ob der Gave jetzt kein Fluß sei, sondern eine Landstraße, und zwar die Landstraße von Tarbes, wenn in Lourdes Wochenmarkt gehalten wird, zur lebendigsten Zeit des Jahres, zur Osterzeit. Hundert Leiterwagen, Bauernkarren, Postomnibusse, Landauer, Victorias, Tilburys knattern über diese furchige Straße. Und eine Abteilung der Lourder Dragoner dazu. Zum Huftrab, Räderrollen, Peitschenknallen und Gewieher gesellt sich das schmerzhaft trotzige Yah der Lastesel. Und all das kommt wie eine wilde, angsterfüllte Flucht, wie ein staubverhülltes Rennen auf Bernadette zu, und zwar stromaufwärts. Im Augenblick muß es da sein und über sie hinwegpreschen. Sie glaubt im keifenden Stimmengewirr, aus dem wehgellende Frauenschreie hervorstechen, einzelne Stimmen, einzelne Rufe, einzelne Sätze zu unterscheiden: »Pack dich fort, du – Weg mit dir! – Rette dich! – Der Teufel soll dich holen!«

Ja, immer wieder Jeannes Fluch! Das Ganze braust ununterbrochen heran und steht ununterbrochen still. Bernadette preßt die Zähne zusammen. Das hab ich doch schon einmal erlebt, aber wo, aber wann? Sie erdenkt's nicht. Da ist es aber auch schon vorüber und wie niemals gewesen, dieses Wutgeheul, dieses Wehgeheul. Und der Gave poltert wieder im alten Ton.

Bernadette schüttelt sich ein wenig, um das Erlebnis zu vergessen. Den rechten Strumpf hält sie jetzt in der Hand. Dann lugt sie wieder nach allen Seiten, diesmal scheu. Ihr Blick bleibt an der Grotte hängen. Sturmgeschüttelt krümmt sich der Heckenrosenzweig unter der Nische in der vollkommenen Windstille.


 << zurück weiter >>