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Kapitel Achtundzwanzig. A. Lacadé wagt einen Staatsstreich

Der Maire strahlt. Unternehmungslustig stößt der eisengraue Block seines dichten Kinnbarts unter den violetten Hängebacken vor. Auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters im Hotel de Ville liegt nämlich das Gutachten seines Freundes, des braven Apothekers Latour aus Trie. Es ist nicht nur ein freundschaftlich gefälliger, sondern ein hochwissenschaftlicher günstiger Befund über die Quellprobe von Massabielle. Adolphe Lacadé versteht nichts von Chemie, er versteht aber etwas vom propagandistischen Wohlklang hochtrabender Fremdwörter. In der sauberen Aufstellung Latours – sie gleicht dem Riesenrezept einer medizinischen Leuchte – finden sich schon unter der ersten Nummer Chlorverbindungen mit Kalk und Magnesium, und zwar, wie es ausdrücklich heißt, in größten Mengen. Chlor ist gut. Kalk ist gut und Magnesium ist gut. Alle Ärzte verschreiben Chlor und Kalk und Magnesium. Wie hübsch von diesen drei Koryphäen der Pharmazeutik, daß sie sich in ein und demselben Wässerchen zu einer heilsamen Einheit mischen. Das ist aber erst Nummer Eins, denkt Lacadé schmunzelnd, indem er sich immer wieder vertieft in diese angenehme Abrechnung, durch die schon die Fata Morgana noch angenehmerer Abrechnungen hindurchschimmert. Hinter den Chloraten marschieren in geschlossener Ordnung die Karbonate. Diese Karbonate sind weiß Gott nicht schlechter als jene Chlorate, insbesondere, wenn sie sich mit Soda verbinden wie in der hier analysierten Wasserprobe. So viel weiß auch der alte Gourmand Lacadé von der Medizinalchemie, daß nach einem Diner von zwölf Gängen ein Löffel Sodabikarbonat die erwünschte Erlösung bringt. Sieh einmal an, diese Erlösung der Völlerer serviert uns die Lourdes-Quelle gratis. Über den Wert der Silikate, die an dritter Stelle folgen, ist der Bürgermeister weniger sicher. Aber warum soll er diesen Silikaten mißtrauen, wenn sie gepaart mit Aluminium auftreten, das vermutlich ein zuverlässiges Metall ist? Daß sich aber auch Eisenoxyd, welches man bleichsüchtigen Kindern eingibt, und belebender Phosphor einfinden, das ist beinah schon zuviel des Guten. Bleibt nur noch die »organische Materie«, die als Nummer Sieben den Reigen schließt. Das Vorhandensein dieser organischen Materie, in der gewissermaßen das Geheimnis steckt, befriedigt Lacadé ausnehmend. Es klingt so wundersam philosophisch und stellt den von der Wissenschaft noch ungeklärten Rest dar, in dem sich der Nervenheilstoff verbergen mag, von dem Doktor Lacrampe im Café Français unlängst gesprochen hat. Apotheker Latour fügt dem positiven Teil seines Befundes ein negatives Sätzchen mit einem gewissen Nachdruck hinzu: »Wir konstatieren in der Zusammensetzung dieses Wassers das gänzliche Fehlen von Schwefel.« Lacadé reibt sich die Hände. Auf den Schwefel will er gern verzichten. Er wendet sich nun mit steigendem Vergnügen dem Résumé Latours zu:

»Die Besonderheit dieses Quellwassers«, schreibt dieser, »ist äußerst bemerkenswert. Wir müssen zu seinen Gunsten nicht nur die ihm eignende Leichtigkeit anführen, die der Verdauung so zuträglich ist, sondern darüber hinaus eine erfrischende Kraft, die den Lebensprozeß im Ganzen fördert. Wir glauben in Anbetracht der außerordentlichen chemischen Verbindungen, die den Wert der Quelle bedingen, nicht zu weit zu gehen, wenn wir annehmen, die medizinische Wissenschaft werde in Kürze die Quelle von Massabielle ihrer Heilkraft gemäß an die Spitze unserer heimischen Kurgewässer stellen.«

Im gewundenen Expertenstil wird hier mehr gesagt, als man wünschen kann. Die Anrufung der medizinischen Wissenschaft bedeutet schon einen Druck auf dieselbe. Der große Filhol wird nicht zögern, das Urteil des kleinen Latour zu bestätigen, denn auch unterm Himmel der Forschung hackt eine Krähe der andern nicht die Augen aus. Doch Schritt für Schritt, Lacadé. Den Filhol benötigen wir noch nicht. Filhol reite die Attacke zuletzt und entscheide den Sieg! Seine Analyse wird nach Jahresfrist schon die Etiketten der Flaschen zieren, die von der »Lourder Kurgesellschaft« in die weite Welt versandt werden sollen.

Vorerst muß ein anderer Kampf gewonnen sein, ein Kampf freilich, dessen strategische Vorbereitung durch den korrekten Massy, den superklugen Dutour, den tölpelhaften Jacomet auf das schmählichste geschädigt worden ist. Gegen diese zaghaften Federfuchser, die alle an der bürokratischen Schnur zappeln, muß endlich ein Mann aufstehn, ein Mann der Tat und Wirklichkeit, der den gordischen Knoten zerhaut. Wer sonst in Lourdes könnte dieser kommerzielle Alexander sein als Sie, Adolphe Lacadé? Um diese große Zukunft aufzubauen, gilt es, die Grotte und die Quelle sicherzustellen. Dutour und Jacomet haben mit unmoralischer Torheit Bernadette und ihre Familie verfolgt, um den Staat gegen ein Wunder zu verteidigen. Sie mußten scheitern an der Armut, Einfalt und Unschuld. Lacadé hat das Wunder selbst angegriffen und erlegt. Dessen ist er nun gewiß, während er das Gutachten Latours glattstreicht.

Nun aber erhebt sich die wichtigste Frage: wie entreißt man die Grotte der Dame, das heißt dem Aberglauben, der Verzückung am Unerklärlichen und der Sehnsucht aller Menschenkinder nach dem Märchen? Der Staat hat versagt. Die Kirche hat versagt. Beide sind zusammengeklappt vor den Zwanzigtausend, vor der »Volksbewegung«, die da sehr unvermutet ihnen über den Hals gekommen ist. Staat und Kirche fürchten jedes eigene Willensbegehren, das in den widerspenstigen Massen lauert. Der tiefste Beweggrund beider so gefährdeter Institutionen ist die Angst vor dem Eigenwillen der Masse. Der Beweggrund aber, der Lacadé antreibt, ist der aufrichtigste und mächtigste Beweggrund dieses Zeitalters, das gute Geschäft.

Der Bürgermeister hat die Ostertage – sie liegen ziemlich früh in diesem Jahr – untätig, aber nicht müßig vorbeigehen lassen. Auf seinem Schreibtische liegen in hohen, vergilbten Stößen sämtliche Gesetze, Erlässe, Ordonnanzen, Verfügungen der französischen Regierung, die der Gemeinde Lourdes seit dem großen Jahre 1789 zugegangen sind. Lacadé hat den Wust gewissenhaft durchforscht. Ihm ist es selbst nicht voll bewußt gewesen, in welch hohem Grade die Verfassung Frankreichs den Ortsgemeinden Autonomie und freies Handeln zubilligt. Ein Bürgermeister ist ein absoluter König in seinem Bereich. Er wird nicht ernannt, sondern frei von der Bevölkerung erwählt. Niemand darf ihn in seiner Eigenschaft als Bürgermeister absetzen, wenn nicht das Gemeindevolk. Er ist in allen staatlichen Belangen der Beauftragte, aber nicht der Untergebene des Präfekten. Ihm allein steht es zu, Verfügungen über das zu treffen, was seine Gemeinde im engeren Sinn angeht. Vital Dutour hat ihn schon vor vielen Wochen auf einen gewissen, sehr praktikablen Erlaß aufmerksam gemacht. Dutour aber ist der echte Jurist, der stets zwischen Für und Wider hängenbleibt. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, die Anregung des Staatsanwalts zu verwirklichen, anders allerdings, als dieser es sich denkt. Der Bürgermeister ruft seine zwei Sekretäre ins Zimmer, Capdeville und Courrèges: »Setzen Sie sich nieder und schreiben Sie!«

Mit Feldherrnschritten trägt Lacadé seinen Bauch beim Diktieren auf und ab:

»Rückgreifend auf die Gesetze vom 22. Dezember 1789, vom 28. August 1790 und vom 22. Juli 1791 und schließlich vom 18. Juli 1837, insgesamt die munizipale Verwaltung betreffend, wird kundgemacht ...«

Lacadé läßt die alten Jahreszahlen auf der Zunge zergehn. Solche historische Daten adeln den, der sie zu lebendiger Verwendung in den Mund nimmt. Mit dem Taschenkamm sein Haar aufsträhnend, diktiert er weiter, im verschnörkelten Amtsstil:

»In Anbetracht dessen, daß im Interesse der Religion den bedauerlichen Szenen vor der Grotte Massabielle ein Ende gesetzt werden soll ... Absatz!«

Die Schreiber wiederholen. Die Absätze, die Lacadé kommandiert, gleichen Schwertstreichen:

»In Anbetracht dessen, daß es Pflicht des Bürgermeisters ist, über die öffentliche Gesundheit zu wachen, – daß die einheimische und fremde Bevölkerung in großer Anzahl vom Quellwasser der erwähnten Grotte zu trinken beginnt, – daß es sich um einen starken Mineralbrunnen handelt, der erst nach wissenschaftlicher Analyse und nur gegen ärztliche Vorschrift dem Gebrauch des Publikums freigegeben werden kann, – in Anbetracht dessen, daß für diesen Gebrauch die behördliche Autorisation nötig ist, bestimme ich wie folgt ...«

»... bestimme ich wie folgt ...«, tönt das stolze Echo der Adjutanten.

Lacadé bleibt stehen, gibt seiner Korpulenz einen Schwung und diktiert, daß ihm die Schreiber kaum nachkommen:

»Artikel Eins: Es ist verboten, der obengenannten Quelle Wasser zu entnehmen. Artikel Zwei: Es ist gleichfalls verboten, das im Gemeindebesitz befindliche Ufer von Massabielle zu betreten. Artikel Drei: Es wird vor der Grotte von Massabielle eine Barriere aus Planken errichtet, um den Zugang zu sperren. Artikel Vier: Jede Übertretung dieser Bestimmungen wird nach dem Wortlaut des Gesetzes geahndet. Artikel Fünf: Der Kommissär der Polizei, der Chef der Gendarmerie und die Wachorgane der Gemeinde sind angewiesen, die strenge Einhaltung der obigen Bestimmungen zu überwachen. Gegeben zu Lourdes im Rathaus. Datum. Der Bürgermeister ...«

Lacadé holt Atem, nachdem er diese Ordre de Bataille heruntergeschmettert hat. Capdeville muß sogleich in köstlicher Rundschrift die Kundmachung ausfertigen. Courrèges aber wird mit einer Extrapost, die Cazenave schon bereit hält, nach Tarbes zum Präfekten geschickt. Jetzt ist es Mittag. Spätestens um zwei Uhr kann der Bote am Ziel sein. Denn also kalkuliert Lacadé: die Regierung wagt keinen entscheidenden Schritt, entweder aus Unentschlossenheit und Schwäche oder aus Gründen einer höheren Politik, die ich nicht durchschauen kann. Diese Politik mag mit der zweideutigen Haltung der Kirche zusammenhängen, die vor dem Mirakel davonläuft und es doch nicht ganz preisgibt. Gleichviel, ich, der Bürgermeister, bin eine autonome Behörde. Ich begehe mit der Sperrung der Grotte einen Staatsstreich, ohne meine Kompetenz zu überschreiten. Meiner Treu, ich bin kein kleiner Mann, ich stecke sie alle in die Tasche. Absetzen kann mich niemand. Die Präfektur und das Kultusministerium werden mir im Gegenteil für diesen meinen Schritt äußerst dankbar sein. Es ist der größte Dienst, den ich dem Präfekten erweisen kann. Der Baron muß ja nichts andres tun, als meine Verfügung paraphieren: »Gesehen. M.« Ein ganz kleines M. Er nimmt die Maßnahme des unabhängigen Bürgermeisters von Lourdes zur Kenntnis und sichert die Ausführung durch seine Organe. Weiter nichts! Wenn aber das Vidi des Präfekten unter meinem Namen steht, so ist dennoch er der Verantwortliche und nicht ich. Vor meinem Gemeinderat und vor der ganzen Bevölkerung kann ich auf das kleine M hinweisen und bedauernd mit den Achseln zucken. Man sollte mich zum Ministerpräsidenten von Frankreich machen ...

»Hören Sie, Courrèges«, sagt Lacadé, »wenn Sie nicht einen strikten Gegenbefehl bekommen, bleiben Sie in Tarbes und machen sich einen hübschen Abend. Ich warte bis fünf Uhr. Sind Sie bis dahin nicht zurück, gehe ich los ...«

Courrèges ist bis fünf Uhr nicht zurück. Er macht sich zweifellos einen hübschen Abend in Tarbes, das für die Viveurs von Lourdes die Rolle einer Großstadt spielt, besitzt es doch ein Vaudevilletheater. Das Vidi des Barons ist demnach gesichert. Lacadé geht los. Der Staatsanwalt und der Polizeikommissär erhalten Abschriften der Kundmachung, die in die Druckerei des »Lavedan« wandert. Da der Schlag mit betäubender Schnelligkeit geführt werden soll, ersucht der Bürgermeister Jacomet, unverzüglich zur Tat zu schreiten. In der Nacht marschieren unter Führung des Kommissärs einige Arbeiter vor der Grotte auf. Es ist noch nicht spät. Der Fackelschein lockt eine beträchtliche Menge von Zeugen an, die mit verbissenem Schweigen das Schauspiel verfolgen. Seit mehreren Tagen hat man unter der Nische der Dame eine Opferbüchse aufgestellt, um für die von der Erscheinung geforderte Kapelle Geld zu sammeln. Jacomet beschlagnahmt die Opferbüchse, die Kerzen, die Weihgeschenke, die Bilder, ja selbst die Blumen, die man vor den Madonnenbildern niedergelegt hat. Als er aber die frischen und die welken Sträuße eigenhändig in den Gave schleudern will, geht ein gefährlicher Ruck durch die inzwischen immer mehr angeschwollene Menge. Jacomet erschrickt. Er fühlt, wenn er das tut, wird man ihn packen und selbst in den Gave werfen. Sich jäh anders besinnend, geht er langsam zum Karren, auf dem der Weihetisch und die Devotionalien fortgeschafft werden sollen, und häuft nachdenklich die Blumenlast auf die andern Gegenstände. Die Arbeiter verschalen die Grotte mit einem Plankenzaun, der über Augenhöhe reicht. Ringsum werden Warnungstafeln aufgerichtet. Bernadette wäre nicht mehr imstande, vom andern Ufer des Baches die Felsnische mit der Dame zu sehen.

Bernadette aber bleibt in diesen Tagen zu Hause und geht nicht zur Grotte, denn seit Ostermontag hat die Dame sie nicht mehr herbeigerufen. Die Dame verreist jetzt oft und immer für längere Zeit. Bernadette nimmt die Entbehrung ohne Klage hin, denn sie weiß ja, die Allerschönste kommt zurück.

Am Morgen rückt Courrèges ziemlich früh ein. Das kleine M des Barons prangt auf der Reinschrift. Der Staatsstreich ist gelungen. Zumindest nach einer Seite hin. Die Dame hat endlich einen ebenbürtigen Gegner gefunden. Jetzt wird es sich zeigen, ob sie auch von diesem Schlag sich erholen kann. Eine Stunde später wird die Kundmachung an die Mauern von Lourdes gekleistert. Die Trommel Callets wirbelt erregend durch die Gassen und sammelt die Menschen um sich. Der kleine Polizist liebt die Ausruferei. Sie gibt ihm das Ansehen eines Redners und eines politischen Führers. Er hört seine krähende Stimme gern, wenn sie in schlechtem Französisch, mit falscher Betonung und gebirglerischem Singsang deklamiert:

»In Anbetracht dessen ... bestimme ich wie folgt ...«

 

Am Abend des großen Tages feiert man im Café Français den Abschied des Dichters Hyacinthe de Lafite. Seine Verwandten sind zu Ostern nach Lourdes zurückgekehrt. Das Schloß auf der Chalet-Insel ist nun überfüllt. Lafite fährt nach Paris heim, wo in der Rue des Martyrs seine kleine kahle Bude auf ihn wartet. Er sehnt sich nach Paris, obwohl er wird lächerliche Zeitungsartikel schmieren müssen, obwohl er die Enttäuschungen und Erniedrigungen schon in allen Gliedern vorfühlt, denen ein erfolgloser Künstler ausgesetzt ist. Victor Hugo, der einst eine freundliche Bemerkung über ihn fallen ließ, lebt schon das neunte Jahr in der glänzendsten aller Verbannungen. Théophile Gautier, der in Tarbes geboren ist wie Lafite selbst, begrüßt ihn dann und wann im Theater oder Café. Aber würde irgendwer Théophile Gautier fragen: »Haben Sie jemals etwas von diesem Lafite gelesen?« – er würde zweifellos die Antwort bekommen: »Hat dieser Lafite denn überhaupt je etwas geschrieben?« Hyacinthe de Lafite sehnt sich in Lourdes nach der Lichtstadt Paris, weiß aber zugleich, daß er sich in Paris nach dem Dunkelstädtchen Lourdes sehnen wird. Es waren das, ganz abgesehen von einigen gelungenen Versen, ein paar Monate, durchaus nicht unfruchtbar für sein Denken. Der Literat würde niemals zugeben, daß die Erregung, die seit dem elften Februar Lourdes schüttelt, auch ihn nicht unberührt gelassen hat. In der Tat gehört er zu jenen, welche nie bei der Grotte waren und Bernadette Soubirous' Entrückung kein einziges Mal mit Augen geschaut haben. Es gibt auf der Welt keinen größeren Stolz als den des geistigen Menschen. Dieser mag hungern und obdachlos sein, dennoch fühlt er sich von Gott nicht auf die Bühne des Lebens gestellt, sondern in die Hofloge geladen. Das Bewußtsein, nicht zu den Spielern der Komödie zu gehören, sondern zu ihren teilnahmslosen Beobachtern, gibt ihm eine berauschende Überlegenheit, die selbst ein entbehrungsreiches Leben erträglich macht. Der Geistige sieht in sich nicht das Geschöpf Gottes, sondern den Gast Gottes. Mit dieser erhabenen Stellung kann sich freilich kein Kaiser und kein Papst messen. Und daß sie den Menschen meist verborgen bleibt, das mehrt noch ihre heimliche Köstlichkeit. Deshalb betrachtet Hyacinthe, der arme Verwandte der reichen Lafites, die Affäre, die sich zwischen Bernadette, der Dame und den Mächten dieser Welt abspielt, von der unermeßlichen und eisigen Höhe des absoluten Geistes herab, der das menschliche Leben nur mit dem spielerischen Lichtstrahl der Ironie berührt. Lafite dünkt sich, mit einem Wort, selbst wie Gott, an den er nicht zu glauben meint.

Heute sind alle Tischgenossen erschienen, auch diejenigen, die, wie Estrade und Dozous, seit letzter Zeit das Café Progrès seltener betreten.

»Ich werde Sie vermissen«, sagt der alte Clarens, Lafites täglicher Umgang. »Wir haben uns doch in diesen Monaten vortrefflich zusammen gestritten. Wie soll ich nun ohne Ihren ewigen Widerspruch auskommen, Sie Nonconformist ohne Beispiel?!«

»Bedanken Sie sich bei der Dame, mein Freund«, scherzt Lafite. »Sie hat mich in die Flucht geschlagen ...«

Estrade nimmt dieses Geständnis ernst:

»Warum die Dame?« fragt er. »Ich finde, die Dame hat auch Ihnen nichts Böses gebracht ...«

»Nichts Böses?« lacht der Schriftsteller. »Ich meinerseits finde, die Dame sei eine höchst tyrannische Natur. Sie fordert, daß man sich entscheide, für sie oder gegen sie.«

Estrade bekräftigt diese Auffassung mit Nachdruck:

»Es ist wahr, Lafite, die Dame fordert diese Entscheidung.«

»Sehen Sie, mon ami«, fährt der Literat fort, »und gerade diese Forderung halte ich für den schwersten Übergriff und Eingriff in meine persönliche Freiheit. Ich bin wahrhaftig ein armer Mensch und nicht besonders überheblich, wie ich hoffe. Aber auf ein luxuriöses Recht will ich nicht verzichten, solange ich lebe, auf das Recht der Parteilosigkeit. Es gefällt mir, frei und luftig zwischen den sogenannten festen Standpunkten der andern hin und her zu schweben. Diese Standpunkte sind mir, ich bitte um Verzeihung, allzusammen peinlich. Ich halte den Menschen weder für einen tristen Futtersucher, den man von übernatürlichen Illusionen heilen muß, noch mag ich auch die religiöse Bettelsuppe leiden, die heutzutage bereitet wird ... Haben Sie übrigens nicht bemerkt, meine Herren, daß fromme Rassen oder Massen stets einen muffig ungelüfteten Eindruck machen?«

»Ich habe mir schon einmal zu bemerken erlaubt, Freund«, unterbricht der Pädagoge, »daß die heutigen Dichter die Beziehung zum Volk verloren haben.«

»Dieses ganze Volk, Freund«, schlägt Lafite zurück, »ist auch nur eine jener abergläubischen Abstraktionen, die ihr Idealisten auf dem Gewissen habt.«

Und er fügt abschließend hinzu:

»Seitdem die Dame in Lourdes eingebrochen ist, fühle ich mich unbehaglich. Ich hab ein rechtes Heimweh nach der Sünde in Babylon.«

Lacadé und Vital Dutour kommen an den Tisch. Der Bürgermeister hat heute die Place Marcadale zweimal umrundet, ein siegreicher Feldherr, der sich dem Volke zeigt. Das Café Français ehrt ihn mit Beifallsklatschen. Duran und die Seinen triumphieren. Der Sieger wendet sich leutselig an den Scheidenden:

»Sie gehen von uns, mon cher poète. Wahrscheinlich wollen Sie unserer Stadt in Paris einen schlechten Ruf machen ...«

»Das werde ich mir nicht nehmen lassen, Herr Bürgermeister«, erwidert Lafite mit größter Höflichkeit.

»Ich glaube nicht, daß es besonders vernünftig von Ihnen wäre«, lächelt A. Lacadé prophetisch. »Paris und die Welt werden demnächst eine überraschende Wendung der Dinge erleben. Sie werden erleben, daß wahrhaftig ein Heil von unserm Städtchen ausgeht, anders freilich, als so mancher sich's denkt. Sie aber, Monsieur de Lafite, hätte ich mir als den Poeten gewünscht, der diese überraschende Wendung in prächtige Worte kleidet ...«

Alle Blicke wenden sich zur Tür, wo ein Wirbel entstanden ist. Hocherregt und schwitzend stürmt d'Angla, der Brigadier, an den Tisch der Notabeln.

»Messieurs, das war ein wirklicher Aufruhr«, keucht er. »Die Leute haben die Grotte gestürmt, die Planken niedergerissen und die Tafeln umgeworfen ...«

»Wenn Sie eine dienstliche Meldung zu erstatten haben, d'Angla«, sagt Lacadé nach einem würdevollen Schweigen, »so sollten Sie sich einer besseren Haltung befleißigen ... Was also ist geschehen, und wann?«

»Vor einer halben Stunde, als es dunkel geworden ist, hat man die Grotte gestürmt. Ich war ganz allein dort.«

»Verstehen Sie jetzt, warum ich Ihnen zu Ihrer bewundernswerten Kühnheit nicht gratuliert habe, Monsieur le Maire?« lacht Vital Dutour hochbefriedigt.

»Nun, was ist dabei?« sagt Lacadé, etwas blaß aber ruhig, und erhebt sich. »Die Barriere wird heute nacht wieder errichtet, und zwei Posten müssen die Grotte unablässig bewachen.«

»Courage ist ein teurer Spaß«, höhnt der kaiserliche Staatsanwalt. Einige Minuten später nimmt er Abschied von Lafite mit den Worten:

»Warum verlassen Sie dieses interessante Stück vor dem fünften Aktschluß, mein Herr?«


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