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Kapitel Sechsunddreißig. Bernadette unter den Weisen

Baron Massy hält die Depesche des Kaisers in der Hand. In den ersten Minuten der Bestürztheit, nach einer raschen Anwandlung des Stolzes, unverzüglich seine Demission einzureichen, gewinnt er schnell seine kalte Fassung wieder und beginnt mit gewohntem Scharfsinn die Lage zu analysieren:

Zuvörderst das Telegramm selbst. Der Text ist knapp und trocken wie ein militärischer Befehl. Er widerspricht der Art Louis Napoleons, der seine Weisungen an die zivilen Behörden sonst in Höflichkeit zu kleiden und oft auch zu begründen pflegt. Die Wortkargheit des Textes verrät Unbehagen. Sollte das Telegramm echt sein, so ist es dem Kaiser zweifellos abgerungen worden. Eine Verschwörung Eugénies, der bigotten Hofdamen und etwelcher Soutanen vermutlich, die von Tag zu Tag mehr den propagandistischen Wert der »Apparitionen von Lourdes« zu erkennen scheinen. Einzig der zuständige Bischof bleibt starr nach wie vor. Der übrige Klerus ist seit einiger Zeit in Bewegung geraten wie Flußeis bei Tauwetter. Ein durch erwiesene, aber unerklärbare Heilungen dokumentiertes Wunder bedeutet einen so gewaltigen Einbruch in den offiziellen Deismus und inoffiziellen Nihilismus des Zeitalters, daß sowohl die Sicherheit des Unglaubens als auch die Unsicherheit des Glaubens ins Wanken gerät. Davon ist die Depesche des Kaisers der lebendige Beweis. Die Hauptfrage bleibt: ist die Depesche echt? Ehe sie nicht bestätigt wird, ist sie weder echt noch falsch, beschließt der Baron. Ein Hoftelegramm kann ohne beglaubigte Unterschrift von jedem Lakaien zur Post gebracht werden. Schon um den Kaiser vor einer Mystifikation zu schützen, muß man die Bestätigung durch eine handschriftliche Signatur abwarten. Auch widerspricht das Vorgehen Seiner Majestät so sehr allen dienstlichen Gepflogenheiten, daß dieses Zögern gerechtfertigt ist.

Der Präfekt, für den das Rechtbehalten in dieser Angelegenheit von Lourdes zur fixen Idee geworden ist, hat die Courage, den fernschriftlichen Befehl eine Woche lang unbeantwortet liegenzulassen und nichts zu tun. Erst am achten Tag sendet er ihn mit der Bitte um genaue Weisungen an Roulland. Der Kultusminister und seine Kollegen sind wütend über die Feigheit und Verräterei des Kaisers. Echt der kleine Napoleon! Zuerst hat er uns durch seine Unentschiedenheit und durch seine Liebedienerei den Freimaurern gegenüber in diese Affäre hineingeritten, die ohne unsern Widerstand längst nicht mehr lebte, und jetzt, da er sie selbst aufgebläht hat, fällt er uns tückisch in den Rücken. Oh über dieses unheilvolle spanische Weib, das ihn regiert! Wenn der ausgezeichnete Massy nicht so mutig und vorsichtig gehandelt hätte, wäre die ganze Regierung vor der Welt dupiert und lächerlich gemacht und müßte ihren Abschied nehmen. Die Zeitungszensur wird in diesen Tagen aufs äußerste geschärft. Der Präfekt der Hochpyrenäen erhält vom Ministerium ein anerkennendes Schreiben.

Gut, denkt Massy, Zeit gewonnen ist viel gewonnen. Um in Tarbes nicht erreichbar zu sein, begibt er sich auf eine Inspektionsreise, die ihn mehrere Tage auch in Lourdes festhält. Er verhandelt mit Lacadé, dem er mitteilt, daß er im Oktober auf Urlaub zu gehen gedenkt. Der Bürgermeister habe seinerzeit die Schließung der Grotte angeregt. Sollten in den nächsten Wochen gewisse Ereignisse eintreten, so wäre es ihm, dem Baron, nicht unlieb, Herr Lacadé würde in seiner Eigenschaft als Maire die Abwesenheit des Präfekten wahrnehmen, um die Wiedereröffnung der Grotte selbständig zu verfügen. Lacadé lehnt erschrocken ab. Eine solche Angelegenheit überschreite angesichts der Entwicklung seine Kompetenzen. Lourdes gehöre jetzt der hohen Politik an. Er selbst sei nichts als ein bescheidenes Gemeindehaupt. Auch habe er seit Empfang der lichtvollen Analyse Professor Filhols seine Anschauungen über Quelle und Grotte ganz und gar geändert. Die Regierung, welche durch ihr Vidi die Sperre verhängte, müsse sie durch ihr Vidi auch wieder aufheben. Baron Massy wirft einen interessierten Blick auf seine eigenen schmalspitzigen Lackschuhe, zupft die Manschetten aus den Ärmeln und verläßt wortlos das Kabinett des Bürgermeisters. Das ist ein toter Mann, denkt Lacadé, und er hat eine gute Witterung für politische Leichen.

Der Präfekt beruft die Herren Dutour und Jacomet zu sich ins Hotel Cazenave, einen nach dem andern. In seiner verletzenden Nörgelart krittelt er an ihnen herum und macht sie verantwortlich für den kläglichen Stand der Dinge. Dabei weiß er sehr genau, daß beide Männer nicht besonders schuldig sind, sondern energischer und unnachgiebiger gegen den Unfug gekämpft haben als er selbst, der bis zuletzt nicht aus dem Hintergrunde treten wollte. In dieser verteufelten Sache hat sich jeder unternommene Schritt nachträglich als Fehltritt erwiesen. Baron Massy, der von Tag zu Tag vor seinem eigenen Mut mehr Angst bekommt und nichts andres mehr will, als eine eklatante persönliche Niederlage abwenden, greift zu einer neuen Taktik. Es ist eine Rückzugstaktik. Staatsanwalt und Kommissär werden angewiesen, nicht mehr so scharf gegen die Übertreter des Trinkverbots vorzugehen und keine Strafgebühren mehr einzuheben. Plankenverschlag und Warnungstafeln sollen bestehen bleiben wie bisher. Der Staat widerruft nichts. Zu gleicher Zeit aber werden die Gendarmerieposten zurückgezogen und der Wachtdienst ausschließlich den Organen der Gemeinde übertragen. Die hohe Behörde tut damit so, als habe sie ihren Willen in dem beabsichtigten Maße durchgesetzt. Die Pilgerscharen und die Neugierigen, so hofft der Baron, werden allgemach das verbotene Grundstück am linken Flußufer betreten und unauffällig die Grotte wieder in Besitz nehmen. Das Verbot bleibe formell aufrecht, praktisch aber gerate es als ein verlorener Schildposten in Vergessenheit. Der Präfekt jedoch, und dies ist der Hauptzweck, muß seinen Namen nicht unter die eigene Schande setzen.

Die Idee ist gut und eines Massy würdig. Leider tut ihm der Feind nicht den Gefallen, auf diese Idee einzugehen. Der Feind ist diesmal das Volk vor Massabielle. Als es die Gesichter der Gendarmen nicht mehr erblickt, als Callet sein Notizbuch nicht mehr zückt, wenn er irgendwen beim Trinken erwischt, da fassen die Leute sofort den Verdacht, ihnen werde eine Falle gelegt. Antoine Nicolau, der getreue Nachbar der Grotte, gibt die Parole aus:

»Am rechten Ufer bleiben!«

Und so geschieht es. Nie seit Sperrung der Grotte wird das Verbot so unbedingt beobachtet wie in den Tagen, da dem Präfekten eine stillschweigende Nichtbeobachtung die willkommenste Lösung wäre. Der Plankenverschlag, das Sperrseil, die Warnungstafeln stehn in dem schon herbstlich scharfen Licht übergenau da, wie Marterwerkzeuge einer unbekannten Passion. Mancher gänzlich Gleichgültige, der vorübergeht und nicht das geringste von der Dame und der Quelle hält, sagt dennoch ärgerlich:

»Es ist unerhört, daß man diese Grotte wie einen Mordplatz absperrt und freie Menschen wie Verbrecher behandelt ...«

Einmal, als der Präfekt mit dem Kommissär über die Place Marcadale geht, winkt Jacomet ein junges Mädchen im weißen Capulet heran:

»Dies ist Bernadette Soubirous, Euer Exzellenz.«

»So, so, hm hm«, meint der Baron, äußerlich stumm, während sein Herz zu klopfen beginnt. Er schämt sich dieser Erregung, die er nicht begreift. Seine Gewandtheit verläßt ihn. Er findet kein Wort. Bernadette sieht ihn an, wie sie alle Machthaber ansieht, mit aufmerksam großen Augen, die auf der Hut sind. Endlich reicht der Verlegene dem Mädchen die Hand, zieht seinen Glanzhut ziemlich tief und wendet sich zum Gehen. Nach einigen Schritten sagt er zu Jacomet:

»Sie haben mir das Mädel falsch geschildert. Die ist ja gar nicht so grob und gewöhnlich ...«

»Wenn Euer Exzellenz sie früher gekannt hätten«, verteidigt sich der Jacomet. »Sie hat sich ganz und gar verändert seit den Erscheinungen.«

»Herrliche Augen hat das Mädel«, erwidert Baron Massy sehr versonnen.

Während der Präfekt den letzten Tag in Lourdes weilt, haben sich die Minister Fould und Roulland nach Biarritz begeben. Dort kommt es zu einem äußerst peinlichen Auftritt zwischen dem Souverän und seinen berufenen Männern. Der Kaiser fühlt sich auf einer seiner Schwächen ertappt. Und so stark ist auch der Stärkste nicht, daß er die Entlarvung einer Schwäche den Entlarvern verzeihen könnte. Louis Napoleon hat damit gerechnet, daß der Präfekt der Hochpyrenäen seinen Befehl unverzüglich ausführen und daß die Regierung, vor die vollzogene Tatsache gestellt, keine Einwendungen erheben werde. Nun aber hat dieser unverschämte Massy es gewagt, seinen Befehl nicht nur zu mißachten, sondern ihn sogar der Regierung zuzusenden wie die fehlerhafte Hausaufgabe eines dummen Jungen. Das Gesicht des Kaisers ist quittengelb, und die langen Schnurrbartenden zittern. Zu alledem beginnen diese Idioten noch sein eigenes Lied von den Liberalen und Freimaurern zu singen, denen man jetzt entgegenkommen müsse. Soll er ihnen etwa zurufen: Ein Monarch hat das gute Recht abergläubisch zu sein. Ein Monarch hat es Tag und Nacht mit dunklen Gewalten zu tun, von welchen die Kausalitäten bestimmt werden. In eurer Plattheit ahnt ihr nichts von diesen Gewalten. Er aber sagt nur:

»Ich mache Sie verantwortlich, meine Herren, für die Nachlässigkeit, mit der man meine Entscheidungen in den Wind zu schlagen beliebt.«

Glücklicherweise sind die Minister feig, und der Kaiser, was diese Sache anbelangt, nicht gerade tapfer. Beide Teile einigen sich deshalb am Ende der Szene auf ein gemeinsames Opfer. Dieses Opfer ist Baron Massy. Der Präfekt erhält tags darauf einen ebenso unerwarteten wie fürchterlichen Verweis der Regierung. Der Befehl Seiner Majestät sei unverzüglich auszuführen. Dem Baron wird der Mund trocken. Ich bin verloren, weiß er nun. Sofort ergeht eine Depesche an Lacadé und Jacomet. Es ist der siebente Oktober. Am achten Oktober, in aller Herrgottsfrühe, trommelt Callet durch die Gassen Lourdes' mit selbstbewußtem Singsang den »Widerruf« aus:

»Die Verordnung, die Grotte Massabielle betreffend, wird mit heutigem Datum aufgehoben. Gegeben im Rathaus zu Lourdes. A. Lacadé, Bürgermeister. Gesehen. Der Präfekt, Baron Massy.«

Und wiederum, wie bei der Neuerrichtung der Schranken, weigern sich die Arbeiter Lourdes', sie abzutragen. Jacomet ist gezwungen, mit Callet und zwei Hilfspolizisten auszurücken und seine eigene Schande zu beaufsichtigen. Tausende sind Zeugen dieser Kapitulation nach einer langen Belagerung. Die Menge bleibt am andern Ufer und wahrt ein ominöses Schweigen. Der Polizeikommissär besteigt denselben Felsblock wie am Donnerstag des Ärgernisses, da er den Leuten zurief, aus dem Wunder sei Wasser geworden, knapp bevor aus dem Wasser Wunder wurde. Auch heute erhebt er seine Verhörsstimme zu einer kleinen Rede, die retten will, was zu retten ist:

»Liebe Freunde, ihr seht, wir räumen die Schranken fort, die von der Regierung errichtet worden sind. Ich bin ein Beamter. Und ein Beamter ist dasselbe wie ein Soldat. Er hat nicht zu fragen, sondern zu gehorchen. Wir haben nicht gekämpft gegen euch, wie ihr wohl gemeint habt, sondern für euch. Ehe wir nicht wußten, ob das Wasser der Quelle schädlich ist oder nicht, mußten wir es verhindern, daß ihr davon trinkt. Jetzt aber, nach dem gelehrten Gutachten der Universität von Toulouse, ist jede weitere Sorge überflüssig. Die Regierung hat ihren Zweck somit erreicht. Deshalb haben wir uns entschlossen, der Herr Präfekt und ich, die Grotte zu öffnen und euch keine Hindernisse mehr in den Weg zu legen.«

Man muß zugeben, eine würdige Rede, die das obsorgende Verhalten der Obrigkeit aufs trefflichste begründet. Sie plumpst aber in die Menge wie ein Stein in den Sumpf und erregt kaum einige schwache Ringe von Hohngelächter. Heimgekehrt, spricht Jacomet also zu Frau und Tochter, die das Essen auftragen:

»Es ist gut, daß wir aus diesem schmutzigen Nest fortkommen. Das Kommissariat in Alais ist ein ausgesprochenes Avancement. Alais ist nach Nîmes die zweitgrößte Stadt im Département Gard, und die Sous-Préfecture ist dort. Wir bekommen eine herrschaftliche Dienstwohnung. Nach Madame la Sous-Préfète wird Madame la Commissaire de Police die erste Dame der Stadt sein ...«

Mit diesen Worten teilt Jacomet seiner Familie die Versetzung mit, deren Dekret er heimkehrend auf seinem Schreibtisch vorgefunden hat. Seine Freude, von Lourdes wegzukommen, ist trotz der Umstände redlich. Die Zeitungen der letzten Woche sind voll von den Heldentaten einer Verbrecherbande, die im Département Gard, zwischen Nîmes und Alais, ihr Unwesen treibt. Eisenbahnraub ist die Spezialität dieser Spitzbuben. Das hört sich moderner an als Gnadenquellen und Visionen. Auch kann ein Kriminalist zweifellos eher etwas gegen Eisenbahnräuber ausrichten als gegen die Dame.

Am ersten November bringt das Regierungsblatt »Moniteur« die Nachricht, daß Baron Massy zum Präfekten in Grenoble ernannt worden ist. Es ist wahr. Der Kaiser hat es in einer Anwandlung von Scham verschmäht, ihn völlig aufzuopfern und ins Nichts zu stoßen. Aber das Département Isère mit der Hauptstadt Grenoble ist in der Geheimwissenschaft der französischen Verwaltung der Übergang zum Nichts. Grenoble ist eine Endstation. Von hier führt kein Weg zu den glänzenden Regierungspalais von Paris. Dieser Traum des Barons ist ausgeträumt. Immerhin bleibt er Präfekt. Mild ist die Rache der Dame.

Am schlimmsten ergeht es dem kaiserlichen Staatsanwalt Vital Dutour. Seine Stellung nämlich bleibt unangetastet. Er wird nicht versetzt, sondern zum Bleiben verurteilt. Tag für Tag trägt der Glatzköpfige sein fahl angewidertes Gesicht über die Place Marcadale zum Landesgericht und wieder zurück. Täglich zweimal sitzt er im Café Français. Er ist gezwungen, den Lesefrüchten Durans zu lauschen und der provinziellen Trivialität der Juristen, Offiziere und Kleinbürger Gesellschaft zu leisten. Es ist schon ein Festtag, wenn er dann und wann den Renegaten Estrade oder Clarens mit einer seiner hochfahrenden Bosheiten aufwarten darf.

 

Am siebzehnten November beginnen um elf Uhr die Glocken von Sankt Peter in Lourdes überraschend zu läuten. Das bedeutet: Seine Bischöfliche Gnaden, Monseigneur Laurence, kann es beim besten Willen der Dame nicht länger sauer machen. Alle von ihm gestellten Bedingungen sind aufs pünktlichste erfüllt worden. Der Kaiser ist wider alle Erwartung besiegt. Die Regierung hat die Flucht ergriffen. Der Präfekt wurde ans andere Ende von Frankreich versetzt. Die Schranken vor der Grotte sind gefallen. Kein behördliches Hindernis mehr gibt dem Bischof das Recht, die Untersuchung dieser heilig heiklen Ereignisse zu verschieben. Als bedeutendster Gegner muß Monseigneur sich geschlagen geben. Das heißt, er gibt sich nicht völlig geschlagen, sondern zieht sich nur hinter seine letzte Verteidigungslinie zurück. Noch gestern, als er die Mitglieder der Untersuchungskommission um sich versammelte, betonte er in einer kurzen Ansprache aufs nachdrücklichste, daß sich eine echte Wunderheilung nicht allein durch ihre medizinische Unerklärbarkeit auszeichne. Um sie ganz und gar unumstößlich zu machen, müsse noch ein eigenes Element hinzutreten, die atemberaubende Blitzhaftigkeit nämlich, das »Steh auf und wandle« der Evangelien. Im Hinblick darauf behalte er, der Bischof, sich die letzte Entscheidung über all jene Fälle vor, die von der Kommission anerkannt werden sollten. Man hat die Riten studiert, die für den feierlichen Zusammentritt ähnlicher Körperschaften vorgeschrieben sind. Sie stehen unter dem Schutz des Heiligen Geistes, dessen Inspiration für das Gedeihen ihrer Arbeit unerläßlich ist. Diese Arbeit wird daher mit einer kirchlichen Feier eröffnet, die, wie es sich gebührt, bei Sankt Peter stattfindet, um dereinst in ferner, ferner Zeit, sollte die Untersuchung das übernatürliche Wirken bestätigen, mit einer weit gewaltigeren Schlußfeier bei einem gewaltigeren Sankt Peter auszuklingen. Heute versammeln sich die Theologen der bischöflichen Kommission um den bescheidenen Hauptaltar der Pfarrkirche von Lourdes. Für die gelehrten Laien, die Mediziner, Chemiker, Geologen, sind die Ehrenstühle unterhalb der Stufen gerückt. Dahinter sitzen in den ersten Reihen die angesehensten Zeugen der Erscheinungen: Madame Millet und ihre Freundinnen glänzen als Paladine des himmlischen Ruhms. Die Schneiderin Peyret hat sie mit würdig dunklen Roben zu dieser feierlichen Gelegenheit versorgt. Auch sie sitzt in der ersten Reihe und neben ihr der greise Philippe. Die Mitschülerinnen Bernadettens sind vollzählig vorhanden, allen voran Jeanne Abadie, die den ersten Stein auf die Seherin warf, heute aber die Ehren der ältesten Jüngerin in Anspruch nimmt. Die Schwestern von Nevers sind ebenfalls gekommen, bis auf Marie Thérèse Vauzous, die schon seit Monaten ins Mutterhaus heimgekehrt ist. In dichter Schar drängen sich die Nachbarn des Cachots, Onkel und Tante Sajou, Bouriette, Madame Bouhouhorts, die ihr geheiltes Kind strahlend im Arm trägt, die Piguno, die Ourous, die Raval, die Gozos, und mitten unter ihnen thront Bernarde Casterot, die kluge, und die still dienstbare Lucille. Mutter und Sohn Nicolau aber sitzen recht weit in einer der hinteren Bankreihen.

Kanonikus Nogaro, Dompfarrer von Tarbes, stimmt an das Veni Creator Spiritus. Da geht ein erstauntes Raunen durch die Kirchenbänke. Wo ist Bernadette? Wo ist die Familie Soubirous? Endlich findet man die Hauptperson ganz hinten in der namenlosen Menge, eingekeilt zwischen ihren Eltern und Marie. Sie wehrt sich, wird aber vorwärtsgestoßen. Madame Millet streckt sehnsüchtig die Arme nach ihr aus. Irgendwelche Leute machen Platz. Endlich kommt Bernadette neben ihre erste Gönnerin zu sitzen, die wehmütig freudige Tränen vergießt. Bernadette selbst ist durchaus nicht freudig bewegt, sondern voll Angst. Früher haben sie Jacomet, Rives und Dutour durch Verhöre gequält. Jetzt werden es diese Priester und Doktoren tun. Das fürchtet sie. Warum das alles? Ihre Furcht aber ist nicht unbegründet.

Nach dem Gottesdienst versammelt sich die bischöfliche Kommission im Presbyterium zur ersten Plenarsitzung. Zwanzig Herren sind's etwa, Geistliche und Laien, die im Halbrund um einen großen Tisch sitzen. Für die Zeugen stehen Bänke an der Wand bereit. Bernadette wird als erste aufgerufen, weniger Zeugin als eine Art Angeklagte. Wieder und wieder muß sie ihre Geschichte erzählen. Sie tut es nicht im apathischen Leierton, wie so oft, sie tut's auch nicht in der hinreißenden Wiedervergegenwärtigung wie vor Monseigneur Thibaut. Sie bedient sich einer merkwürdig knappen, aber lebendigen Trockenheit. So spricht vor Gericht einer, der um seine Existenz kämpft. Immer wieder wird sie unterbrochen, damit andere Zeugen ihre Darstellung bekräftigen oder berichtigen: Marie, Jeanne Abadie und Antoinette Peyret und die Mutter und Tante Bernarde und Madame Nicolau und Antoine. Es zeigt sich aber, daß diesen erwachsenen Zeugen das Gedächtnis sehr oft versagt, während für Bernadette nicht die geringste Einzelheit jener für ewig vergangenen Tage erloschen ist. Man könnte meinen, sie lebe außerhalb der Zeit, nur in dem großen Ereignis ihrer Liebe. Jeder Blick, jedes Nicken, jede Kopfwendung, jeder Wink der Dame ist übertief eingeschnitten in ihre Erinnerung. Und mehr als das, all diese Gebärden entstehen immer wieder von neuem, und nicht nur diese Gebärden, sondern alles andere auch, was sich vor und nach den Ekstasen begab. Die unwiderstehliche Überlegenheit dieses Gedächtnisses ist der erste starke Eindruck der untersuchenden Kommission.

Bernadette gibt immer wieder ihre erstaunlichen Antworten. Da erkundigt sich zum Beispiel Kanonikus Nogaro nach dem Geheimnis, das ihr die Dame anvertraut habe:

»Das ist doch nur für mich«, meint Bernadette ungeduldig. »Wenn ich's Ihnen sage, Herr, wär's ja kein Geheimnis mehr.«

Ein anderer äußert den üblichen Einwand gegen das Gras- und Kräuteressen:

»Ich kann's nicht verstehen, daß die Dame so etwas Widerwärtiges von dir verlangt hat. Es gehört gar nicht zu ihrem Bilde, wie du es malst, daß du hast etwas tun müssen, was die Tiere tun ...«

»Sind Sie vielleicht ein Tier, wenn Sie Salat essen?« entgegnet Bernadette gleichmütig. Die Herren schauen einander an, ungewiß, ob sie diese Antwort für frech halten sollen. Die ruhigen Augen des Mädchens widersprechen diesem Verdacht. Antoinette Peyret aber, auf der Zeugenbank, gibt einen gicksenden Laut von sich.

 

Unter den weltlichen Machthabern von Lourdes, die den Kampf gegen die Dame geführt haben, ist Lacadé der einzig ungebrochene. Dieser elastische Gourmand hat durchaus die Fähigkeit, aus der bedenklichsten Lage noch Süßigkeit zu saugen. Wer spricht im übrigen von einer bedenklichen Lage? Mögen die Mirakel von Massabielle immerhin die herrschende Philosophie widerlegen, die Aufgabe eines praktischen Mannes ist es nicht, sich für die Allgültigkeit des Naturgesetzes zu verbluten. Die Zeit ist unbegreiflich, die Welt eine tolle Seifenblase, Lourdes ein Städtchen im Aufschwung und A. Lacadé kein Narr. Seit jenem Sommerabend, an dem er heimlich die Kraft der Quelle an seinem Kopfschmerz zu erproben vermeint hat, sind ihm die Schuppen von den Augen gefallen. Jedem Menschenwesen sind Grad und Art seiner möglichen Bekehrung zum Geiste eingeboren. Auch Lacadé hat sich bekehrt, in seiner Art.

Der Bürgermeister ist nämlich mit einemmal überzeugt davon, daß eine Gnadenquelle nicht schlechter ist als eine Mineralheilquelle, ja sogar in mancher Hinsicht einzigartiger und ersprießlicher. Lacadés persönlichem Geschmack entspräche ein glänzender Kurort hundertmal mehr als der weihevollste Wallfahrtsort. Was aber läßt sich tun? Der Gelehrte Clarens hatte recht gehabt, als er ihm einmal im Café auseinandersetzte, Lourdes sei in grauer heidnischer Vorzeit schon eine Weihestätte gewesen, und solche Stätten verlören niemals ihren mystischen Charakter. Lacadé hat sich abgefunden damit. Zwar auf den Lieblingstraum eines Kasinos mit Kurpark, Musikpavillon, Terrassencafé und Croquetplätzen muß man verzichten. Das vergnügte Sommertreiben der Reichen und Glücklichen würde dem Wunderbezirke der Grotte nicht wohl anstehn. Kein Konzert, kein Feuerwerk, kein Blumenkorso, kein Maskenball, keine hübschen Frauen in reizenden Toiletten, keine ballspielenden Kinder mit Spitzenhöschen. Schade darum, denkt der Lebensgenießer Lacadé, der die irdische Farbenfreudigkeit schon den schwarzen Pilgerzügen aufgeopfert sieht. Auch das Heilwasser ist zum heiligen Wasser geworden, und somit müssen der Plan einer Kurgesellschaft mit Aktienbesitz und die Idee eines blühenden Versandgeschäftes verabschiedet werden. Flaschen mit Etiketten, auf denen die Jungfrau im Bilde einem blinden Kind das Augenlicht wiedergibt, das wäre äußerst geschmacklos, und die Kirche würde Einspruch erheben. Vieles entfällt, mehr aber kommt hinzu, wenn man's richtig anpackt, wenn man sich das Heft nicht aus der Hand winden läßt. Glücklicherweise ist es nicht zu spät. Noch steht die Gelegenheit offen, der Kirche zuvorzukommen, hat diese doch ihr großes Ja noch nicht ausgesprochen, und man wird zu den Bahnbrechern gehören.

Der alte Philippe ist nicht wenig erstaunt, als er seiner Herrin den Besuch des Bürgermeisters zu melden hat. Lacadé entwickelt der frommen Rentnerin einen frommen Plan. Bevor am morgigen Tage die Kommission ihren ersten Besuch der Grotte abstattet, möge man dieselbe rasch in einen Blumenhain verwandeln, um den mißtrauischen Organen des Bischofs das Vertrauen der Bevölkerung in die Echtheit der Wunder lebhaft vor Augen zu führen. Jetzt, nach Allerseelen, seien zwar in den Gärtnereien des Postmeisters Cazenave nur mehr Astern aufzutreiben. Aber diese große Friedhofsblume, die in mehreren Farben blühe, fülle ausgiebig den Raum. Um elf Uhr werde sich die Kommission zur Grotte begeben. Daher möge schon eine Stunde vorher unter Vorantritt des Munizipiums eine Prozession der besseren Kreise nach Massabielle wallen, um durch Teilnahme oder Fernbleiben darzutun, wer zu den Freunden der Dame gehöre und wer nicht. Niemand sei von der Vorsehung so deutlich auserkoren wie Madame Millet, diese Kundgebung zu veranstalten. Die Witwe, entzückt von dem seelischen Umschwung eines ehemaligen Leugners, nimmt die Sache sogleich in ihre bewährten Hände.

Und wirklich, am nächsten Tage, Punkt neun Uhr morgens, versammelt sich ein erklecklicher Teil der besseren Kreise von Lourdes vor der Mairie in der Rue du Bourg. Die Herren gehen im Frack, die Damen tragen züchtige Schleier überm Haar. Das Wetter ist ausnehmend wohlgesinnt. Adolphe Lacadé tritt mit seinen Adjutanten aus dem Portal, gefolgt von den Herren des Gemeinderats. Seine violetten Backen sind scharf ausrasiert, und der graue Kinnbart stößt vor wie ein Block. Um den Bauch prangt ihm die dreifarbige Schärpe. In der linken Hand hält er den hohen Glanzhut, in der rechten die brennende Kerze.

»Stimmen wir ein Lied an?« sagt er zu Postmeister Cazenave, ehe er das Zeichen zum Aufbruch gibt. »Vielleicht ›Nous voulons Dieu ...‹«

Der Zug bewegt sich singend vorbei am Café Français. Verdonnert blickt ihm der Zeitgeist nach in Gestalt des Cafétiers Duran.


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