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Kapitel Fünfzehn. Die Kriegserklärung

Die Schneiderin Antoinette Peyret hat gehofft, die launische Rentierswitwe werde Bernadette satt bekommen und ihr über kurz oder lang die Gastfreundschaft kündigen. Wie viele Niedriggeborene kann sie es nicht leicht ertragen, daß ein anderer Niedriggeborener in ihrem Jagdgebiet auf Beute geht, und noch dazu durch ihre eigene Schuld. Hätte sie geahnt, welche Folgen es haben werde, hätte sie den Einfall von der armen Fegefeuerseele nie und nimmer ausgesprochen. Schlimmerweise aber ist die Millet ganz vernarrt in ihre petite voyante, und wann es zum Umschlagen der Laune und zur Kündigung kommen wird, das kann nicht einmal diese Kennerin ihrer Gönnerin voraussehn. Zum tiefsten Erstaunen der Peyret aber geschieht das Verkehrte: nicht Madame Millet kündigt der Bernadette, sondern Bernadette kündigt der Madame Millet. Und zwar geschieht das, oder vielmehr geschah es schon am Vortag, am Samstag, gegen zwölf Uhr, knapp vor dem Déjeuner, zu dem die Peyret nicht eingeladen war. Bernadette, die vorher eine kurze Rücksprache mit ihrer Tante Bernarde gehabt hatte, machte einen tiefen Knicks vor ihrer Gastfreundin:

»Ich danke tausendmal für Ihre Güte, Madame, aber ich glaube, es wird besser sein, wenn ich zurück zu meinen Eltern geh ...«

Die Millet erschrak, und ihr Doppelkinn begann zu vibrieren:

»Um Christi willen, was heißt das, mein Kind? Fühlst du dich nicht wohl bei mir?«

»Nein, ich fühl mich hier nicht mehr wohl«, bekannte Bernadette frank und frei, fügte aber schnell hinzu: »Es ist aber meine Schuld.«

»Gefällt es dir nicht? Ist es nicht schön bei mir?«

»Es ist viel zu schön bei Ihnen, Madame.«

Die Augenlider der Schneiderin, die der Szene beiwohnte, zwinkerten heftig. Sie erwartete einen der Zornausbrüche der reichen Witwe, wie sie öfters über sie selbst niedergingen. Auch jetzt geschah wieder das Verkehrte. Die Millet schnupfte ein paar Tränen hoch:

»Du bist ein gesegnetes Kind, Bernadette. Ich ehre deine Beschlüsse. Wir werden uns morgen bei der Grotte sehn ...«

»O ja, Madame, wir werden uns morgen bei der Grotte sehn ...«

Die Millet hielt die Hände des Mädchens fest, als könne sie von ihm nicht lassen:

»Aber zum Essen wirst du doch noch bleiben, mein Kind. Es gibt civet de lièvre ...«

»Civet de lièvre«, wiederholte vorschmeckend Antoinette, die keine Kostverächterin ist.

»Danke, ich möchte aber lieber gleich nach Hause gehn, Madame«, bat Bernadette. »Darf ich mich jetzt von Monsieur Philippe verabschieden ...«

Nachdem das Mädchen gegangen war, winkte die Millet der Schneiderin ab:

»Sie werden gut daran tun, mich allein zu lassen, liebe Peyret. Ich brauche heute keine Gesellschaft beim Essen ...«

Auf dem Heimweg sagte Tante Bernarde zur Bernadette:

»Ich hätte dich gern zu mir genommen, und nicht nur, weil du mein Patenkind bist. Du hättest mit Tante Lucille in der Bodenkammer schlafen können. Aber ich glaube, du tust recht daran, zu deinen Leuten zu gehn, denn die Welt hat ein sehr böses Maul. Alle belauern dich jetzt. Laß dir's nur nicht zu Kopfe steigen ...«

Diese Warnung ist gänzlich überflüssig. Keine Gefahr besteht, daß der Ruhm Bernadette zu Kopfe steigt. Sie erfaßt ihn gar nicht. Viel heftiger bedrängt es sie, daß im Cachot der natürliche Umgangston sich nicht wieder einstellen will. Die Mutter ist noch immer wie gelähmt, hantiert stumm, und wenn sie dem Blick ihrer Tochter begegnet, schießen ihr sofort die Tränen in die Augen. Vater Soubirous macht einen äußerst betretenen Eindruck, spricht ebensowenig wie Maman, und seine betonte Gekränktheit ist einer ganz und gar unbetonten Verlegenheit gewichen, die der Bernadette die Kehle zuschnürt. Welch ein beklemmendes Anzeichen: Soubirous schämt sich jetzt seiner lieben Angewohnheit, tagsüber ins Bett zu kriechen. Seine Tochter ist vielleicht eine Seherin, vielleicht sogar etwas ganz andres, wie die alten Weiber flüstern, weiß Gott, warum sie das sein soll! Das geht nicht in den Kopf eines ausgelernten Müllers. Aber angenehmer ist es jedenfalls, in einem stillen Winkel kleinlaut bei Babou zu sitzen, als die ganze Zeit solch ein bevorzugtes Wesen vor sich zu haben.

Auch Schwester Marie, die Vertrauteste, benimmt sich schrecklich gespreizt. Wenn sie mit Bernadette spricht, mischt sie immer öfter französische Schulphrasen in ihr Patois, nur um fein zu tun. Sogar Jean Marie und Justin drücken sich, sooft sie können. Das Schwesterchen ist ihnen nicht mehr geheuer. Dazu kommt noch, daß der Cachot den ganzen Tag von Besuch überlaufen ist. Ganz zu schweigen von den engeren Nachbarn, wie den Sajous und den Bouhouhorts. Selbst Cazenave, der Postmeister, hat einmal die Nase in die Tür gesteckt, und Maisongrosse, der Bäcker, und Joséphine Ourous kommen und die Germaine Raval und eine so vermögende Frau wie Madame Louise Baup, die ihre Kammerzofe Rosalie mitbringt, weil die auch mitunter Gesichte hat. Es klopft an der ehrwürdige Schustermeister Barringues, dessen Hände wie Espenlaub zittern. Und er verehrt Bernadette einen Ledergürtel, den er mit diesen seinen zitternden Händen verfertigt hat. Die Porzellanschnalle dieses Gürtels ist mit einem Madonnenbild geziert:

»Da hast du deine Dame«, sagt Barringues.

»Aber das ist ja gar nicht meine Dame«, sagt Bernadette zum Mißvergnügen des Künstlers.

Unter diesen Umständen ist die Familie froh, daß die Sajous dem Mädchen eine winzige Kammer im Oberstock einräumen. Und auch Bernadette ist froh, in der Verborgenheit darüber nachdenken zu dürfen, daß von den fünfzehn Tagen ihres Liebesglanzes erst drei verrauscht sind. Noch zwölf, noch zwölf, wiederholt sie immer wieder.

An diesem Sonntag überbietet die Soubirous sich selbst. Sie hat den Hammelrücken, den ihr der Metzger Gosos beinahe für nichts aufgedrängt hat, auf das feinste mit Knoblauch zubereitet. Man hat sich gerade zu diesem märchenhaften Mahl niedergesetzt, als der Polizist Callet in die Tür tritt, dieser alte Bote des Unheils.

»Eure Kleine da soll mal mit mir kommen«, brummelt er, während ihm die Pfeife den rechten Mundwinkel herabzieht.

»Ich hab's gewußt«, stöhnt Soubirous auf. »Ich hab's ja gewußt, daß es so kommen muß ...« Und er sieht denselben Engel des Gerichtes vor sich, der ihn wegen einer gemeinen Denunziation in die Untersuchungshaft geschleppt hat.

»Keine Angst«, lacht Callet, »es ist diesmal noch kein Haftbefehl. Der Herr kaiserliche Staatsanwalt will sich eure Kleine nur ein bißchen anschaun ...«

»Aber laßt sie doch zuerst zu Ende essen, Monsieur Callet«, fleht die Soubirous, der es in diesem Augenblick wichtiger als alles andre ist, daß ihr Kind nicht um dieses selten kostbare Mahl gebracht wird.

»Nur nicht übereilen«, nickt der Ordnungshüter. »Essen muß man ruhig und mit Genuß. Das Gericht kann warten ...«

Trotz dieser gutmütigen Duldsamkeit wundert er sich aber, daß, entgegen aller Erfahrung, die Delinquentin mit großer Ruhe, ja beinahe träge ihren Teller leert.

 

Vital Dutour, der sehr wenig wohl ist, hat nichts zu sich genommen als eine Tasse heißer Bouillon. Seine Mahlzeit unterbrechend, begibt er sich sofort ins Studierzimmer, als Bernadette gemeldet wird. Das Licht in diesem Zimmer ist sehr trüb. Im Kamin aber tanzen und trommeln die Flammen um vier Lärchenklötze, so groß wie sie Bernadette noch in keinem Feuer gesehen hat. Der Staat liefert seinen Beamten das schönste Brennholz als »Gebührenzulage«. Dutour hat, seitdem er an seiner schweren Erkältung leidet, den Schreibtisch in die Nähe des Kamins rücken lassen. Das Fenster im Rücken, beschaut er nun durch ein Lorgnon die Delinquentin, indem er sie zum Tisch treten heißt. Sein erster Eindruck ist: alles in Ordnung. Ein Proletenkind dieser Gegend wie hundert andre. Dann aber fällt es ihm auf, wie armselig Bernadette gekleidet ist und daß ihre nicht anmutlose Kindergestalt weniger in einem Gewand als in einer Umhüllung steckt. Da ist gleich dieses sonderbare Capulet. Dutour, der erst seit kurzem in dieser Provinz lebt und in der Trachtenkunde nicht sehr bewandert ist, hält es für einen Überwurf, wie ihn die Frauen von Madras tragen. Doch so ausgebleicht ist dieser Überwurf, daß man das Ornament am Saum nicht mehr erkennt. Dadurch aber, daß er das rundliche Gesicht tief beschattet, verleiht er den Zügen eine große Lieblichkeit. Auch der Kittel fällt ohne jede Form bis zu den Füßen herab, die in winzigen Holzschuhen stecken. Die ganze Figur gleicht dem Werke eines Bildhauers, das dieser mitten in der Arbeit zur Seite geschoben hat. Jede Falte des Gewandes, jeder Schatten und jedes Licht wirken wie angefangen, wie unfertig, gerade nur angedeutet. Die Augen freilich, diese großen schwarzen Augen unter dem Capulet, sind alles eher als unfertig. Der kaiserliche Staatsanwalt kann sich nicht helfen, er erkennt in ihnen die Augen einer liebenden Frau. Nicht selten ist er im Gerichtssaal solchen Frauenaugen begegnet, die wach, klar und sehr auf der Hut, ein Gut des Herzens verteidigten.

»Weißt du, wer ich bin, mein Kind?« beginnt der Glatzköpfige die Unterredung, indem er nervös die steifen Manschetten aus den Ärmeln zupft.

»O ja«, erwidert langsam, Wort für Wort, Bernadette. »Monsieur Callet hat mir gesagt, daß Sie der Procureur Impérial sind ...«

»Und weißt du auch, was das für ein Mann ist, der Procureur Impérial?«

Bernadette lehnt sich leicht an den Tisch und sieht Dutour aufmerksam an:

»So ganz genau weiß ich das nicht ...«

»Dann werd ich dir's sagen, meine Liebe. Mich hat Seine Majestät, der Kaiser der Franzosen, unser aller Herr, hierher gesetzt, damit ich darüber wache, daß jedes Unrecht aufgedeckt und gesühnt werde, zum Beispiel die Lüge und der Betrug, den einer an seinen Nebenmenschen verübt ... Weißt du also jetzt genau, wer ich bin?«

»O ja, Sie sind dasselbe wie Herr Jacomet.«

»Ich bin viel mehr als Herr Jacomet, ich bin sein Vorgesetzter. Er macht die Verbrecher und Betrüger ausfindig. Dann schickt er sie mir, damit ich sie dem Gericht und dem Zuchthaus überliefere. Noch heute wirst du diesem Herrn Jacomet zum Verhör vorgeführt werden. Ich aber habe dich nicht als Vorgesetzter des Polizeikommissärs rufen lassen, sondern weil ich Mitleid mit dir habe und dich warnen und dir helfen will. Wenn du die volle Wahrheit sagst und vernünftig bist, kann ich dir vielleicht das Verhör mit Herrn Jacomet ersparen. Laß uns also sehn, was man für dich tun kann!«

Die Mädchenaugen, die eine große Liebe verteidigen, sehen dem Mann aufmerksam ins Gesicht und sind sehr auf der Hut. Er senkt seine Stimme etwas:

»Es ist viel Lärm um dein Persönchen ausgebrochen in dieser Stadt. Wird dir da nicht angst und bang? Bernadette, ich frage dich jetzt mit großem Ernst: Hast du die Absicht, morgen früh wieder nach Massabielle zu laufen?«

Bernadette verhindert es nicht, daß ihre sonst so ruhigen Augen jäh auffunkeln.

»Natürlich muß ich noch zwölfmal zur Grotte gehn«, antwortet sie rasch. »Die Dame hat's gewünscht, und ich hab's versprochen ...«

»Da haben wir also diese Dame«, meint Dutour enttäuscht, als habe er sich von dem Mädchen eines Besseren versehen. »Du mußt mir doch zugeben, liebe Kleine, daß du ein ganz dummes und unwissendes Ding bist. In der Schule bist du die Schlechteste. Das Gericht weiß alles. Erkennst du an, daß dir all deine Mitschülerinnen, selbst die viel jüngeren, im Lesen, Schreiben, Rechnen und auch in der Religion überlegen sind?«

»Es ist wahr, Herr, ich bin sehr dumm.«

»Du gibst also zu, daß alle Schulmädchen gescheiter sind als du. Nun denk einmal nach, mein Kind! Wie steht es dann mit den Erwachsenen? Und gar mit den studierten Leuten unter diesen Erwachsenen, die alles gelernt haben, was es in dieser Welt zu lernen gibt? Ich spreche zum Beispiel von Abbé Pomian und von mir selbst. Diese Männer, die es doch wissen müssen, sagen dir, daß diese Dame, die du zu sehen behauptest, eine kindische Einbildung ist und ein lächerlicher Traum ...«

Bernadette sieht ganz verloren auf die Pendeluhr, die geschäftig auf dem Kaminsims tickt.

»Das erste Mal«, sagt sie, »als ich die Dame sah, hab auch ich gedacht, es ist nur ein Traum ...«

»Siehst du, Mädel, damals warst du gar nicht so dumm ... Jetzt aber wehrst du dich gegen die Einsicht alter und gelehrter Leute?«

Bernadette lächelt ein frauenhaftes Lächeln:

»Man kann einmal einen Traum für wirklich halten, aber nicht sechsmal.«

Vital Dutour horcht auf. Die Antwort ist schlagend. Halluzinationen sind etwas anderes als Träume. Da der Procureur Impérial selbst kein großer Träumer vor dem Herrn ist, wagt er sich auf unbekanntes Gebiet:

»Nun, man träumt manchmal dieselbe Sache öfters.«

»Ich aber träume ja gar nicht«, erklärt Bernadette hell. »Noch heute früh hab ich die Dame gesehn, genau wie man andre Menschen sieht. Und ich habe mit ihr gesprochen, wie man mit andern Menschen spricht ...«

»Lassen wir das«, lenkt Dutour ab, der sich in der übersinnlichen Region seiner Delinquentin gegenüber ausgesprochen unterlegen fühlt. »Erzähl mir jetzt lieber, wie ihr zu Hause lebt, ich meine, wie es euch geht ...«

Bernadette gesteht mit der Offenheit der einfachen Armen, die durch keinen bürgerlichen Hochmut eingeschränkt wird:

»Bis vor zehn Tagen war's sehr schlimm, Herr. Da hatten wir nur Milloc zu essen. Seitdem aber hat Maman dreimal in der Woche die Bedienung bei Madame Millet, und Papa ist Postbeamter bei Monsieur Cazenave ...«

Der Staatsanwalt zeigt sich über diese Eröffnung sehr befriedigt:

»Aha, die Dame scheint also auch ihre praktischen Seiten zu haben ... Was ist das für eine Geschichte mit Madame Millet?«

Bernadette schaut Dutour lange an, ehe sie versetzt:

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr ...«

»Du weißt es sehr wohl, Kleine. Bedenke, daß dem Gericht nichts, aber auch gar nichts unbekannt ist. Du verheimlichst mir, daß du im Hause der Madame Millet wohnst ...«

»Das ist nicht wahr. Ich wohne nicht mehr dort. Ich hab nur zwei Nächte dort geschlafen, vergangenen Donnerstag und Freitag.«

»Gleichviel. Du warst der Gast eines der reichsten und prächtigsten Häuser von Lourdes. Ohne deine Dame wärst du nie dahin gekommen.«

Bernadette macht eine so heftige Kopfbewegung, daß ihr Capulet zurückfällt und den dunklen Scheitel entblößt:

»Madame Millet hat mich abgeholt. Sie hat Maman gebeten, daß ich bei ihr wohnen darf. Ich hab's getan, um ihr eine Freude zu machen, nicht für mich. Mir hat's ja gar keine besondre Freude gemacht ...«

»Und das weiße Seidenkleid?« fragt der Inquisitor scharf.

»Das weiße Kleid hab ich nicht getragen. Es hängt im Schrank der Mademoiselle Latapie.«

Der kaiserliche Staatsanwalt erhebt sich, den Armstuhl zurückschiebend:

»Nimm dich in acht, Bernadette. Du siehst, das Gericht weiß alles. Das Gericht kennt die Geschenke, die alle Welt dir und deinen Eltern ins Haus schickt. Wenn das Gericht auf die Idee kommen sollte, daß deine Dame eine glänzende Geschäftsspekulation ist, dann bist du verloren ... Ich aber will dir die Hand reichen und dich retten. Ich will dich sogar vor dem Verhör mit Herrn Jacomet bewahren, diesem ersten Schritt ins Gefängnis. Es ist ganz leicht, was ich von dir fordere. Du mußt dabei gar nichts abschwören oder widerrufen. Versprich mir nur, daß du gehorsam sein willst, denn ich bin das Gericht, das dir droht ...«

»Wenn ich es kann, Herr, werd ich Ihnen gehorchen«, sagt Bernadette unerschütterlich.

»Also versprich mir hier in die Hand, daß du nicht wieder zur Grotte gehen wirst.«

Bernadette zieht die Hand zurück wie vor Feuer:

»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Herr. Ich muß doch den Wunsch der Dame erfüllen.«

Die Unterlippe Vital Dutours tritt weit vor:

»Du stößt also meine Hand zurück, die dir helfen will. Überleg dir's! Ich warne dich zum letztenmal.«

Bernadette senkt ein wenig den Kopf. Ihr Gesicht ist leicht errötet:

»Ich muß noch zwölf Tage zur Grotte gehn«, flüstert sie.

Der Staatsanwalt merkt zu seiner eigenen Verwunderung, daß er sich nur mit Mühe beherrschen kann:

»Wir sind fertig. Ich brauche dich nicht mehr«, ruft er mit erhobener Stimme. »Du rennst in dein Verderben ...«

Allein geblieben, beginnt Vital Dutour sich zu schämen. Vom Gerichtssaal her ist er an billige Siege seiner Überlegenheit gewöhnt. Dort hat er es meist mit zerknirschten und zerbrochenen Existenzen zu tun, die um Barmherzigkeit winseln. »Ich reiche Ihnen die Hand, um Sie zu retten« das ist eine stehende Phrase des Prokurators, die niemals versagt. Meist windet sich dann der Angeklagte in geschmeichelten Tränen. Das Mädel hat nicht eine einzige Träne vergossen. Trotz des hundertmal erprobten Giftgemisches aus Drohung und Hilfsangebot ist das Mädel hart geblieben. Und schlimmer noch: anstatt daß er das Mädel unsicher gemacht hätte, hat das Mädel ihn unsicher gemacht. Die Folge dieser Einvernehmung ist ein fader moralischer Nachgeschmack, der seinem eigenen Leben gilt. Dutour weiß ein paar Minuten lang, daß der Vorwurf des Opportunismus, den er diesem verhungerten Geschöpf versetzt hat, haargenau auf ihn selbst zutrifft. Was ist denn die sogenannte Karriere anders, als ein wendiges Spekulationsgeschäft mit der gerade herrschenden Richtung? Sonderbar, das Mädel hat etwas zu verteidigen, wenn auch nur ein Hirngespinst. Genau um dieses Hirngespinst ist sie sicherer als ich. Was ich verteidige, geht mich nichts an. Heute heißt es Napoleon, gestern hieß es Louis Philippe, morgen wird es vielleicht ein Bourbon sein oder irgendein intriganter Advokat. Der Staat, haha, der Staat ...

Dutour bleibt erschrocken vor einem Spiegel stehn. Eine subalterne Fratze grinst ihn an, ein verdrießliches Papiergesicht mit einer geschwollenen, leuchtenden Schnupfennase mitten drin. Da streckt der kaiserliche Staatsanwalt wirklich und wahrhaftig seinem Spiegelbild die Zunge heraus. Dann tröstet er sich: Jacomet wird es schaffen, Jacomet ist ein gröberer Bursche als ich.

Mit dieser Zuversicht im Herzen schluckt er eine Arznei und legt sich zu Bett.

Bernadette hat sich nach diesem ersten erfolgreichen Scharmützel mit der Staatsgewalt in die Kirche geschlichen. Dort, in einem finstern Winkel versteckt, fühlt sie sich sicherer als zu Hause. Sie hat eine große Furcht vor Jacomet, der gegen ihren Vater einst die Rolle des unerbittlichen Verfolgers gespielt hat. Der Kommissär aber weiß, wo sich das Mädchen befindet. Er hat es persönlich übernommen, sie zu beobachten. Als nach der Vesper Bernadette in einem dichten Haufen von Kirchgängern aus dem Portal schlüpft, tritt Jacomet äußerst freundlich auf sie zu und klopft ihr väterlich auf die Schulter:

»Ich muß dich bitten, liebes Kind, einen kleinen Augenblick bei mir einzutreten. Es wird nicht lange dauern.«

Das ist keine Verhaftung, sondern eine nette Einladung. Dennoch aber entsteht sogleich ein Auflauf um das Paar. Bernadette scheint recht gleichmütig zu sein. Sie gibt der Tante Lucille, die neben ihr steht, den Auftrag, ihre Eltern zu verständigen. Die Menge aber nimmt Stellung gegen den Kommissär. Spottrufe fallen. »Gegen Kinder seid ihr stark, verhungern aber laßt ihr sie.« Stimmen zischen: »Vorsicht, Bernadette, nimm dein Maul in acht! Mir scheint, sie wollen dich einkasteln ...«

Büro und Wohnung des Polizeikommissärs liegen im Erdgeschoß des Hauses der Familie Cénac, die ebenso wie die Lafites, Millets, Lacrampes, Baups, zum Patriziat von Lourdes gehört. Den ersten Stock dieses an der Place Marcadale gelegenen Hauses hat der Steuerverwalter J. B. Estrade inne, der in gemeinsamem Haushalt mit seiner Schwester lebt, einem älteren Fräulein. Estrade hat seinen Nachbarn Jacomet um die Gunst gebeten, dem Verhör mit Bernadette beiwohnen zu dürfen. Das Memorandum Dozous' und die Schwärmerei seiner Schwester, die an dem letzten Gang zur Grotte teilgenommen hat, haben sein mit scharfer Abneigung vermischtes Interesse erweckt. Als Nationalökonom und Freund guter Literatur hat er durchaus keine Vorliebe für okkulte Extravaganzen. Er sitzt schon in dem großen, mit schwarzem Wachstuch bezogenen und mit weißen Knöpfen gezierten Besucher-Armstuhl, als Jacomet mit seinem Opfer das Kommissariat betritt. Dies ist ein einfenstriger Raum, dessen Einrichtung aus dem Armstuhl, dem Amtsschreibtisch, zwei Aktenschränken, einem Papierkorb und dem Spucknapf besteht. Es gibt nur zwei Sitzgelegenheiten. Bernadette kann folglich nicht Platz nehmen.

Nachdem Jacomet seinen Bleistift gespitzt und Konzeptpapier zurechtgelegt hat, beginnt er nach dem Schema:

»Also, wie heißt du?«

»Sie wissen doch, wie ich heiße.«

Bernadette erschrickt sogleich über diese Antwort. Sie kennt bereits die Wirkung solcher wahrheitsgemäßer Feststellungen. Deshalb fügt sie rasch hinzu:

»Ich heiße Soubirous, Bernadette ...«

Der Polizeikommissär legt den Bleistift hin und erklärt in väterlichem Ton:

»Liebe Bernadette, du bist dir wahrscheinlich nicht klar darüber, was hier vorgeht. Siehst du, mit diesem Bleistift hier schreibe ich auf dieses Papier all deine Aussagen. Sie werden etwas ergeben, was man ein Protokoll nennt. Dieses Protokoll wird der Teil eines Dossiers sein, das den Namen Bernadette Soubirous trägt. Der Inhaber eines Dossiers zu sein, ma pauvre petite, das ist keine sehr angenehme Sache. Anständige Leute, und vor allem junge Mädchen, besitzen kein Dossier bei der Polizei. Aber hör weiter! Deine Aussagen sende ich noch heute abend an Seine Exzellenz, den Herrn Präfekten in Tarbes. Der heißt Baron Massy und ist ein großmächtiger und sehr strenger Herr, mit dem man am besten nichts zu tun hat ... Ich hoffe, daß du jetzt verstehst, was vorgeht. Na also. Wie alt bist du?«

»Ich bin vierzehn Jahre, Herr.«

Jacomet hält im Schreiben inne:

»Ah, was du nicht sagst? Ich glaub, du übertreibst ...«

»O nein, ich geh sogar schon ins fünfzehnte.«

»Und da bist du noch immer nicht mit der Schule fertig«, seufzt der Polizeikommissär. »Deine Eltern haben's schwer mit dir. Du solltest lieber zusehn, daß du für sie bald eine Hilfe wirst. Was tust du zu Hause?«

»Oh, nichts Besondres. Geschirrwaschen, Kartoffeln schälen, und oft muß ich auf meine kleinen Brüder aufpassen ...«

Jacomet schiebt seinen Stuhl vom Schreibtisch ab und wendet sich voll der Delinquentin zu:

»Und jetzt, mein Kind, erzähl mir einmal recht ausführlich von dem, was du bei Massabielle erlebt hast ...«

Bernadette kreuzt die Hände über dem Bauch, so wie's die Bäuerinnen und Proletarierinnen der ganzen Welt tun, wenn sie vor den Haustoren einander die Tagesereignisse mitteilen. Sie läßt den Kopf ein wenig gegen die linke Schulter sinken und blickt starr auf das Papier des Kommissärs, das sich, während sie erzählt, mit raschen Schriftzeichen füllt. Merkwürdig ist es, daß durch das häufige Wiederholen ihre Erzählung geglättet und fast mechanisch klingt.

»Das ist wohl eine tolle Geschichte«, bekräftigt Jacomet am Schluß anerkennend. »Und kennst du diese Dame?«

Bernadette sieht den Mann groß an:

»Aber nein, ich kenne diese Dame natürlich nicht.«

»Eine merkwürdige Dame das! So elegant, und treibt sich dort herum, wo Leyrisse die Säue hütet ... Wie alt ist die Dame ungefähr?«

»Sechzehn oder siebzehn Jahre.«

»Und du sagst, daß sie sehr schön ist?«

Das Mädchen preßt die Faust bei dieser Frage krampfhaft gegen ihr Herz:

»Oh, sie ist schöner als alles andre auf der Welt!«

»Sag einmal, Bernadette, du erinnerst dich gewiß an Mademoiselle de Lafite, die vor ein paar Wochen geheiratet hat. Ist die Dame noch schöner als sie?«

»Das kann man doch gar nicht vergleichen, Herr«, lacht Bernadette auf, durch diese Zusammenstellung belustigt.

»Aber deine Dame, liebe Kleine, steht doch unbeweglich da wie eine Statue in der Kirche.«

»Das ist nicht wahr«, entgegnet Bernadette gekränkt. »Die Dame ist ganz natürlich, sie bewegt sich, sie kommt näher, sie spricht mit mir, sie grüßt alle Leute, und sie lacht sogar. O ja, sie kann sogar lachen ...«

Jacomet zeichnet einen fünfeckigen Stern auf sein Protokoll. Ohne von dieser Kunstübung aufzuschaun, wechselt er ein wenig die Tonart:

»Manche Leute sagen, die Dame habe dir auch irgendwelche geheimen Dinge anvertraut? ...«

Bernadette schweigt lange. Dann sagt sie sehr leise:

»O ja, sie hat mir etwas gesagt, was nur für mich bestimmt ist, und was ich nicht weitersagen darf ...«

»Auch mir nicht oder dem Herrn Staatsanwalt?«

»Auch Ihnen nicht oder dem Herrn Staatsanwalt.«

»Aber wenn Sœur Vauzous oder Abbé Pomian es von dir fordern?«

»Dann könnt ich's auch nicht sagen ...«

»Und wenn es dir der Heilige Vater in Rom selbst anbefiehlt?«

»Auch dann nicht. Aber der Heilige Vater in Rom wird's mir nicht anbefehlen ...«

Der Polizeikommissär lacht zu Estrade hin, der still dasitzt, den Glanzhut zwischen den Knien, den Spazierstock in der Hand:

»Ein eigensinniges Ding das, wie? ... Nun noch eins, ma petite! Was sagen deine Eltern zu dem Ganzen? Glauben sie?«

Bernadette überlegt ihre Antwort sehr lange, länger als alle vorhergehenden: »Ich glaube, daß meine Eltern nicht glauben«, erklärt sie endlich zögernd.

»Da hast du's«, lächelt Jacomet noch immer väterlich. »Und ich soll glauben, was nicht einmal deine Eltern glauben? Wenn deine Dame eine wirkliche Dame wäre, müßten sie auch die andern sehn. Da könnte so mancher daherkommen und zum Beispiel erzählen, er sähe täglich, wenn's dunkel wird, einen geheimnisvollen Rauchfangkehrer in seiner Stube, der ihm allerlei Weisungen zuflüstert, die er nicht weitergeben darf. Das würde denselben Effekt auf dumme Leute machen ... Hab ich recht? Sag selbst, Bernadette ...«

Bernadette schweigt apathisch zu dem Geistesblitz der Polizei. Diese aber beschließt jetzt, mittels der erprobten Kniffe und Trucs, mit denen man die kleinen Halunken fängt, zur Offensive überzugehen:

»Paß jetzt auf, Bernadette«, ermahnt Jacomet das Mädchen. »Ich werde dir deine Aussagen vorlesen, damit du mir ihre Richtigkeit bestätigst. Dann schicke ich das Protokoll sogleich an den Herrn Präfekten. Bist du bereit?«

Bernadette kommt ganz nahe an den Schreibtisch, damit ihr kein Wort entgehe. Der Kommissär beginnt im gleichgültigsten Amtston seine Notizen herunterzulesen. Er kommt zur Beschreibung der Dame:

»Bernadette Soubirous erklärt, daß die Dame einen blauen Schleier und einen weißen Gürtel trägt ...«

»Weißer Schleier und blauer Gürtel«, fährt das Mädchen sofort dazwischen.

»Nicht möglich«, ruft Jacomet. »Du widersprichst dir. Gib zu, daß du von einem weißen Gürtel gesprochen hast.«

»Sie müssen sich verschrieben haben, Herr«, erklärt Bernadette ruhig.

Die Polizei hat mit diesen Leimruten viel zu gute Erfahrungen gemacht, um die Sache verloren zu geben. Die Fahrt geht weiter über Stock und Stein. Die Delinquentin horcht gespannt: »Bernadette Soubirous behauptet, die Dame sei etwa zwanzig Jahre alt.«

»Das hab ich nicht behauptet. Die Dame ist keine siebzehn alt.«

»Keine siebzehn? Woher weißt du das? Wer hat dir das gesagt?«

»Wer soll mir das gesagt haben? Das seh ich doch allein.«

Jacomet wirft Bernadette einen raschen Blick zu. Dann versucht er, nach einer längeren, richtigen Passage, zum drittenmal sein Glück:

»Bernadette Soubirous behauptet, die Dame sehe genau so aus wie die Statue der Heiligen Jungfrau in der Pfarrkirche.«

Da aber wird das Mädchen zornig und stampft auf:

»Diesen Unsinn habe ich nicht gesagt, Herr. Das ist eine Lüge. Die Dame hat gar nichts mit der Heiligen Jungfrau in der Kirche zu tun!«

Hier aber springt Jacomet auf, um zur Verhörsfolter zweiten Grades für kleine Halunken zu schreiten:

»Nun aber ist es genug«, brüllt er. »Bilde dir ja nicht ein, daß du mit mir spielen kannst. Hier, in der Schublade meines Schreibtisches, hab ich die ganze Wahrheit liegen. Weh dir, wenn du lügst. Nur ein offenes Geständnis kann dich retten. Nenn mir die Namen aller Personen, die mit dir im Bunde sind! Ich kenne sie genau ...«

Bernadette weicht zwei Schrittchen zurück. Sie ist ganz blaß geworden, denn noch niemals hat sie ein Mensch so angeschrien wie der Polizeikommissär. Ihre Stimme ist tief verwundert, aber ruhig:

»Das, was Sie da sagen, Herr, versteh ich nicht ...«

Jacomet läßt seinem routinierten Zorn die Zügel schießen:

»Wenn du's nicht verstehst, will ich dir's erklären. Gewisse Personen, die ich genau kenne, haben dich angestiftet, diese widerliche Geschichte von deinen Erscheinungen herumzutragen. Man hat's dir mit vieler Müh in deinen armen Schädel eingetrichtert, und jetzt plärrst du dein eingelerntes Sprüchlein her. Glaubst du, ich hab's vorhin nicht mit meinen eigenen Ohren gehört, daß es eingelernt ist? ...«

Bernadette hat sich schon wieder gefaßt:

»Fragen Sie doch Jeanne Abadie, Herr, ob mich jemand angestiftet hat. Sie ist das erstemal mit mir gewesen ...«

»Für mich ist es schließlich ganz gleichgültig, ob du ein Geständnis machst oder ins Gefängnis wanderst, ma petite«, sagt Jacomet, ergreift das Mädchen bei der Hand und zieht es zum Fenster:

»Was siehst du da draußen?«

»Es stehen sehr viele Leute vor Ihrem Haus, Herr«, sagt Bernadette.

»Und all diese Leute werden und können dir nicht helfen, meine Liebe. Denn vor meinem Haus stehn auch drei Gendarmen. Siehst du sie dort? Das ist der Brigadier d'Angla mit Belhache und Pays. Sie warten nur auf meinen Befehl, um dich abzuführen. Also sei nicht deine eigene schlimmste Feindin, Bernadette. Monsieur Dutour, der hohe Procureur, hat dir befohlen, nicht mehr nach Massabielle zu gehen. Erkläre jetzt vor diesem Zeugen, Herrn Estrade, daß du gehorchen wirst.«

»Mein Versprechen muß ich halten«, flüstert Bernadette.

J. B. Estrade ergreift hier das erste und einzige Mal während des Verhörs das Wort:

»Der Herr Kommissär meint es gut mit dir, liebes Kind«, mahnt er. »Hör auf ihn und gib ihm das Versprechen.«

Bernadette umfaßt den fremden Mann mit einem kurzen Blick. Sie sieht sofort, daß er keinen Auftrag hat, sich in ihren schweren Kampf einzumischen. Daher würdigt sie ihn keiner Antwort. Estrade aber empfindet eine jähe Scham, als sei er zurechtgewiesen worden.

»Soll ich die Gendarmen rufen?« fragt Jacomet.

Bernadettens Finger umkrampfen ihren Beutel:

»Wenn mich die Gendarmen wegführen, kann ich nichts tun«, sagt sie.

»Das ist noch nicht alles«, bohrt der Kommissär weiter. »Auch deinen Vater und deine Mutter laß ich einsperren. Es geht mich nichts an, ob deine jüngern Geschwister dann verhungern oder nicht. Dein Vater war schon einmal wegen eines viel kleineren Verdachts in Gewahrsam, als es ein solcher Riesenbetrug ist ...«

Bernadette beugt den Kopf so tief, daß man ihr Gesicht nicht sehen kann. Minutenlanges Schweigen. Jacomet hat die Folter dritten Grades angewandt. Die bedarf einiger Zeit, um zu wirken. Anstatt einer Antwort des Mädchens klopft's aber leise an der Tür, einmal, zweimal.

»Herein«, schnarrt der Kommissär, sich Luft machend. Im Eingang taucht die hochgewachsene Gestalt Soubirous' auf. Er steht unsicher da, all seiner Würde entblößt, und dreht die Mütze in den Händen. In seinen Augen wechseln gedrückte Angst und jähes Aufbegehren. Vielleicht hat er sich einen Mut angetrunken, aber nicht genug.

»Zum Teufel, was wollt Ihr hier, Soubirous?« schreit ihn Jacomet an.

Der Mann atmet schwer und streckt seine Hände gegen Bernadette aus:

»Mein Kind will ich haben, mein armes Kind ...«

Jacomet wird plötzlich wieder umgänglich:

»Hört, Soubirous. Die Schweinerei bei der Grotte muß ein Ende nehmen. Ich dulde sie nicht länger. Schon morgen muß das aufhören. Verstanden?«

François Soubirous schlägt sich mit beiden Fäusten an die Brust, daß es dröhnt.

»Gott ist mein Zeuge, Herr Kommissär, daß ich nichts anderes will, als daß es endlich aufhört. Meine Louise und ich gehn zugrunde an dieser Geschichte.«

Jacomet schiebt seine Papiere zusammen.

»Das Mädel ist noch minderjährig«, knurrt er. »Ihr als Vater seid mir verantwortlich für sie. Ihr habt ihr jeden andern Weg zu verbieten als den in die Schule. Wenn es nicht anders geht, sperrt sie zu Hause ein. Sonst aber sperre ich euch ein, euch alle miteinander, und ich mache es wahr, das schwör ich. Grund genug dazu ist da. Ihr seid von nun an unter schärfster Bewachung. Und jetzt Gott befohlen, ihr beide. Und daß ich euch hier nie wieder sehn muß!«

Bernadette tritt neben ihrem Vater aus dem Hause Cénac, den Kopf noch immer gesenkt. Sie beißt die Zähne zusammen. Hier will sie nicht weinen, erst daheim in der Kammer oben. Der Platz ist schwarz von Menschen. Dunkles Gemurmel schließt sie ein:

»Gib nicht nach, Bernadette! ... Hast dich fein durchgeschlagen ... Sie können dir ja nichts tun ...«

Bernadette aber hört nur die wehleidige Stimme des Vaters, die immer wiederholt:

»Siehst du, das verdanken wir dir, mein Kind, diesen Skandal ...«

In der Rue des Petites Fossées sind's nur mehr die Getreuesten. An ihrer Spitze marschiert Antoine Nicolau. Er schwingt einen Knüppel:

»Ich hätte dich herausgeholt, Bernadette, meiner Treu ...«

Bernadette bemerkt ihren Ritter kaum, sie hat viel zuviel mit dem Atem zu tun, der immer kürzer wird ...

 

»Nun, Nachbar, was halten Sie davon?« fragt der Polizeikommissär den Steuerverwalter.

Estrade reibt seine Stirn, als müsse er Kopfschmerzen verjagen:

»Das Mädel hat nicht gelogen«, sagt er endlich kurz.

Jacomet lacht ein Lachen im Baßschlüssel:

»Da sieht man, wie naiv unser Laienpublikum ist. Ich erinnere mich nicht, unter meinen hartgesottensten Kunden jemals einen gefunden zu haben, der geriebener, scharfsinniger, willenskräftiger gewesen wäre als diese Kleine. Haben Sie nicht bemerkt, wie raffiniert sie jede Antwort überlegt und die Folgen vorausberechnet? Nicht in eine einzige Falle ist sie gegangen. Alle Achtung, sie hat nicht aufgegeben bis zuletzt. Wäre der Papa nicht gekommen, ich weiß selbst nicht, wie ich mich aus der Affäre gezogen hätte ...«

Estrade zuckt die Achseln:

»Und was hat sie davon, einen so gefährlichen Schwindel weiterzutreiben?«

»Es ist der Erfolg, mein Bester, der Beifall, die Rolle, die man spielt, ganz abgesehen von den Geschenken. Die menschliche Seele ist für uns von der Polizei kein sehr schwieriges Rechenexempel ... Benehmen sich übrigens Ihrer Meinung nach die Heiligen vor der Polizei alle so abgebrüht wie diese kleine Hochstaplerin des Himmels?«

»Aber, aber, lieber Nachbar, wer spricht von Himmel und Heiligkeit? Um Gottes willen! Am allerwenigsten diese Kleine. Ich bin überzeugt davon, daß sie sich über die absonderliche Wesenheit ihrer Erscheinung gar keine Gedanken macht. Sie nimmt sie hin als natürlich gegeben. Sie ist tief fasziniert und weiß darum zu faszinieren. Das ist es, was ich empfunden habe in dieser Stunde ...«

Kommissär Jacomet lächelt nachsichtig:

»Mein Herr und Nachbar, Sie sind ein Mann der Steuer, und ich bin ein Mann der Polizei. Sie haben einen tiefen Einblick in das Getriebe der Finanzverwaltung. Ich kenne mich ein wenig in der Seele der kleinen Leute hier aus. Was aber diese bescheidene Psychologie anbetrifft, da können Sie sich ruhig auf den alten Jacomet verlassen.«


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