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Kapitel Zweiundzwanzig. Der Tausch der Rosenkränze oder: Sie liebt mich

Die Entstehung der Quelle von Massabielle ist nicht nur Bernadettens Triumph, sie ist der Sieg des ganzen Volkes von Bigorre gegen die kaiserlichen Behörden und gegen die Kirche. Nicht nur am Morgen pilgern jetzt Tausende zur Grotte, um durch die Ekstase des Soubirous-Kindes hindurch die Sichtbarkeit des unsichtbar Göttlichen erschüttert zu genießen, auch an den Abenden bilden sich lange Züge, die mit brennenden Kerzen, Kienspänen und Fackeln nach Massabielle wallfahrten. So erfüllt sich ganz natürlich der Wunsch der Dame nach Prozessionen, den ihr der Priester rundweg abgeschlagen hat.

Obwohl das bloße Auftauchen einer bis dahin verborgenen Quelle von der theologischen Obrigkeit niemals als ein Wunder anerkannt werden kann, so spricht doch alle Welt von einem Wunder. Selbst so gebildete und nüchterne Köpfe wie Estrade, Clarens und Dozous halten die Fügung zumindest, die zum Entstehn des Gewässers führte, für äußerst sonderbar. Die große Masse aber, die noch am Donnerstag Bernadette als abstoßend geisteskrank verdammt hatte, zeigt eine durch Schuldgefühl gesteigerte Begeisterung. Die Unsicheren, Mißtrauischen, Feindseligen überbieten sich nun an Glaubensbeweisen. Antoinette Peyret zum Beispiel erscheint allmorgendlich um sechs vor dem Cachot, um, auf der Straße kniend, die niedrige Wohnstätte der Thaumaturgin zu verehren. Sie erringt dadurch das Wohlwollen von Madame Millet, die, da sie von Anfang an glaubte, sich gleichsam als die Mutter des Wunders fühlt. Die Piguno, von der auffälligsten Demütigkeit erfüllt, bittet Louise Soubirous, der Tochter zu erlauben, daß sie ihren Rosenkranz segnend berühre. Die Tochter verweigert's zornig. Auch Jeanne Abadie, die den ersten Stein auf die Bevorzugte warf, versucht einmal, Bernadettens Hand zu küssen, was ihr nicht gelingt. Das Volk selbst, zumal das bäurische der Pyrenäen, erlebt Tage aus verschollenen Jahrhunderten, wie sie der romantischste Phantast in die moderne Zeit nicht hineinzuträumen gewagt hätte. Es ist so, als schwinge hier rundherum um Lourdes ein vulkanischer Boden des Übernatürlichen, der jetzt an einer längst verschlackten Stelle den feurigen Ausbruch feiert. Die Menschen sind hier wie überall. Die Ärmsten sind vielleicht noch ärmer als überall sonst in Frankreich. Sie leben auf dem Lande in baufälligen Keuschen. Sie schlafen im Stall mit ihren Tieren. Sie bekommen nur selten ein Zwanzig-Sous-Stück in die Hand. Die Gedanken der Männer kreisen um nichts anderes als um dieses Zwanzig-Sous-Stück. Die Gedanken der Frauen kreisen um den täglichen Milloc, das ersehnte Stück Butter oder Schmalz, den roten oder weißen Fetzen Flanell für ein neues Capulet. Nicht der Reichtum, sondern die Armut ist der Hort des Materialismus. Nur die Notdurft und die Entbehrung ist dazu verdammt, den Wert des Selbstverständlichen zu überschätzen.

Der Soubirous-Tochter aber ist es mit Hilfe unbegreiflicher Mächte gelungen, noch ein größeres Wunder zu vollbringen als die Entdeckung einer Quelle. Ohne es zu wissen oder zu wollen, teilt Bernadette den Armen etwas von jener erbarmungsvollen Getrostheit mit, die sie noch immer überflutet, wenn sie die Dame wiedersehen darf. In einer unerklärten Übertragung gibt sie den Massen von dem Himmel ihrer Liebe einen Anteil. Die Masse fühlt im Ganzen und in all ihren Einzelwesen eine Notlinderung, die sie nicht versteht. Die Masse fühlt durch Bernadettens Mittlertum, daß hinter den von den Priestern gebrauchten Worten, Formeln und Riten nicht nur eine verschwommene Möglichkeit liege, wie bisher, sondern eine beinah handgreifliche Wirklichkeit. Diese Annäherung einer andern Welt an diese Welt verändert viel. Nicht mehr ist die Not ein Granitblock im Rucksack, den man von der Sinnlosigkeit der Geburt bis zur Sinnlosigkeit des Todes schleppt. Der Granit ist porös geworden und seltsam leicht. Selbst der dumpfe Verstand des Hirten Leyrisse empfindet etwas von dem tänzerischen Bewußtsein der festlichen Zweideutigkeit des Lebens, die alle Seelen erfüllt. Seine Säue treibt er längst nicht mehr nach Massabielle. Doch mit der knolligen Singstimme, die ihm in der Kehle sitzt, grölt er den ganzen Tag die Lieder seiner Berge. Das ganze Leben, Haß, Feindschaft, Habsucht, Neid, Angst, Mißtrauen, Eifersucht, all das verliert ein beträchtliches Gewicht von seinem Ernst. Jeden Morgen erscheint die Dame, um zu beweisen, daß es noch andere Verhältnisse gibt als die irdischen. Es kommt also nicht darauf an, sich um den Bissen Brot abzusorgen wie ein hungriger Hund. In die Arbeit mischt sich ein spielerisches Element. Man melkt die Ziegen anders. Man wäscht die Wäsche anders. Und alle Herzen sind erfüllt von der Erwartung: morgen! Was wird morgen in der Grotte geschehn!

Lourdes ist ein Erdbebenherd, der über ganz Frankreich ausstrahlt. Frankreich ist durch drei Revolutionen gegangen, die des Geistes Freiheit zu sichern gedachten gegen den Mißbrauch des Kreuzes, das die oberen Stände vor sich hertrugen, um ihre Privilegien zu sichern. Dieses Frankreich bäumt sich auf gegen den vermeintlichen Rückfall in überwundene Geisteszustände. Man lebt, wie Clarens es seinen Schülern zu verstehen gab, im Anfang der Zeiten noch. Die Erde ist noch nicht erobert. Die Industrie mit ihren neuen Maschinen schafft Glück und Behagen für alle. Es gibt keine wichtigere Aufgabe, als die Erde dem menschlichen Glück zu erobern. Wer die Erfüllung dieser Aufgabe durch übersinnliche Träumereien stört, ist ein Todfeind der notwendigen Entwicklung und damit der menschlichen Gesellschaft. So denkt Herr Duran, der die große Pariser Presse in Betracht zieht; und ebenso denkt die große Pariser Presse, die Herrn Duran in Betracht zieht. Sie versteigt sich nicht einmal zu der Annahme des Dichters Lafite, daß der Mond ein Wunder sei. Ein Wunder ist nur die Rückständigkeit, die nicht einsehen will, daß die Natur ziemlich einfach organisiert sei. Der Himmel ist ein leerer, starrer Raum, angefüllt mit einigen Trillionen von verschiedenartigen Sternsystemen. Er ist die Natur selbst, und wo zwischen den Feuerbällen eine unermeßliche Leere gähnt, dort dürfte für eine sogenannte Übernatur kein Platz sein. Auf einem unwichtigen Trabanten eines der unwichtigsten Sternsysteme vegetiert eine Affenart, Mensch genannt. Die Vorstellung, daß die männlichen Tiere und sogar ein weibliches Tier dieser kümmerlichen Affenart die Ebenbilder jener Wesen sein sollen, die das Weltall regieren (regieren, auch eine anthropomorphe Ableitung), entspricht der Denkart trauriger Wilder, die sich zu der größten Tat ihres Stammes noch nicht durchgerungen haben, zum Verzicht auf Wunschgestalten. Erst wenn die dolose, die absichtsvolle Dummheit überwunden sein wird, die jedem Illusionismus zugrunde liegt, erst wenn der Mensch sich von der vorzeitlichen Gefühlstäuschung losgesagt hat, daß seine Erde mitsamt ihm selbst ein Mittelpunkt sei und sein Geist etwas anderes als eine durch ihre Notdurft bedingte zweckmäßige Funktion der Materie, und wenn er sich dann endlich bescheidet, in seinem Leben nichts Größeres zu sehen als den physikalisch-chemisch-biologischen Mechanismus, das es im wesentlichen ist, dann erst wird er anfangen, ein Mensch zu sein, anstatt eines dämonengläubigen Halbtiers. Diese Menschwerdung wird unmittelbar Duldsamkeit hervorbringen, Vernunftherrschaft und Vernichtung aller dunklen, mörderischen Triebe. Deshalb ist die Affäre von Lourdes ein nicht zu unterschätzendes Unheil, weil sie der klaren Fahrt des Menschen zur irdischen Erlösung von Armut, Vorurteil und Unwissenheit den ältesten Schutt in die Bahn schleudert. So offen freilich wagt »Le Siècle« nicht zu schreiben und nicht einmal »La Petite République«, hat man doch immerhin noch mit der kirchlichen Macht und einer peinlichen Anklage wegen Gotteslästerung zu rechnen. Der kleine »Lavedan« aber bringt in seiner letzten Nummer einen heiteren Artikel über »La Source«, der vermutlich vom Bürgermeister Lacadé inspiriert ist. Darin wird hervorgehoben, daß der Boden von Lourdes und Umgegend voll von Mineral- und Heilquellen sei, die keine wunderbare Dame brauchen, um aus der Erde geschürft und nutzbar gemacht zu werden.

Es gibt aber neben dem Frankreich dieser streitbaren Leitartikel noch ein anderes. Das ist nicht einmal das Frankreich der gläubigen Massen und der klerikalen Aristokratie, sondern das Land der leicht entzückten und gern erschütterten Seelen, ein Land der Frauen vorzüglich. Diese horchen atemlos den täglichen Berichten aus Lourdes. Die Geschichte vom Hirtenmädchen und der Dame, eine französische Geschichte, erfüllt sie mit den freudigsten Gefühlen. Bernadette findet in ihren Reihen Verteidiger, die ebenfalls in gewissen Zeitungen schreiben. Der Kampf entbrennt. »Die Apparitionen von Lourdes« sind eine nationale Affäre von weitem Ausmaß geworden.

Eine nationale Affäre! Das ist es. Die kaiserliche Regierung hätte den Angriff jeder andern Fraktion eher erwartet als der des Himmels. Hätten die Sozialisten, die Jakobiner, die Freimaurer, die Royalisten, die Orléanisten irgendeinen politischen Prozeß oder einen Korruptionsfall zum Anlaß genommen, dem Regime einen Hinterhalt zu legen, dem wäre mit den üblichen Mitteln leicht zu begegnen gewesen. Aber im engeren Ministerrat, wo schon zum zweitenmal die Apparitionen auf der Tagesordnung stehn, machen die Herren denselben Scherz, den sich Bürgermeister Lacadé schon vor zwei Wochen geleistet hat: »Man kann doch von uns nicht verlangen, daß wir die Allerseligste Jungfrau einsperren!«

Inzwischen ist von der Kabinettskanzlei des Kaisers ein dringender Rapport vom Kultusministerium eingefordert worden. Monsieur Roulland erstattet ihn sehr ausführlich und schließt mit der ausgesprochen tückischen Bitte um eine allergnädigste Willensentscheidung. Diese gelangt wiederum nur in einer allgemein gehaltenen Weisung herab, die fordert, daß den Erscheinungen von Massabielle und den aus ihnen erfließenden Mißhelligkeiten ehemöglichst ein Ende gesetzt werde. Wie das zu geschehen habe, sagt die kaiserliche Kabinettskanzlei ebensowenig wie jede andre Stelle. Sie schraubt sogar den Ernst ihrer Weisung noch herab, indem sie ausdrücklich wünscht, daß jede Härte vermieden werde und auf die religiösen Empfindungen des Pyrenäenvolkes die erdenklichste Rücksicht zu nehmen sei. Minister Roulland lacht spöttisch auf, als er in dem prächtigen Dienststück den vertrackten Stil seines Herrn, des kleineren Napoleon, untrüglich erkennt. Nun mag die Presse sich austoben, wie sie will. Er ist so ziemlich gedeckt. So verbindet alle staatlichen Autoritäten, vom Kaiser hinunter bis zum Kommissär Jacomet, ein einziges Band: die Verlegenheit.

Roulland beglückt unverzüglich den Präfekten der Hochpyrenäen, Baron Massy, mit dieser zweideutigen Willensentscheidung des Kaisers. Von Massy kann die Welt nichts anderes sagen, als daß er »ein korrekter Mann« ist. Er geht stets in korrektes Schwarz gekleidet, trägt Lackschuhe und Glacéhandschuhe selbst im Amt. Sein hoher, ausgeschnittener Stehkragen geht sogar über die Korrektheit hinaus. Der Baron stammt aus einer der korrektesten Familien Frankreichs, besitzt korrektermaßen alle Orden und Auszeichnungen seines Ranges, einschließlich des vatikanischen Sankt-Gregorius-Ordens, und sieht ansonsten aus wie die menschgewordene Formel der Reisepässe: »Besondere Merkmale: keine.« Das Département, dem Baron Massy vorsteht, gilt in der Geheimwissenschaft der französischen Verwaltung, unbekannt warum, als Sprungbrett für die Präfektur des Départements Seine, in dem die Stadt Paris liegt. Von Tarbes also führt ein direkter Weg zu einem der höchsten Ämter des Reiches. Der Baron weiß genau, was auf dem Spiele steht. Gelingt es ihm nicht, die nationale Affäre von Lourdes zur Zufriedenheit seiner Höheren und erfreulich für alle Teile in Ordnung zu bringen, dann mag Paris und seine ganze Karriere beim Teufel sein.

Kaum hat Massy die lange Depesche des Ministers überflogen, als er sich schon in seine Equipage wirft. Der Weg vom Palais der Präfektur zum bischöflichen Palais ist recht kurz, aber der Präfekt verschmäht es aus Prinzip, sich seinen Untertanen als Fußgänger zu zeigen. Seine Beziehungen zum Kirchenfürsten von Tarbes sind zwar nicht gerade gespannt, aber doch recht kalt. Seine Gnaden, Monseigneur Bertrand Sévère Laurence, der genau weiß, was die Uhr geschlagen hat, läßt Seine Exzellenz deshalb nicht ungern ein Viertelstündchen warten. Er befindet sich gerade, so wird gemeldet, in seiner Privatkapelle. Monseigneur ist alles eher als ein korrekter Mann, der einer korrekten Familie entstammt. Ganz im Gegenteil! Er ist ein arrivierter Plebejer, ein Prolet, dessen Vater Straßenarbeiter im Kanton von Béarn gewesen ist. Seine Feinde munkeln sogar, daß Bischöfliche Gnaden bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr kaum lesen und schreiben konnten. Dann erst habe dieser hochbegabte Analphabet mit dem entfesselten Auftrieb aller Niedriggeborenen das Seminar von Aire und seine Universitätsstudien mit Auszeichnung in allen Fächern durchlaufen. Baron Massy knirscht vor Empörung, daß man ihn warten läßt. Dieser Fuchs aller Füchse, denkt er und erschrickt, weil er seinen hohen Glanzhut zwischen den Knien allzu heftig eingepreßt hat. Als aber dann die hohe, bäuerische Gestalt Monseigneurs vor ihm steht, knickt er zusammen und markiert einen Ringkuß, der jedoch durch eine milde Gebärde abgewendet wird.

»Votre Grandeur«, beginnt der Baron, »ich bitte um Ihre Hilfe. Die Dinge in Lourdes wachsen sich zu einer Art von Rebellion aus. Sie allein können es verhindern, daß wir andere Saiten aufziehn ...«

Die Mundwinkel des Bischofs sind von Natur nach abwärts gebogen, wodurch sein Gesicht nur selten einen sarkastisch stolzen Zug verliert.

»Ziehen Sie ruhig andre Saiten auf, Exzellenz«, seufzt er teilnahmsvoll. »Es wäre nur wünschenswert ...«

»Ich kämpfe für die Ehre und Heiligkeit der Religion, Monseigneur, die durch diese unwürdige Komödie aufs schwerste bedroht wird.«

Der Bischof zieht die dichten, weißen Augenbrauen hoch:

»Der Klerus des Kantons Lourdes hat durch den Dechanten ein strenges Verbot erhalten, Zeuge dieser Komödie zu sein, wie Sie es zu nennen belieben ...«

»Das ist nicht genug, Monseigneur. Sie sollten die Komödie selbst verbieten. Sie sollten es verhindern, daß diese sogenannten Erscheinungen den Glauben vor Gläubigen und Ungläubigen lächerlich machen.«

Bertrand Sévère lehnt sich weit in seinen Fauteuil zurück, die Hand eines Arbeiters auf den elfenbeinernen Krückstock gestützt:

»Und wenn in diesen Erscheinungen dennoch ein übernatürlicher Kern steckt«, sagt er langsam.

Dem korrekten Baron Massy wird der hohe Stehkragen zu eng:

»Ein übernatürlicher Kern, wer kann das entscheiden?«

»Eine einzige Institution, Exzellenz«, lächelt der alte Bischof flüchtig. »Die Heilige Kirche.«

Der Präfekt beschließt, seine fest geschlungene Krawatte ein wenig zu lockern:

»Votre Grandeur, ich hatte den Eindruck, daß Sie durchaus nicht an jenen übernatürlichen Kern glauben und die Farce ebenso verurteilen wie wir.«

»Mag sein, mag sein, bester Baron«, lächelt Monseigneur wieder undurchdringlich. »Aber Sie werden mir zugeben, daß der Bischof der allerletzte Mann sein darf, der sich einem möglichen Wunder in den Weg stellt. Und ein Wunder, eine Offenbarung der Übernatur, ist immer und überall möglich, auch in meiner bescheidenen Diözese. Meine Aufgabe in diesem Fall heißt nichts anderes als Behutsamkeit und Zurückhaltung. Von Ihnen, Exzellenz, erwarten wir hingegen weise Entschlossenheit wie gewöhnlich ...«

Und er neigt sein weißes Priesterhaupt verabschiedend ziemlich tief vor dem weltlichen Machthaber.

Unverrichteterdinge in sein Büro zurückgekehrt, diktiert Baron Massy sogleich eine Zirkulardepesche an den Unterpräfekten, an das Polizeikommissariat in Lourdes, an die dortige Staatsanwaltschaft und das Bürgermeisteramt. Er fordert eine verschärfte Überwachung der Familie Soubirous, insbesondere, was etwaige Geldgeschenke anbelangt. Aus dem unbefugten Verkauf von religiösen Weihgütern (Segnung von Rosenkränzen gegen Geld und Geldeswert) ließe sich vielleicht ein Vergehen konstruieren, das zur Verhaftung ausreicht. Käme ein solcher Fall zur Kenntnis der Behörde, möge man unverzüglich die ganze Familie festnehmen. Zum Schluß dieser Depesche erläßt Baron Massy noch die denkwürdige Verfügung, daß diejenigen Gendarmeriebeamten, die den Sicherheitsdienst bei der Grotte versehen, stets in voller Ausrüstung und mit Handschuhen zu erscheinen haben. Diese Handschuhe (aus gelbem Waschleder, nach der Adjustierungsvorschrift) tauchen in dem korrekten Geiste Massys nur deshalb auf, weil er der luftigen Dame beweisen will, daß er selbst, als personifizierte Staatsgewalt, nun Ernst zu machen gesonnen sei. Die Dinge aber liegen so heimtückisch, daß die erwähnten Handschuhe nicht als Drohung der Staatsgewalt wirken, sondern als ihre Reverenz vor der Dame.

Der März ist angebrochen. Noch viermal, denkt Bernadette, dann sind die fünfzehn Tage um, der letzte Donnerstag ist da, und sie wird nicht mehr kommen. Wird sie nicht mehr kommen? Sie hat ja nicht gesagt, daß sie nach den fünfzehn Tagen nicht mehr kommen werde. Das behauptet nur steif und fest Tante Bernarde. Tante Bernarde aber ist eine starke Seele und, wie viele starke Seelen, eine Schwarzseherin. Sie hat im Gegensatz zum Elternpaar Soubirous eine ausgesprochene Vorliebe fürs Unangenehme. Bernadette wird hin und her gerissen zwischen würgender Angst und unendlicher Hoffnung. Ist es ausgeschlossen, daß die Dame ihr treu bleibt das ganze Leben lang? Könnte die Dame nicht älter und alt werden, zugleich mit ihr, täglich dort bei Massabielle? Die Leute würden sich bald dran gewöhnen und nicht mehr hinkommen. Sie, Bernadette, würde den ganzen Tag arbeiten wie alle Welt. Monsieur Philippe ist schon sehr alt. Vielleicht könnte sie Dienstmädchen werden bei Madame Millet. Ach, jede Arbeit wäre ihr recht. Wenn die Dame allmorgendlich zu ihr kommt, will sie selbst schmutzige Wäsche waschen, was sie von allen Tätigkeiten am meisten verabscheut. Sie verbeißt sich in die holde Vorstellung, daß die Gemeinschaft ihrer Liebe dauern könne, solange das Leben dauert. Die andere Vorstellung, daß am nächsten Donnerstag alles zu Ende sein soll, ist so unnatürlich, daß sie ihr gar nicht zugänglich ist. Gibt es ein Weiterleben ohne die tägliche Liebesbegnadung? Vor diesen drängenden Fragen verschwindet im Bewußtsein des Mädchens selbst die wundersame Tat, die Erweckung der Quelle, zu einem schattenhaften Nebengeschehen. Bernadette möchte jede Stunde der vergönnten Tage festhalten, damit sie nicht vergehe. Am Morgen in der Grotte fleht es jetzt jedesmal stumm aus ihrem Herzen:

»Bitte, bleiben Sie heute recht lange, Madame.«

Die Dame nickt darauf freundlich lächelnde Bejahung. Aber den Wunsch des Mädchens erfüllt sie insofern nicht, als sie ihr Bleiben niemals über drei oder höchstens vier Viertelstunden ausdehnt. Vermutlich weiß die Dame genau, was sie von den körperlichen Kräften Bernadettens fordern darf und was nicht. Wenn es schon für die Beglückende, nach des Mädchens Auffassung, sehr anstrengend ist, die Ekstase hervorzurufen, wie anstrengend muß es erst für die Beglückte sein, diese Ekstase zu erdulden!

Das Offizium in der Grotte ist nun um einige Riten vermehrt. Die Dame fordert täglich zu Beginn der Erscheinung, daß Bernadette von den Kräutern esse, von der Quelle trinke und sich in ihr wasche. Merkwürdig genug, die Menschen, die während der letzten Vision sich immer mehr angewöhnt haben, die Gebärden der jungen Seherin nachzuahmen, ihre hervorgestoßenen Worte zu wiederholen, verschmähen es, die neue, immer lebhafter sprudelnde Quelle ihrerseits zu gebrauchen. Obwohl die Geschichte Bouriettes die Runde durch Lourdes gemacht hat, glaubt niemand daran. Bouriette sprach immer von sich als von einem »Blinden« und ist niemals blind gewesen, sondern sieht recht begierig und verschlagen in die Welt. Bouriette ist ein äquivoker Fall und nicht sehr tauglich zum Gegenstand eines mirakulösen Beispiels. So kommt es, daß man die Quelle für nichts andres nimmt als für die schlagfertige Antwort der Dame auf die Forderung des Dechanten nach einem Rosenwunder. Die Dame ist kein Küster, der dem Befehl seines Pfarrers gehorchen muß. Sie hat ihre eigenen Einfälle. Sie ist nicht angewiesen auf den Witz eines cholerischen Polterers. Oho, du forderst Rosen im Februar, damit ich meine Kräfte beweise? Warte nur, Freund! Rosen gibt's keine, so billig mach ich mich nicht. Dafür aber bringe ich hervor, woran weder du noch alle andern gedacht haben. Erkennt ihr endlich, daß ich euch überlegen bin? Die Quelle gilt demnach als schlagender Triumph der lebendigen Dame über eine obstinate und feindselige Geistlichkeit. Einen praktischen Zweck schreibt ihr außer Bouriette niemand zu. Dieser aber hält seit einigen Tagen den Mund und badet sein Aug ganz im stillen, da er dem eifersüchtigen Einfall erlegen ist, die Heilkraft der Quelle könne erlahmen, wenn er sie mit andern Kranken teilen müßte.

Tausende sind nun allmorgendlich Zeugen, wie Bernadette zu Beginn der Entrückung auf Befehl der Holdseligen sich in der Quelle wäscht und aus der hohlen Hand trinkt. Sie messen dem keine andere als eine rituelle oder mystische Bedeutung zu. Bernadette feiert in diesen Gebräuchen eine sonderbare Kommunion mit der Dame. Niemand kommt noch auf die Idee, daß die Dame mit der Hervorbringung der Quelle einen höchst sachgemäßen Zweck verbinden könnte. Niemand versteht, daß die Dame ihren Befehl alltäglich nur deshalb wiederholt, um die Leute durch des Mädchens Beispiel auf den rechten Weg zu führen. Nur Bernadette, die Sehende und Liebende, hat die Geliebte genugsam ergründet, um dessen bewußt zu sein, daß es dieser nicht immer möglich ist, ihren Willen auf direkte Art kundzutun. Ebensowenig wie sie es über sich bringt, Namen zu nennen, vermag sie es, unverhüllt auszusprechen: Tu dies und das, damit dies und das geschehe! Irgendeine königinnenhafte, höfische Schamhaftigkeit verpflichtet sie zu rätselvollen Umschweifen. Bernadette aber hat nicht die Welt im Sinn, sondern einzig und allein die Dame. Deshalb macht auch sie sich über Wesen und Zweck der Quelle keine Gedanken. Sie übt den reinsten Gehorsam, den es gibt, den Gehorsam, der nicht fragt.

Dennoch kann auch Bernadette von gewissen leichten Verschlagenheiten nicht freigesprochen werden. Es sind die unschuldigen Listen der Liebe, die sie dann und wann anwendet, um die Dame zu prüfen. Das Rosenkranzgebet bedeutet zwischen ihr und der Dame den entzückendsten Teil der Gemeinschaft. Es ist ein ruhevolles Ineinander-Versunkensein, wenn Bernadette das Ave murmelt und die schwarze Perle ihrer kümmerlichen Schnur weiterschiebt, wenn die Dame mit stummen Lippen, aber klar beobachtenden Augen der Bewegung des Mädchens nachfolgt und nun ihrerseits die nächste Perle ihres langen, strahlenden Kranzes durch die Finger gleiten läßt – das bedeutet mehr als ein gemeinschaftliches Gebet, das ist die herzberauschende Form der Berührung, die dieser Liebe entspricht. Dann ist es so, als hielte jeder der beiden Partner ein Ende desselben unsichtbaren Stabes in der Hand, und durch den verbindenden Stoff flute Blutwärme und geistigste Sehnsucht vom einen zum andern. Alles, was Bernadette unter Führung der Dame anfaßt, gewinnt eine neue, frische, zum erstenmal erlebte Bedeutung, als wär's vorher noch nicht dagewesen, selbst die alte abgegriffene Gebetsschnur.

Da hat sich gestern am Abend folgendes begeben: Die Peyret kam mit einer ihrer jungen Hilfsnäherinnen in den Cachot. Pauline Sans hieß die und war nur um zwei Jahre älter als Bernadette. (Die Verwachsene blinzelte jetzt nicht mehr mißtrauisch überheblich, sondern bestürzt unterwürfig.) Sie pries Pauline Sans hoch als ihre beste Arbeiterin und liebe Freundin. Bernadette möge doch den Wunsch des Mädchens erfüllen! Pauline Sans errötete tief und bat die Bernadette, mit ihr den Rosenkranz zu tauschen. Sie könne sich keine größere Auszeichnung denken, als an der Schnur zu beten, auf der das Auge der Dame geruht habe. Das Liebste, was sie besitze, sei ihr eigener Rosenkranz, ein Erbstück ihrer Mutter, aus echten, großen, blutroten Korallen gefädelt. So glänzend dieser Tausch auch gewesen wäre, Bernadette wies ihn im ersten Augenblick, nicht ohne Heftigkeit, zurück. Später aber wurde sie nachdenklich, besann sich anders und erklärte, sie wolle am nächsten Morgen den Rosenkranz Paulinens gebrauchen: diese aber möge sich dicht in ihrer Nähe aufhalten. Nun, nachdem die erste Begrüßung, das Trinken und Waschen vorüber ist und sie, wie immer, auf einem großen, flachen Stein der Nische gegenüber kniet, holt Bernadette heimlich und sehr zögernd die prächtige Korallenschnur Paulinens aus ihrem Beutel. Das Herz klopft ihr wild vor Unruhe. Denn jetzt wird es sich entscheiden, wieviel sie der Dame wert ist. Das schwarze, dürftige Rosenkränzlein ist ja gleichsam das einzige materielle Band ihrer Liebe. Deshalb, wenn sie schläft, hat sie's immer unterm Kopfkissen liegen. Bernadette erschrickt vor ihrer eigenen Unerschrockenheit, mit der sie der Dame diese Falle legt: wenn sie nichts bemerkt, bin ich ihr gleichgültig. Wenn sie's bemerkt, liebt sie mich.

Dann aber, mit der ganzen rührenden Verzagtheit eines Wesens, das am Geliebtsein zweifelt, wagt sie es doch nicht, die Falle ganz radikal zu stellen. Sie will dem Glück ein wenig nachhelfen. Und deshalb schwenkt sie den auffallenden Korallenkranz hin und her, damit er der Dame ja in die Augen steche. Diese zögert sogleich, läßt ihren eigenen Rosenkranz sinken, die feine Trübung, die Bernadette so genau kennt, zieht über ihr Antlitz. Ihre Lippen bewegen sich:

»Das ist Ihr Rosenkranz nicht ...«

Aus Bernadettens zuckendem Herzen stößt es hervor:

»Nein, Madame, es ist nicht meiner. Mademoiselle Sans hat mich gebeten, meinen häßlichen mit ihrem schönen zu tauschen. Ich hab mir gedacht, ein schöner wird Ihnen vielleicht lieber sein ...«

Die Dame geht ein gekränktes Schrittchen zurück. Sie deutet an:

»Wo ist der Ihrige?«

Bernadette stürzt sich geradezu auf Pauline Sans, die dicht hinter ihr kniet, und entreißt ihr den schwarzen Rosenkranz. Triumphierend hält sie ihn hoch über ihren Kopf. Die Menschen mißverstehen diese Gebärde und ahmen sie begeistert nach. Ein Sturm geht durch die Reihen: die Dame segnet unsre Rosenkränze.

Was aber für die vielen wiederum nur ein heiliges Ritual ist, das ist für Bernadette eine heilige Wirklichkeit. Leib und Seele erzittern ihr: Sie liebt mich.


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