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Kapitel Zweiunddreißig. Der Psychiater greift in den Kampf ein

Es gibt zwei Männer in Frankreich, die an ihrer Niederlage durch die Dame von Massabielle wirklich und aufrichtig leiden. Der eine ist Vital Dutour, der glatzköpfige Staatsanwalt von Lourdes, der andere ist Baron Massy, der korrekte Präfekt des Départements der Hohen Pyrenäen.

Der innerste Antrieb der meisten Menschen scheint der Hochmut zu sein, oder genauer gesagt, der brennende Wunsch nach stetigem Überlegenheitsgefühl. Das gesellige Leben erfordert es, daß die Menschen ihren Hochmut noch schamhafter verbergen als den Geschlechtstrieb. Um so verzehrender aber wütet er in ihrem Gemüt. Jeder Stand hat nun seine eigene Art und seinen eigenen Grad von Hochmut. Vielleicht übertrifft aber der Hochmut des Bürokraten, wenn er gereizt ist, noch den der andern menschlichen Stände. Der Beamte ist ja in seinen eigenen Augen nicht nur ein x-beliebiger Funktionär der Staatsgewalt. Wenn er an seinem Schreibtisch sitzt, so fühlt er sich als diese Staatsgewalt selbst. Mag er auch nur Briefe stempeln, so ist er doch andern und höheren Wesens als das Publikum, wie etwa die Engel andern und höheren Wesens sind als die Sterblichen. Als Richter, Polizeichef, Zöllner, Steuertyrann wirft er die Lose der Menschen, weit offenbarer, als die Vorsehung selbst. Alle umdienern ihn mit furchtsamen Bücklingen, denn in seiner Hand ist das Gesetz wie Wachs. Von der Krone des Kaisers, die er gleichsam mitträgt, erhält er seine Zauberkraft. Er weiß genau, daß er praktisch weniger ist und weniger kann als jeder Gelehrte, Arzt, Ingenieur, ja selbst als der Schmied und Schlosser, der sein Handwerk erlernt hat. Nimmt man ihm jenen Zauber, der aus der Gewalt strömt, so ist er nichts als ein klapprig deklassierter Schreiber. Je verwundbarer aber ein menschlicher Hochmut ist, um so erbitterter muß er verteidigt werden. Blamiert sich der Bürokrat, so blamiert er das göttliche Prinzip der Macht in Person. Das kann nicht geduldet werden.

Es kann nicht geduldet werden, daß die Dinge so weitergehen, denkt Baron Massy. Der Fall der Dame von Massabielle darf nicht mit einer Blamage des göttlichen Prinzips der Macht enden. Die große Presse hat sich zwar ein wenig beruhigt, seitdem die Grotte gesperrt ist. Vielleicht würde das Gras auch über diese Phantomen- und Mirakelgeschichte wachsen, die den Geist der Zeit so absurd verhöhnt. Eine weitsichtig weise Resignation aber läßt der Hochmut des Barons nicht zu. Er hat sich etliche Rügen seiner Minister gefallen lassen müssen. Er mußte zweimal beim Bischof antichambrieren, nur um sich eine ironiegetränkte Abfuhr zu holen. Jeder Schritt, den er zur Abstellung dieser aufreizenden Peinlichkeit unternommen hat, endete mit bitterer Vergeblichkeit oder offener Zurückweisung.

Baron Massy ist nicht der Mann, einen Satz, den er spricht oder schreibt, unbeendet zu lassen. Bei ihm folgt das Prädikat dem Subjekt und dem letzten Punkt der Streusand. Er würde krank werden, müßte er nachgeben, das heißt, von einer weiteren Verfolgung ablassen. Ihn erfüllt eine ausgesprochene Abneigung gegen Bernadette Soubirous, obwohl er sie niemals gesehen hat. Er ist aber überzeugt, daß er in ihr und einzig in ihr die Quelle der endlosen Mißhelligkeiten zu erkennen hat. Solange Bernadette nicht aus dem Bewußtsein der Franzosen verschwindet, wird keine Ruhe in Lourdes sein und um Lourdes. Alle bisherigen Versuche, die Kleine des Betrugs oder wenigstens der eigennützigen Ausbeutung ihrer leichtgläubigen Mitmenschen zu überführen, sind an ihrer Geriebenheit und an den läppischen Einfällen des Polizeikommissärs gescheitert. Aber noch besitzt Baron Massy eine Waffe ...

Es ist ein rechter Hundstag heute. Die Sommersonne glüht in das mächtig große Amtszimmer Seiner Exzellenz. Der Präfekt hat seinen langen schwarzen Gehrock an, wie immer, den hohen steifen Kragen, der ihn ins Kinn sticht, und steife Manschetten, während im Gegensatz zu ihm alle Beamten des Hauses in Hemdärmeln arbeiten. Sie schwitzen auch alle, während der Baron niemals schwitzt, aus Überzeugung. De Massy studiert ein Schriftstück, das ihm schon vor vielen Wochen übersandt wurde. Es ist der Befund einer Ärztekommission, die Bernadette Soubirous gegen Ende März untersucht hat. Dieses Gremium bestand aus den Doktoren Balencie und Lacrampe, beide in Lourdes tätig, und einem bescheidenen Landarzt aus der Umgebung. Vital Dutour hatte damals unbeugsam darauf bestanden, daß Doktor Dozous, der eigentliche Gemeindearzt von Lourdes, jener Kommission nicht zugezogen werde. Er hatte schon genug von den Berichten, die dieser unsichere Kantonist im Café Français über die Visionärin abstattete. Mit gerunzelter Stirn liest der Präfekt das Elaborat immer und immer wieder:

»Die junge Bernadette Soubirous«, heißt es da, »ist, bis auf ein angeborenes Asthma, vollständig gesund. Sie leidet niemals an Kopfschmerzen noch auch an andern nervösen Störungen. Appetit und Schlaf sind ausgezeichnet. Eine pathologische Veranlagung dürfte kaum vorhanden sein. Das Mädchen ist von Natur aus für alle Eindrücke äußerst empfänglich. Es handelt sich vermutlich um eine Hypersensitive, die leicht das Opfer von Einbildungen, ja von Halluzinationen werden kann. Möglicherweise gaukelt ihr ein Lichtstrahl in der Felsnische die Erscheinungen vor. Hypersensitive neigen oft zu Übertreibung derartiger Erlebnisse, die sich in schwereren Fällen bis zur Pseudologia phantastica versteigen kann. Es liegt aber kein Grund vor, letztere bei der jungen Soubirous anzunehmen. Die Unterzeichneten sind der Ansicht, daß bei diesem Mädchen sogenannte ekstatische Zustände nicht ausgeschlossen sein mögen, ein psychisches Leiden, dem Somnambulismus ähnlich, das bisher wenig erforscht ist, aber keinerlei Gefahr für die Kranke bedeutet ...«

»Könnte«, »Dürfte«, »Möglicherweise«, »Vielleicht«, knurrt Baron Massy und schiebt angeekelt diesen vorsichtigen Befund beiseite. Da wird ihm zur rechten Stunde der Psychiater gemeldet. Er hat den Psychiater, der eine geschlossene Anstalt bei Pau leitet, eigens zu sich gebeten. Der Staat braucht dann und wann einen Seelenarzt, um sich eines widerborstigen Individuums entledigen zu können. Besonders wenn es sich um den Mißbrauch großer Vermögen, um eigensinnig verschrullte Testamente, um die Verliebtheit greiser Väter in eine leichtfertige Schöne und um ähnliche Ungehörigkeiten handelt, rufen Staat und bürgerliche Familie den Psychiater zu Hilfe. Warum also soll der Staat den Psychiater nicht gegen das Übernatürliche zu Hilfe rufen in einem Jahrhundert, das zur Not noch mit dem Natürlichen fertig zu werden hofft?

Der Psychiater ist ein gewinnender Rotbart. Sein Haar steht künstlerisch flammend zu Berge. Man könnte ihn einen schönen Mann nennen, würde sein linker Mundwinkel, durch eine Muskellähmung, nicht etwas nach oben verzogen sein. Auch irren seine mausgrauen Augen hin und her, denn der Irrenarzt bekommt stets etwas von der Narrheit seiner Patienten ab.

Der Präfekt entwickelt kurz den Fall und macht den Standpunkt des Staates klar. Der Rotbart erweist sich zur Befriedigung des Barons durchaus feinhörig. Obwohl völlig gleichgültig in philosophischen Fragen, erbittert ihn alles, was in die schlüssige Erklärbarkeit der Welt ein übersinnliches Loch reißt. Für ihn besitzt Bernadette Soubirous nur die wohlbekannte Auswahl zwischen Betrug und Irrsinn. Da der Irrsinn sein Fach ist, plädiert er gern für denselben. Auch sieht er nicht ein, warum bei diesen schweren Zeiten die himmlischen Mächte, ohne das medizinische Rigorosum abgelegt zu haben, ungestraft Kurpfuscherei treiben dürfen. Der Präfekt verweist auf das Gesetz vom 30. Juni 1838, welches die Staatsanwaltschaft ermächtigt, jeden einer Geisteskrankheit verdächtigen Bürger in Gewahrsam nehmen zu lassen, wenn die ärztliche Diagnose hinreicht und der Kranke eine Gefahr für die Öffentlichkeit bedeutet. Der Psychiater lächelt:

»Wir brauchen uns keinesfalls festzulegen, Euer Exzellenz. Zwischen voller Freiheit und gänzlicher Internierung gibt es einen rechtmäßigen Mittelweg, den ich bei schwierigen Fällen immer beschreite. Ich stelle den Patienten unter Beobachtung. Ein Psychiater ist schließlich kein Orthopäde, der einen gebrochenen Fuß auf der Stelle einrichten kann.«

»Ausgezeichnet, lieber Professor«, nickt der Baron freundlich. »Ich fürchte, diese Beobachtung wird sich als notwendig erweisen ...«

Am nächsten Vormittage bereits erscheint der Psychiater im Hospital zu Lourdes. Er ist von einem handfesten Wärter begleitet, als gelte es, Goliath persönlich in Gewahrsam zu nehmen. Bernadette wird ihm sogleich vorgeführt. Ihre Augen sind kühl, besonnen und sehr auf der Hut, wie immer in Kampfeszeiten. Der Rotbart legt ein vertrauenheischendes onkelhaftes Wesen an den Tag. Er lacht entzückt, er spitzt seine schiefen Lippen, er tätschelt das Mädchen. Bernadette weicht den rot behaarten Händen unwillig aus. Der Psychiater verwickelt sie in eine breite Unterhaltung, die auf ihre Weise denselben Zweck verfolgt wie einst das Kreuzverhör Jacomets. Bernadette soll in allerlei Fallen gelockt werden, um ihre Schwachsinnigkeit zu offenbaren. Sie tut dem Manne diesen Gefallen nicht. Sie gibt ihre knappen, schlagenden Antworten wie immer. Sie weiß, wie viele Stunden der Tag hat, wie viele Tage die Woche, und wann im Juli die Sonne aufgeht, und wer über Frankreich herrscht. Sie weiß, wieviel sieben mal fünf ist. Wieviel siebzehn mal achtunddreißig ist, weiß sie nicht, sagt aber dem Psychiater auf den Kopf zu, ganz ernst:

»Das haben Sie sich vorher doch zuerst ausgerechnet, Herr.«

Nach den Ereignissen der letzten Tage befragt, kann sie diese in einer hübschen, chronologischen Erzählung darstellen. Zwei von den jüngeren Krankenschwestern, die der Untersuchung beiwohnen, beginnen zu kichern. Bernadettens alte Kunst bewährt sich wieder einmal. Sie macht durch ihre Antworten den Frager dumm, der sie selbst dumm machen wollte.

Der Psychiater bittet, mit der Patientin in einem verdunkelten Raum allein bleiben zu dürfen. Die Mutter Oberin, die diesem Ersuchen entspricht, ist klug genug, den Dechanten und die Eltern zu verständigen. Bernadette sitzt aufmerksam auf einem Bett, während der Rotbart im sommerlich durchstrahlten Dämmer sich schattenhaft bewegt. Wie ein Schneider zieht er ein Meßband aus der Tasche; schneiderhaft sind ebenfalls die vielen Stecknadeln, die er unterm Rockaufschlag trägt. Die Schädel- und Gehirnanatomie feiert zur Zeit ihre großen Triumphe. Man hat die einzelnen Geistes-, Empfindungs- und Bewegungszentren des Gehirns entdeckt und säuberlich abgegrenzt. Der Mensch hängt an diesen Zentren gewissermaßen wie ein flink mechanischer Hampelmann. Sie sind in Summe das, was das veraltete Wort »Seele« ausdrückt. Der Psychiater mißt Bernadettens Schädel und trägt die Maßnummern ins Büchlein ein, wahrhaftig genau wie der Schneider es tut. Dann sticht er sie mit seinen Stecknadeln in verschiedene Körperstellen:

»Auweh«, klagt Bernadette.

»Du fühlst das also sehr stark«, konstatiert der Psychiater frohlockend, man weiß nicht, ob's für die Patientin Gutes oder Schlimmes bedeutet.

»Natürlich, jeder fühlt das sehr stark«, versetzt Bernadette wahrheitsgemäß.

Der Rotbart untersucht nun die Muskelreflexe und vor allem die Reaktion der Pupillen. Er heißt das Mädchen mit offenen und geschlossenen Augen vor- und rückwärts gehn.

»Warum schwankst du so herum?« fragt er.

»Weil Sie mich müde machen, Herr«, sagt sie.

Sie möge sich niedersetzen und mit ihm plaudern, meint der Psychiater, der jetzt wieder zum Onkel wird.

»Du siehst also die Heilige Jungfrau in der Grotte?«

»Das hab ich niemals gesagt, Herr!«

»Was also sagst du?«

»Ich habe die Dame in der Grotte gesehen«, erwidert Bernadette, die Form der Vergangenheit betonend.

»Die Dame aber muß doch irgendwer sein«, insistiert der Rotbart.

»Die Dame ist die Dame.«

»Wer Damen sieht, die es nicht gibt, der ist krank, mein Kind, der ist nicht normal.«

Bernadette macht eine kleine Pause, dann setzt sie mit Nachdruck auseinander:

»Ich habe die Dame gesehen. Ich werde sie nicht mehr sehen. Denn sie ist fortgegangen. Folglich können Sie mich auch nicht mehr für krank erklären, Herr!«

Der Psychiater ist einen Augenblick lang bestürzt durch diese unwiderlegbare Logik.

»Hör einmal, liebe Kleine«, sagt er dann, »es sind gewisse Anzeichen vorhanden, daß mit dir nicht alles in Ordnung ist. Mit meinem Ehrenworte aber verspreche ich dir hier, daß du bald geheilt sein wirst. Willst du nicht vollkommen gesund werden und all diese Zustände verlieren, die so schädlich für dich sind? Du wirst eine kurze Zeit in einem wunderschönen Haus wohnen mit einem großen Garten. Du wirst es gut haben wie ein Fürstenkind. Trinkst du heiße Schokolade gern, mit Schlagrahm?«

»Das hab ich nie getrunken.«

»Also, du wirst es trinken, und wenn du willst, schon zum ersten Frühstück. Besser kannst du's nie im Leben haben als bei mir. Alles bekommst du umsonst. Deine Eltern müssen keinen Sou zahlen. Du wirst versorgt sein, und deine Zukunft wird sich bessern ...«

»Ich hab gar keine solche Lust auf Schokolade mit Schlagrahm«, sagt Bernadette. »Ich werde doch bald fünfzehn. Es ist besser, ich bleibe hier ...«

Der Rotbart schüttelt lächelnd den Kopf:

»Liebes Mädchen«, sagt er, »am besten wär's, du kämst freiwillig mit mir. Es wird dein Schade nicht sein. Es wird auch der Schaden deiner Eltern nicht sein, mit denen wir sprechen werden. Ich habe schon gemerkt, daß du eine kluge Person bist. Drei Wochen, vier Wochen, länger dauert's nicht. Dann sind wir mit deinen Zuständen ein für allemal fertig geworden. Du wirst keine Damen in Grotten mehr sehen, dafür aber ein prächtiger Mensch werden, für den Lebenskampf gestählt ...«

»Ich fürchte mich ja gar nicht vor dem Lebenskampf, Herr«, meint Bernadette und beschaut ihre kleinen Hände, die schon recht viel gearbeitet haben in ihren Tagen. Dann aber, ehe der Psychiater sich's versieht, springt sie auf und läuft aus dem Zimmer und läuft ungehindert aus dem Hause.

 

Zwei Stunden später betritt der Psychiater mit dem kaiserlichen Staatsanwalt gemeinsam den Cachot. Die Herren erschrecken nicht wenig, als ihnen dicht an der Tür kein Geringerer entgegensteht als Marie Dominique Peyramale. Die gewaltige Figur vertritt den beiden unerbittlich den Weg, so daß sich das Gespräch fast noch unter der niedrigen Tür abwickeln muß. Die Familie Soubirous drängt sich sehr geängstigt in der äußersten Entfernung um die Feuerstelle. Der Rotbart macht eine verlegene Verbeugung:

»Hab ich die Ehre, mit dem Herrn Pfarrer von Lourdes zu sprechen?«

»Sie haben die Ehre, Monsieur. Womit kann ich den Herren dienen?«

»Wäre es nicht besser, irgendwo anders unterzutreten?« räuspert sich Vital Dutour.

»Die Herren haben diesen Ort der Handlung gewählt, nicht ich«, sagt Peyramale, ohne eine Spanne von seinem Platz zu weichen. »Die Zeugenschaft der Familie Soubirous ist mir äußerst willkommen. Den Herrn Staatsanwalt kenn ich. Den andern Herrn kenn ich nicht. Es dürfte der Irrenarzt aus Pau sein, den uns der Präfekt zu senden beliebt hat ...«

»Ich bin außerordentlicher Professor der Psychiatrie und Nervenheilkunde«, bekennt der Rotbart mit schiefem Mund und einem Aplomb, der nicht ganz glückt.

»Ich fürchte, Sie werden in Lourdes kein rechtes Feld für Ihre Studien finden, werter Professor«, bedauert der Dechant.

»Herr Pfarrer! Ich handle im Auftrag der Sanitätsbehörde des Départements. Es liegt ein ärztlicher Befund vom sechsundzwanzigsten März vor, der gewisse Anomalien der jugendlichen Patientin feststellt. Der Herr Präfekt hat den Wunsch, diesen Befund nachzuprüfen und das Mädchen für eine gewisse Zeit unter meine Beobachtung zu stellen. Das ist meine Mission hier ...«

Peyramale scheint immer massiger zu werden:

»Ich kenne dieses völlig bedeutungslose Schriftstück von Ende März«, sagt er. »Sie aber haben das Mädchen selbst untersucht, werter Professor. Welche Anomalien konnten Sie feststellen?«

»Es gibt Anomalien, die nicht gerade in die Augen springen«, zögert der Rotbart.

Peyramales rauh verschleierte Stimme beginnt jetzt den Raum zu füllen:

»Ich aber rufe Ihnen den Schwur in Erinnerung, den Sie als Arzt geleistet haben, werter Professor, und frage Sie: Ist Bernadette Soubirous geisteskrank, tobsüchtig, gemeingefährlich?«

»Mein Gott, Monsieur le Curé«, windet sich der Psychiater, »wer spricht hier von Tobsucht und Gemeingefährlichkeit?«

»Auf welches Recht also gründet sich der Wunsch des Präfekten, dieses Mädchen der Freiheit zu berauben?«

»Auf ein Recht, das im französischen Gesetz geschrieben steht«, sagt Vital Dutour mit aufreizender Ruhe.

Der Dechant bekommt erst nach einigen Atemzügen sich selbst in die Gewalt:

»Das französische Gesetz steht zu hoch«, sagt er, »um Rechtsverdrehern die Hand zu bieten.«

»Aber verehrter Herr Dechant«, lächelt der Rotbart friedenstiftend. »Wenn das Gesetz von 1838 angewendet werden soll, so geschieht es doch nur zum Vorteil der kleinen Patientin, die auf Weisung des Herrn Präfekten eine Zeitlang beobachtet werden und mit allen Mitteln der modernen Wissenschaft geheilt werden soll.«

Nun aber ist es mit der Fassung Peyramales zu Ende. Alle Orgelregister seiner Wildheit brechen los:

»Das ist die unverschämteste Heuchelei, die mir jemals begegnet ist. Und mein Wort darauf, ihr Herren, ich werde dieser Heuchelei die Maske vom Gesicht reißen und vor ganz Frankreich einen Lärm erheben, daß dem Präfekten von Tarbes die Ohren gellen sollen ... Komm hierher, Bernadette Soubirous!«

Instinktiv hat sich Bernadette schon vor einer Weile dem Dechanten genähert. Der Schwarze Mann ihrer Kindheit packt sie jetzt und drückt sie an sich mit eisernen Armen zum Zeichen des Schutzes:

»Ich kenne dieses Kind«, ruft er, »und der kaiserliche Staatsanwalt kennt es auch. Beide haben wir eingehend gesprochen mit diesem Kind. Wer behauptet, Bernadette Soubirous sei geisteskrank, ist selbst geisteskrank oder ein Schuft. Der Sinn des Gesetzes von 1838 richtet sich gegen Rasende und Schäumende. Wollen die Herren noch immer wagen, es anzuwenden? Sehr gut! Seien Sie aber versichert, ich werde mich nicht von der Seite dieses Kindes rühren! So, und jetzt können Sie die Gendarmen holen.«

»Und wenn die Gendarmen kommen, Herr Dechant?« fragt Vital Dutour mit hochfahrender Lässigkeit.

»Wenn die Gendarmen kommen« – Peyramale lacht auf – »wenn die Gendarmen kommen, dann werd ich zu ihnen sprechen: Meine Herren, laden Sie scharf, denn nur über meine Leiche geht der Weg!«

Schachmatt gesetzt ziehen sich der Staatsanwalt und der Psychiater aus dem Raum zurück, in dem sie dank dem Dechanten nicht zwei Schritte hatten vordringen dürfen. Vital Dutour weiß, daß Peyramale der Mann ist, jede Drohung wahr zu machen. Dieser plötzlichen Wandlung des Pfarrers von Lourdes hat der kaiserliche Staatsanwalt sich nicht versehen. Bernadette ist eine veritable Hexe alten Stiles. Man muß nach Tarbes um neue Verhaltungsmaßregeln depeschieren.

Knapp nach ein Uhr hält eine geschlossene Extrapost an der Ecke der Rue des Petites Fossées und der Place Marcadale. Die Stadt ist um diese Zeit wie ausgestorben. Louise und Bernadette Soubirous steigen in den Wagen ein. Der Dechant Peyramale hat schon Platz genommen. Die schweigsame Fahrt geht ins Hochgebirge, nach dem Badeort Cauterets, wohin Peyramale die Verfolgte und ihre Mutter bringt, und zwar in ein kleines Häuschen, das zur dortigen Pfarre gehört. Der Amtsbruder von Cauterets übernimmt Schutz und Obsorge. Bernadette bleibt verschwunden. Nicht einmal die Polizei des Präfekten kann ihre Zuflucht auskundschaften.


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