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Kapitel Vierzehn. Eine geheime Beratung, die unterbrochen wird

In seinem Büro in der Rue du Bourg geht Lacadé, der Maire, ruhelos auf und ab. Er trägt seinen langen Bratenrock, denn er hat vor einer halben Stunde bei einer festlichen Zeremonie, mit der dreifarbigen Schärpe geschmückt, zu fungieren gehabt. Die Rosette der Ehrenlegion brennt wie immer in seinem Knopfloch. Sein Haupt aber ist umwölkt. Die scharf ausrasierten Hängebacken, unter denen der eisengraue Kinnbart hervorstößt wie ein Block, sind violetter als sonst. Die Ursache seiner Verstimmung liegt auf dem grünen Tisch, davor sein Adjoint Courrèges sitzt, der Vater der rothaarigen Annette aus der Mädchengruppe um Jeanne Abadie. Es ist ein Dienststück aus Argelès, eigenhändig unterzeichnet von Duboë, dem Unterpräfekten:

»Der Maire von Lourdes wird ersucht, ehetunlichst einen Bericht über die Ruhestörungen dortselbst anherzusenden und gleichzeitig die Vorkehrungen zu melden, die zur Unterdrückung der Aufläufe getroffen worden sind.«

»Soll ich vielleicht die Allerseligste Jungfrau einsperren lassen?« schreit Lacadé. »Dafür bin ich nicht zuständig. Dafür ist der kaiserliche Staatsanwalt zuständig. Er darf ihre Vorführung durch die Gendarmerie beantragen. Der Staat ist der Staat, und die Gemeinde ist die Gemeinde. Ich bin die Gemeinde. Der Unterschied scheint der werten Sous-Préfecture nicht bekannt zu sein.«

»Aber auch wir müssen etwas unternehmen, Monsieur le Maire«, mahnt Courrèges.

»Wer weiß das besser als ich?« Der Ergrimmte holt ein Bündel von Zeitungsausschnitten aus einer Schublade. »Die ganze regionale Presse zieht uns durch die Zähne, und auf das Gelächter von Paris können wir uns freuen ...«

Courrèges, der immer wieder nach der Türe blickt, räuspert sich.

»Ich glaube, Herr Bürgermeister, die Herren warten schon ...«

Lacadé strafft sich, zieht einen Taschenkamm hervor und beginnt seinen widerspenstigen Bart zu bearbeiten:

»Nun denn, Courrèges, ich lasse bitten. Es ist zwar eine geheime Konferenz, aber bleiben Sie im Vorzimmer für den Fall, daß ich einen Zeugen brauche.«

Der Maire streckt beide Hände dem kaiserlichen Staatsanwalt und dem Polizeikommissär entgegen.

»Ich habe Ihre Sonntagsruhe gestört, Messieurs«, begrüßt er sie mit seiner sonoren Rednerstimme. »Als Oberhaupt unserer Stadt aber kann ich nicht länger ohne Unterstützung der zivilen Behörden auskommen. Der Fall ist recht heikel. Hier liegt schon eine dienstliche Anfrage des Unterpräfekten. Sie spricht übertriebenerweise von Ruhestörungen. Das tut die gesamte liberale Presse auch, die an unserm armen Lourdes endlich ein Fressen gefunden hat. Wir beginnen, einen bejammernswerten Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu bilden. Ich gestehe Ihnen offen, mir wäre eine kleine Revolte der Schieferbrecher oder Waldarbeiter lieber als diese Ruhestörung, die nicht Hand noch Fuß hat. Weniger blamabel wär's jedenfalls. Ich, der ich meine ganze Zeit und Kraft daran setze, unser armes Lourdes zu modernisieren, stehe vor einem Zusammenbruch meiner Pläne. Wird man mir, nach dem peinlichen Aufsehen, das wir hervorrufen, den Eisenbahnanschluß bewilligen? Etwas blasen wird man mir. Und die neue Wasserleitung? Die kann ich begraben. Und der Fremdenverkehr aus Paris? Und die Heilquellen, die aus der Erde mit Hilfe der Wissenschaft gefördert werden sollen? Alles beim Teufel. Welche Pariser werden sich in ein Nest wagen, wo es keine Kuranstalten gibt, dafür aber schmutzige Höhlen, in welchen Erscheinungen ihr mittelalterliches Unwesen treiben? Es geht um mehr als um das Geschwätz einer kleinen Schwindlerin oder Idiotin ...«

»Ich schlage vor«, unterbricht der Glatzköpfige diese Jeremiade, »daß wir zuvörderst die Rechtslage besehn ...«

»Das ist Ihr Geschäft, Monsieur«, seufzt der Bürgermeister, lehnt sich im Fauteuil zurück, schließt die Augen und faltet die Hände über seinem sehr plastischen Bauch. Mit jener Lust an packenden Schlußfolgerungen, die jeden guten Juristen, er leide selbst an einer fieberischen Grippe, in lebhaftes Behagen versetzt, beginnt Vital Dutour darzulegen:

»Der nackte Tatbestand, Messieurs, ist folgender. Ein vierzehnjähriges Mädchen von niederer Herkunft und nicht einmal durchschnittlicher Verstandeskraft behauptet von sich, übersinnliche Erscheinungen zu haben. In diesem Tatbestand liegt nach geltendem Strafrecht weder ein Vergehen noch ein Verbrechen, das uns eine gesetzliche Handhabe böte. Würde das Mädchen diese Erscheinung selbst als Heilige Jungfrau oder Muttergottes bezeichnen, so könnte man noch mit Müh und Not einen Verstoß gegen den religiösen Anstand konstruieren. Die kleine Soubirous spricht aber meines Wissens immer nur von ›der Dame‹, der ›jungen Dame‹, der ›schönen Dame‹. So ärgerlich diese Ausdrücke in ihrer naiven, ich möchte fast sagen, in ihrer unverschämten Naivität für ein gläubiges Gemüt sein mögen, sie bedeuten keine Lästerung im gesetzlichen Sinne, denn eine junge schöne Dame ist nichts anderes als eine junge schöne Dame. Der nackte Tatbestand ist mithin zum Zwecke einer gerichtlichen Verfolgung unbrauchbar ...«

Jacomet meldet sich mit gebührender Bescheidenheit zum Wort: »Der kaiserliche Staatsanwalt wird mir die Bemerkung verzeihen, daß der nackte Tatbestand für eine Festhaltung des Mädchens hinreichend wäre, wenn man den Verdacht des Betruges oder der Verrücktheit zulänglich begründen könnte ...«

»Aber, aber, lieber Jacomet«, winkt Vital Dutour belästigt ab, »das ist doch alles längst schon erwogen. Sie haben selbst vor einer Viertelstunde die Relation des Herrn Stadtphysikus Dozous mit angehört, die beide Möglichkeiten entschieden zurückweist. Ich muß sagen, das Verhalten dieses Vertreters der Wissenschaft hat mich ein wenig verstimmt ...«

Der Bürgermeister sendet einen ermüdeten Blick aus:

»Die Herren sehen immer nur in diesen Visionen den nackten Tatbestand. Visionen aber interessieren weder die Stadtverwaltung noch den Staat. Das heißt, es wäre sehr vorteilhaft, gewisse Visionen zu verbieten. Dazu aber besitzt die absoluteste Regierung nicht die genügenden Mittel. Ich rede nicht als Jurist, sondern als schlichter Bürgersmann. Mein praktischer Hausverstand sagt mir, daß wir den zu inkriminierenden Tatbestand nicht in den Visionen zu suchen haben, sondern in dieser unbegreiflichen Volksbewegung, die sie entfesseln ...«

»Wenn man mich nicht unterbrochen hätte«, entgegnet Dutour gelangweilt, »wäre ich unverzüglich auf Punkt zwei zu sprechen gekommen. Ich nehme diese Volksbewegung vielleicht noch ernster als der Bürgermeister. Ich erkenne nämlich ihre subversive, gegen den Staat gerichtete Tendenz. Betrachten wir also den nackten Tatbestand der Zusammenrottungen im Sinne des Gesetzes! Was tun diese Leute alle? Sie holen die kleine Soubirous vom Hause ab, sie pilgern mit ihr zum Spelunkenberg, sie knien mit brennenden Kerzen vor der Grotte, sie beten den Rosenkranz, sie sparen nicht mit ihren Beifallsäußerungen und schließlich zerstreuen sie sich wieder ... Kann man das verbieten?«

»Man muß es verbieten«, ruft Lacadé erbittert.

»Aber wie, mein Verehrter? Kennen Sie einen einschlägigen Paragraphen, der ein solches Verbot zuläßt?«

»Den gibt's wahrscheinlich nicht«, zögert der Bürgermeister.

Der kaiserliche Staatsanwalt macht eine ironische Pause. Dann erklärt er trocken:

»Es gibt deren zwei, Monsieur le Maire, und Sie sollten den ersten besser kennen als ich. Er befindet sich in der ›Königlichen Ordonnanz über die Praxis der Kommunalverwaltungen vom 18. Juli 1837‹.«

»Ich werde Courrèges gleich den Auftrag geben, diese Ordonnanz herauszusuchen ...«

»Nicht nötig«, sagt Dutour. »Ich kenne den Paragraphen. Er gibt jeder Mairie das Recht, alle jene Straßen, Wege, Brücken, Gelände und sonstigen Örtlichkeiten für den öffentlichen Verkehr zu sperren, wo eine Gefahr für Leben und Gesundheit der Einwohner zu fürchten ist.«

»Sapristi, Monsieur le Procureur«, nickt Lacadé. »Da sieht man den gewaltigen Juristen! Wo hab ich nur meinen eigenen Kopf gehabt? Die Verordnung über die Wegsperre, die mir zusteht, ist vollkommen zureichend. Der ungesicherte Waldpfad über den Berg ist nach meiner Überzeugung wirklich lebensgefährlich. Noch heute werd ich das Verbot durch Callet austrommeln lassen ...«

Der kaiserliche Staatsanwalt ficht einen langwierigen Kampf mit seinem Schnupfen aus:

»Ich würde davon auf das dringendste abraten im gegenwärtigen Zeitpunkt.«

»Ich habe verstanden, daß Sie diese Prozedur empfehlen, und dann ...«

Vital Dutour richtet den Blick auf ein Porträt Napoleons III., von dem im Winterlicht nur eine blau-weiße Ordensschärpe über der Frackbrust zu erkennen ist:

»Dies habe ich zu meinem Leitstern in der Behandlung politischer Fragen gemacht«, bekennt er. »Niemals darf die Autorität einen Schritt wagen, dessen Zweck allzu durchsichtig ist. Wenn Sie den Zugang von Massabielle sperren, werden die Gläubigen sagen, daß wir uns vor der Heiligen Jungfrau fürchten. Und die Ungläubigen werden dasselbe sagen. Wir werden uns also vor beiden Teilen lächerlich machen. Auch bleiben, wenn Sie den einen Weg sperren, noch drei andere offen, von denen niemand behaupten kann, daß sie besonders lebensgefährlich sind ... Da ist schon die andre gesetzliche Möglichkeit, von der ich sprach, ernster zu nehmen. Sie wissen vielleicht, woran ich denke, lieber Jacomet?«

»Mein Gott, ich bin nur ein Polizist, Herr Staatsanwalt ...«

Vital Dutour hat seinen Siegelring vom Finger gezogen und klopft damit auf den Tisch:

»Die Herren wissen doch, daß der französische Kaiserstaat mit dem Heiligen Stuhl ein Konkordat abgeschlossen hat. Ich habe mich gestern der Mühe unterzogen, den Text dieses Instruments zu studieren. Artikel neun bestimmt, daß kirchlicherseits keine neue Gebetsstätte ohne das formelle Einverständnis des Kaiserlichen Ministeriums für Kultus eröffnet werden darf ... Verstehn Sie, meine Herren?«

»Und dieser Artikel wäre Ihrer Ansicht nach verwendbar?« fragt vorsichtig Lacadé, der sich keine neue Blöße geben will.

»Ja und nein, Monsieur. Das hängt allein von der Kirche ab.«

»Hinter der ganzen Affäre stecken doch unzweifelhaft die Soutanen«, erklärt Jacomet.

»Ich will es hoffen, mein Guter«, sagt der Staatsanwalt. »Aber Peyramale ist durchaus kein Dummkopf.«

Adolphe Lacadé lacht laut auf:

»Wenn man bedenkt, wen diese kleine Idiotin alles in Bewegung setzt! Das Konkordat haben der Kaiser und der Papst persönlich unterzeichnet ...«

Courrèges steckt bei diesen Worten ängstlich den Kopf durch die Türe:

»Haben Sie noch ein Rendezvous vereinbart, Monsieur le Maire?«

»Was fragen Sie, Courrèges? Sie kennen doch meinen Vormerkkalender besser als ich ...«

»Man wünscht Sie zu sprechen, man besteht darauf ...«

»Wozu diese Umschweife? Ich habe keine Geheimnisse ...«

»Ein Besuch ist hier«, platzt der Adjoint heraus. »Der Herr Dechant Peyramale persönlich.«

Lacadé erhebt sich und eilt so schnell, wie es Korpulenz, Würde und Alter zulassen, ins Vorzimmer. Man hört die wärmsten Töne seiner Stimme.

 

Der Priester Marie Dominique Peyramale ist ein übergewöhnlich großer, wuchtiger Herr von siebenundvierzig Jahren, mit einem merkwürdig feurigen Gesicht, das über seine Jahre hinaus zerfurcht und durchackert ist. Dadurch, daß er einen Pelz trägt und eine Mütze aus Astrachanfell, gleicht er im Augenblick eher einem kühnen Forschungsreisenden als dem Vikar des Kantons von Lourdes. Zwischen der Geistlichkeit und den Behörden in Südfrankreich herrscht häufig eine Spannung. Sie entstammt der erprobten Tendenz der Kaiserlichen Regierung, die sich niemals ganz sicher fühlt, gegnerische Kräfte gegeneinander auszuspielen, um sie in Schach zu halten. Der Süden Frankreichs ist erzkatholisch, der Geist des hiesigen Volkes noch wenig von den nihilistischen Zeitströmungen berührt. Infolgedessen werden viele Ämter mit den »Jüngern Voltaires« besetzt, wie die schöne Redensart lautet. Der Dechant von Lourdes ist freilich nicht der Mann, diese »Jünger Voltaires« zu fürchten oder sich auch nur vor ihnen zu scheuen, hat er doch den Voltaire, im Gegensatz zu den meisten jener beamteten Jünger, wirklich gelesen. Furcht und Scheu sind überhaupt nicht die schwachen Seiten dieses Mannes. Gelegentlich taucht er sogar im Café Progrès auf, in der Löwenhöhle des Liberalismus, um ein Gläschen Calvados zu trinken, wenn er von einer seiner Landfahrten durchfroren heimkehrt. Es ist dann erheiternd anzusehen, wie sich die Löwen um diesen Daniel drängen, damit sie eines Handschlags gewürdigt werden. Peyramale ist so auffallend duldsam, wie es eben nur die bis in die Knochen Unduldsamen sein können. Das will besagen, daß nur der Schwankende, der noch Erschütterbare seine Intoleranz nach außen kehren muß. Eine in allerlei Weißgluten geschmiedete Persönlichkeit wie Peyramale aber ist durch gegensätzliche Anschauungen nicht mehr verwirrbar. Er weiß, die Wahrheit ist die Wahrheit, und diese Wahrheit hat er in seiner nun schon ziemlich langen geistlichen Laufbahn nicht einfach hingenommen, sondern redlich erkämpft. Er gehört zu jenen, welche den Zweifeln dieses Zeitalters eine keineswegs vernagelte Stirn geboten haben. Jetzt ist das längst vorüber. Die Löwen machen ihm nicht mehr heiß, dafür aber gewisse Lämmer unter seinen Amtsbrüdern, die vor jedem kalten Hauch erschrecken. Im übrigen wird Peyramale unter gewissen Umständen zu einem gefährlichen Pulverfaß. Das geschieht, wenn ihm irgend jemand, und sei es selbst ein Oberer, in seine Amtsführung und in seine Armenpflege hineinzureden wagt. Letztere insbesonders wird von der vornehmen Welt, die in der großen Familie Lafite inkarniert ist, arg bekrittelt. Die Vorliebe des Dechanten für die unteren Volksklassen müßte nicht unbedingt, so findet man, mit so viel fordernder Grobheit gegen die besseren Kreise Hand in Hand gehn, selbst dann nicht, wenn man selber einer so ausgezeichneten Gelehrtenfamilie entstammt wie Peyramale. Er bittet die Reichen nicht um Almosen, sondern hebt Tribut von ihnen ein. Abbé Pomian, der Aphoristiker von Lourdes, hat ihn einmal einen Pétroleur der Barmherzigkeit genannt.

»Sie werden sich verkühlen, Hochwürdiger«, warnt Lacadé, als Peyramale sich weigert, seinen Pelz abzulegen. »Sehen Sie nur unsern armen Procureur Impérial an ...«

Der Dechant hat eine tiefe Stimme, deren Metall immer von einer leichten Heiserkeit verschleiert ist. Diese Stimme bildet das Entzücken aller Frauen von Lourdes. Sie füllt nun mit ihrem rauhen Wohllaut das Büro des Bürgermeisters:

»Was ich zu sagen habe, ist schnell gesagt. Ich weiß, die Herren knacken gemeinsam an einer harten Nuß. Nun, ich komme eigens, um Ihnen zu helfen dabei. Sie würden sich in einem groben Irrtum befinden, wenn Sie annähmen, daß meine Kapläne und ich den sogenannten Erscheinungen von Massabielle irgendeinen religiösen Wert beimessen ...«

»Sie leugnen also die Möglichkeit eines übernatürlichen Phänomens, Hochwürden«, fällt ihm Vital Dutour ins Wort.

»Halt, lieber Herr. Keinen Augenblick leugne ich die Möglichkeit übernatürlicher Phänomene. Ich halte es nur für nicht gerade wahrscheinlich, daß der Herrgott uns mit Wundern auszeichnet. Damit das Übernatürliche sich entschleiere, ist eine Bereitschaft der Seelen fürs Übernatürliche die wichtigste Voraussetzung. Von dieser Bereitschaft sind wir sehr weit entfernt. Ich möchte das hohe Wort Wunder in diesem Zusammenhang überhaupt nicht in den Mund nehmen. Die Geschichte von Massabielle gehört, wenn sie nicht glatte Hochstapelei ist, was ich annehme, auf das Gebiet des Spiritismus, des Animismus, des Okkultismus, der Geisterseherei und ähnlichen Altweiberzaubers, von dem die Kirche sich mit Grausen abwendet.«

»Wie interessant, wie erfreulich«, nickt Lacadé anerkennend.

»Ist Ihnen die kleine Soubirous bekannt, Monsieur le Curé?«

»Ich kenne sie nicht, und ich wünsche auch nicht, sie kennenzulernen.«

»Wäre es aber nicht sehr ratsam«, fragt der Staatsanwalt, »daß Hochwürden selbst dem Mädel die Leviten lesen?«

»Das ist durchaus nicht meine Absicht, Messieurs. Man verschone mich! Es ist Sache der Behörden allein, mit einer minderjährigen Kriminellen oder Psychopathin fertig zu werden.«

»Aber Herr Dechant wollten doch den Behörden helfen«, mahnt Jacomet.

»Das hab ich bereits getan, indem ich der gesamten Geistlichkeit meines Kantons untersagt habe, die Grotte zu betreten und dem Fall die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. In diesem Sinn ist auch ein Bericht an den Herrn Bischof abgegangen. Ferner wurden die Schulschwestern, zuvörderst die Klassenlehrerin Sœur Vauzous, eindringlich ermahnt, ihren ganzen Einfluß, ja die äußerste Strenge aufzubieten, damit der Unfug ein Ende nehme. Das ist alles, was ich tun kann.«

»Ihre Macht über das hiesige Volk ist gewaltig groß, Herr Dechant«, schmeichelt Lacadé. »Sie sind ein Apostel der einfachen Leute. Wäre es nicht angezeigt, daß Sie selbst Ihre Stimme erheben? ...«

»Ich habe nicht die Absicht, diesen Fastnachtsspuk mit meiner eigenen Luft noch weiter aufzublasen«, erwidert Peyramale und stülpt die Fellmütze auf sein Riesenhaupt: »Und somit wünsche ich den Herren einen angenehmen Sonntag.«

 

»Könnte demnach Artikel neun des Konkordats in Anwendung gebracht werden?« fragt der Bürgermeister den kaiserlichen Staatsanwalt, nachdem er Peyramale bis zur Treppe begleitet hat.

»Das ist ja das Paradox«, grollt Dutour. »Dadurch, daß der Schlaumeier sich auf unsere Seite stellt, verstopft er dieses Loch. Ein Kampf mit der geistlichen Obrigkeit wäre entschieden vorteilhafter als dieses Einverständnis. Jetzt haben wir die Sache allein auf dem Hals.«

»Verdammt noch einmal«, stöhnt Lacadé. »Heute waren's zweitausend Personen, morgen werden's dreitausend sein und übermorgen fünftausend, und wir haben nur den Callet und ein paar Gendarmen zur Verfügung.«

»Darf meine Wenigkeit gehorsamst einen Vorschlag wagen?« meldet sich Jacomet. »Ich versteh nicht viel von der hohen Politik, dafür aber hat unsereins den ganzen Tag mit brenzlichen Individuen zu tun, mit Einbrechern, Dieben, Landstreichern, Säufern, Halunken aller Art. Da bekommt man eine gewisse Praxis, den Leuten Furcht einzujagen und sie unter Druck zu setzen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es mir nicht gelänge, dieser kleinen Soubirous die richtige Angst zu machen, so daß sie das Spiel aufgibt, und zwar noch heute. Verliert aber das Mädel den Mut, zur Grotte zu gehen, so zerrinnt die ganze Gespensterei schon morgen. Ich bitte also den kaiserlichen Staatsanwalt und den Herrn Bürgermeister, diesen Fall mir anzuvertrauen.«

»Das läßt sich hören, bester Jacomet«, erwidert Dutour nach einigem Nachdenken. »Es ist zudem auch der gesetzliche Vorgang, denn Sie sind die amtliche Stelle der ersten Erhebungen. Nur möchte ich mir auch ein eigenes Urteil über die Kleine bilden. Deshalb werde ich sie ebenfalls einvernehmen, und zwar noch vor Ihnen, ganz leger in meiner Privatwohnung. Verfügen Sie bitte das Notwendige. – Einverstanden, Herr Bürgermeister?«

Lacadé sitzt schon auf Nadeln. Das Mittagsläuten beginnt, er hat einen sauren Geschmack im Munde, da Bernadette ihn heute um sein Glas Malvasier betrogen hat.

»Handeln Sie schnell, Messieurs«, ruft er, indem er nach seinem Schlapphut greift, »denn von Ihnen hängt es ab, ob Lourdes die Eisenbahn bekommt oder nicht ...«


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