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Kapitel Siebenundzwanzig. Das Feuer spielt mit dir, o Bernadette

Es vergehen volle zwanzig Tage, ehe die Dame es Bernadette »wissen läßt«, daß sie wieder nach Massabielle kommen werde. In diesen Tagen mehren sich die Vexationen beängstigend. Insbesondere die Kinder von Lourdes sind an ihnen beteiligt. Was in diese Kinder gefahren ist, versteht man nicht recht. Eines Nachmittags zieht eine ganze Horde von Neun- bis Zwölfjährigen in Prozession zur Grotte und vollführt dort mit parodistischen Rosenkranzsegnungen und Heilungswundern solch einen lästerlichen Unfug, daß die betenden Bauernfrauen entsetzt auseinanderfahren. Dechant Peyramale schäumt. Er möchte drauf schwören, daß gewisse Löwen des Café Français diesen Unfug angestiftet haben. Und im Einverständnis mit den Behörden vermutlich. Da Peyramale aber den Erwachsenen nichts nachweisen kann, holt er am nächsten Tag die beiden Rädelsführer unter den Buben aus der Schule und züchtigt sie eigenhändig. In einer kurzen Ansprache verteidigt er am Sonntag Bernadette, ohne sie freilich zu nennen, gegen die Niedertracht der Karikaturisten. Die Leute horchen auf. Ändert die Kirche ihre Haltung? Nein! Marie Dominique Peyramale glaubt noch immer nicht an Bernadettens volle Wahrhaftigkeit und geistige Gesundheit. Das Mädchen hält all seine Gedanken im Bann. Wenn er auch nichts davon zeigt, er ist ratlos und erschüttert. Ohne daß er es will, wirkt er bereits für diejenige, die er abschütteln möchte wie eine lästige Verwirrung.

Inzwischen nützen Vital Dutour und Jacomet die Äffereien des Wunders bis zur Neige aus. Täglich geht ein langer Polizeibericht an Baron Massy und an die Oberstaatsanwaltschaft nach Pau. Darin stehn verzeichnet nicht nur die ›Bubenstreiche‹ der Schuljungen, nicht nur die mehr oder weniger ernsthaften Kopien Bernadettens durch die verschiedenen Kandidatinnen der Thaumaturgie, sondern auch jene unerklärlichen Vorfälle wie die akute Geisteserkrankung des Musterknaben Alex und ihre schnelle Beseitigung durch Pater Beluze. Es gibt da noch eine ganze Menge von Anfällen, Ohnmächten, Sinnesstörungen, die sich im Bereich der Grotte abspielen. Sie werden alle gemeldet. Nicht erwähnt werden die Behauptungen einiger weniger Kranker, die sich nach Gebrauch der Quelle plötzlich geheilt oder wenigstens besser fühlen wollen. Man kann es dem Polizeikommissär nicht verargen, daß er darüber nichts berichtet. Denn die meisten dieser Heilungen beruhen auf verwirrten und verwirrenden Angaben.

Minister Roulland ist durch die Rapporte aus Lourdes nicht unbefriedigt. Er stellt jener Presse, die im Solde der Regierung steht, ein hübsches Material zur Verfügung. Seine Absicht ist es, die Apparitionen von Massabielle aus dem Lichte der religiös-politischen Debatten in jenes gleichgültige Zwielicht abzuschieben, welches die Zeitungen für Spukhäuser, Seeschlangen, Rachetaten von Mumien, für Spiritismus und ähnliche übersinnliche Sensationen bereithalten. Eine neue Note mischt sich in den Akkord. Erstens ist Bernadette eine Betrügerin. Zweitens leidet sie an jugendlichem Irresein. Drittens sieht sie wirklich eine Dame in der Grotte. Seitdem die Welt steht, haben solche Nervöse okkulte Erscheinungen. Es hat immer und überall ›geheimnisvolle Phänomene‹ gegeben. Sie sind unerfreulich und nichtssagend. Sie sind Spuk. Sie gehören nicht der Religion an, sondern einem koboldhaft dämmrigen Lebensgebiet, das die Morgenstrahlen der Vernunft noch nicht verklärt haben. Die Kirche selbst sei die schärfste Feindin dieser Dämmergebiete. Und was die Dame anbelangt, so dürfte sie nicht wesensverschieden sein von dem Schwarzen Mann, der sensible Kinder erschreckt, wenn ihn unverständige Mütter allzu lebhaft an die Wand malen. So etwa schreibt die gemäßigte Regierungspresse, die keineswegs die guten Beziehungen zwischen Staat und Kirche – ein persönliches Werk Louis Napoleons – schädigen möchte. Dagegen empören sich wieder die jakobinischen Zeitungen vom linken Flügel. Sie billigen jener Dämmerwelt nicht den geringsten Platz im neunzehnten Jahrhundert zu. Dämmerung sei Obskuranz, und wenn sich im geisteshellen Frankreich irgendwelcher Höhlenspuk ans Licht wagt, so hätte er mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu werden. Das bringt nun die konservative und katholische Presse ihrerseits in Harnisch, vor allem ein so einflußreiches Blatt wie »L'Univers«, dessen Chefredakteur Louis Veuillot zum Entsetzen Minister Roullands eigens nach Lourdes fährt, um durch eine begeisterte Artikelserie über Bernadette in den besten Kreisen der stockreaktionären Bourgeoisie die Dame von Massabielle salonfähig zu machen. Was zur Ausbleichung der nationalen Affäre dienen sollte, erzeugt somit neuen Streit und führt zu einer weiteren Einbürgerung des Wunderbaren im unwilligen und im willigen Bewußtsein der Franzosen.

Roulland begibt sich zu seinem Kollegen, dem Finanzminister Fould, der die Rolle des Mittelsmannes zwischen Kaiser und Regierung spielt. Roulland, Historiker von Fach, deklamiert:

»Napoleon ist Cäsar, Cäsar soll endlich sprechen.«

Nach zwei Tagen erwidert Finanzminister Fould den Besuch Roullands:

»Sie wissen doch selbst, wie abergläubisch der Kaiser ist, lieber Kollege«, beginnt er.

»Soll das heißen, daß Seine Majestät an die Dame glaubt?« fragt Roulland scharf.

»Keine Spur. Die Damen, an die der Kaiser glaubt, sind weniger geheimnisvoll. Er glaubt aber doch, daß die Dame, an die er nicht glaubt, ihm schaden könnte. Das ist die Psychologie des Aberglaubens.«

»Und was geruht der Kaiser zu befehlen?«

»Die Herren sollen mit der Geschichte allein fertig werden, meint er.«

»Heißt das«, horcht Roulland auf, »daß wir das Recht haben, die Grotte zu schließen?«

»Ich würde vorsichtig sein, mein Freund«, lächelt Fould. »Der Kaiser hat gegenwärtig den großen Wunsch, die Klerikalen nicht zu verstimmen. Sie wissen doch, er träumt davon, der Erlöser Italiens zu werden, wie Bonaparte. Er empfängt unablässig Briefe von Cavour, der ihm ein Bündnis anträgt. Wenn es zum Krieg kommt, wird der Kirchenstaat das heikelste Problem werden. Lieber Roulland, bewegen Sie den Bischof von Tarbes dazu, daß er einer Sperrung der Grotte zustimmt. Monseigneur Laurence soll ein höchst klar denkender Herr sein.«

Dieses Gespräch hat zur Folge, daß der Baron Massy zu seinem großen Unbehagen noch einmal angewiesen wird, den Bischof aufzusuchen. Man läßt ihn, wie er an seiner Uhr genau feststellt, wiederum mehr als fünf Minuten warten. Er ist daher nicht mehr im vollen Besitz seiner korrekten Kälte, als das Gespräch in Gang kommt:

»Ich hoffe, Votre Grandeur, Sie werden nach alledem aus Ihrer weisen Reserve heraustreten. Die Polizeiberichte, die ich aus Lourdes empfange, sind haarsträubend. Gassenbuben weihen Wasser, segnen Rosenkränze. Liederliche Frauenzimmer parodieren die Heilige Jungfrau Maria. Wenn das so weitergeht, werden die Ereignisse von Lourdes Frankreich ins protestantische und atheistische Lager treiben.«

Der Baron hat in seinem Ärger diese Einleitung etwas zu hoch gegriffen. Bertrand Sévère Laurence bleibt ruhig:

»Auch mir sind diese Vorkommnisse wohl bekannt«, nickt er nach einer gemessenen Pause, »und sie sind recht bedauerlich. Wir wollen sie aber nicht übertreiben. Ein paar Schuljungen haben sich arge Allotria geleistet, gewiß. Sie sind aber, wie man mir gemeldet hat, vom Pfarrer ausgiebig gemaßregelt worden. Ich fürchte, Herr Präfekt, daß Ihre ausgezeichneten Beamten in dieser Sache allzu großen Diensteifer zeigen ...«

Den Präfekten verläßt, was nicht oft vorgekommen sein mag, beinahe die Höflichkeit:

»Meine Beamten, Monseigneur«, sagt er ausfällig, »bemühen sich um Wiederherstellung des Alltags, während Ihr Klerus die Nase in den Sand steckt.«

Der Bischof verzieht kaum merklich seine tragisch sarkastischen Mundwinkel:

»Der Klerus handelt, wie es seine Vorschrift ist. Und Sie werden mir angesichts dieser erstaunlichen Volkserregung zugeben, daß es ihm wahrlich nicht leicht fällt, so zu handeln.«

»Das Schweigen des Klerus, Monseigneur, wird eine immer größere Gefahr für die Ruhe und Ordnung. Entweder sind die Erscheinungen von Lourdes übernatürlicher Art im theologischen Sinn des Wortes, dann ist es notwendig, daß die Kirche sie als solche anerkennt. Oder sie sind falsch, dann ist es notwendig, daß die Kirche sie ablehnt. Der Bischof aber muß sich entscheiden!«

Monseigneur lächelt in lehrhafter Weise:

»Ich kann Ihrem Entweder-Oder keineswegs beipflichten, Baron. Auch scheinen Sie die Rolle des Bischofs ein wenig mißzudeuten. Ja, wenn sich die Frage über Echt und Unecht in übernatürlichen Dingen so leicht entscheiden ließe! Aber nicht einmal in natürlichen und weltlichen Dingen läßt sie sich leicht entscheiden. Zwischen Ihrem Echt und Unecht liegen tausend Skrupel, und wir bedürfen der gewissenhaftesten Forschung, der unbeschränktesten Zeit und vor allem der Mithilfe des Heiligen Geistes, um durch all diese Skrupel hindurch zur Wahrheit zu gelangen.«

»Mit andern Worten, Monseigneur, die Sache wird kein Ende nehmen ...«

Der Bischof legt seine stumpffingrige Hand auf das juwelenbesetzte Brustkreuz:

»Sie, Herr Präfekt«, sagt er, »sehen immer nur den sehr verwerflichen Unfug, den Ihnen die Polizei rapportiert. Ich erfreue mich auch anderer Meldungen. Ich kann Ihnen verraten, daß in Lourdes und in meiner ganzen Diözese sehr heilsame Dinge geschehn. Feinde reichen einander die Hand zu christlicher Versöhnung, und es wird mit einer Inbrunst gebetet, wie seit Jahrzehnten nicht mehr ...«

Baron Massy zieht nervös die schwarzen Glacéhandschuhe über seine Finger:

»Es wird gebetet in einer ungeweihten und gesetzwidrigen Kultstätte!«

»Das Gebet ist überall gut, Exzellenz.«

Der Baron glaubt nun den Augenblick gekommen, um seinen stärksten Trumpf auszuspielen. Er entnimmt behutsam seinem Portefeuille einen Zeitungsausschnitt:

»Darf ich Votre Grandeur die Ansicht unsres einflußreichsten Blattes zur Kenntnis bringen? ›L'Ère Impériale‹ schreibt folgendes: Um eine Verehrungsstätte zu errichten, sollte man triftigere Beweggründe haben als die Aussagen eines starrsüchtigen Kindes und einen bessern Platz wählen als jene Pfütze, an welcher es Toilette macht ...«

Bischof Bertrand Sévère Laurence überhört das Zitat mit vollendeter Nichtachtung:

»Herr Präfekt«, meint er schließlich verabschiedend mild, »Sie sind gezwungen, rein administrativ zu denken. Ich bin verpflichtet, nicht nur rein administrativ zu denken. Daher kann ich Ihnen zu meinem großen Bedauern nicht gefällig sein.«

Von all diesen Gesprächen, Reden, Interventionen der Großen dieser Welt ahnt Bernadette Soubirous nichts. Sie würden auf sie auch nicht viel Eindruck machen, denn die Auswirkung ihrer Liebe hat nichts zu tun mit dieser Liebe selbst. Bernadette will in den Tagen des Urlaubs mit aller Kraft den Riß überbrücken, der sich zwischen ihr und den Ihrigen aufgetan hat. Sie verbringt den ganzen Tag im Cachot. Sie bewacht die kleinen Brüder, sie hilft der Mutter fleißiger als sonst. Nur um den Schulbesuch drückt sie sich, sooft sie kann. Am Vorabend des letzten Donnerstags im März weiß Bernadette – sie könnte nicht sagen, warum und wie –, daß die Dame ihre Rückkunft ankündigt. Sie fiebert vor unruhigem Glück. Sie verständigt sofort die Mutter, die Tanten Bernarde und Lucille. Sie schläft die ganze Nacht nicht.

Am Morgen dieses Donnerstags, des letzten im Märzmonat, erscheint Doktor Dozous um elf Uhr im Pfarrhaus. Der Dechant und der Stadtarzt sehen einander selten und meist nur bei offiziellen Gelegenheiten. Obwohl sie also wenig Verkehr pflegen, verbindet die beiden Männer doch Sympathie, denn jeder weiß vom andern, daß er unter Mißbilligung der besseren Kreise für die Mühseligen und Beladenen wirkt.

Der Dechant empfängt den Doktor verwundert, aber mit großer Freundlichkeit. Er laßt es sich nicht nehmen, seinem Gast eine Flasche Burgunder zu kredenzen:

»Wir haben ja nicht viel Gelegenheit, miteinander zu plaudern, mein lieber Dozous.«

»Ich komme eigentlich nicht zum Plaudern und zum Zechen zu Ihnen, Herr Dechant«, entgegnet der Arzt und hält den Purpurtrank versonnen gegens Licht.

»Es würde mich freuen, wenn ich Ihnen einmal mit irgendwas zu Diensten sein dürfte«, sagt Peyramale und richtet seine sonderbar brennenden Augen auf das magere Gesicht des Stadtarztes.

»Ich fürchte, Sie können mir nicht anders zu Diensten sein, als daß Sie mich anhören, Hochwürdiger ... Ich war heut früh nämlich bei der Grotte Massabielle ...«

Peyramale hebt den Kopf, sagt nichts, zieht sich in sich selbst zurück. Dozous zögert:

»Es ist nicht das erste Mal, daß ich Zeuge der Erscheinungen war ... Was ich aber heute gesehn habe, das ist, wie soll ich mich ausdrücken ... das ist bei weitem das Absonderlichste ...«

Peyramale sieht den Stadtarzt gespannt an, ohne seine etwas steife Haltung zu ändern oder ein Wort zu sagen.

»Es ist nötig, daß ich ein bißchen aushole, Herr Dechant. Sie werden gewiß gehört haben, daß ich die kleine Soubirous bereits vor sechs Wochen während einer ihrer Visionen genau untersucht habe. Ich bin schon damals zu der Überzeugung gelangt, daß weder Starrsucht noch eine geistige Krankheit vorliegt ...«

»Und haben Sie sich irgendein medizinisches Urteil bilden können?« unterbricht Peyramale.

»Psychische Zustände dieser Art sind noch wenig erforscht. Es gibt zwar eine ganze Menge Literatur, die ich mir kommen ließ, ohne durch das Studium viel gescheiter zu werden. Schließlich fand ich eine Art Erklärung in der hier und dort beschriebenen Tatsache, daß sich Visionäre mittels der von ihnen geschauten Bilder selbst in hypnotischen Schlaf zu versenken vermögen.«

»Halt, verehrter Doktor. Bedeutet dieser Befund, daß Sie Bernadette für eine echte Visionärin halten und jede gröbere Erklärung ausschließen?«

»Bernadette«, entgegnet Dozous, »ist zweifellos eine echte Visionärin. Visionen aber sind, meines Erachtens, nichts Wunderbares, solange sie keine objektiven Wirkungen hervorbringen. Herr de Lafite behauptet, daß hochentwickelte Gehirne, die von Visionen heimgesucht werden, große Geistes- und Kunstwerke schaffen. Das sei Michelangelos, Racines oder Shakespeares Geheimnis. Diesen Riesengeistern aber werde die Vision kaum bewußt, während geniale, jedoch primitive Gehirne ihre Visionen in klarer Verkörperung vor sich sehen, als Dame von Massabielle zum Beispiel ...«

Peyramale hat seine lange Pfeife weggelegt und sitzt regungslos am Tisch:

»Und halten Sie diese Definition des Parisers für zulänglich?«

»Ich habe sie für zulänglich gehalten bis zu dem Augenblick, als die Quelle entstand.«

»Wäre mithin Ihrem Glauben nach die Entstehung der Quelle Grund genug, Wunder anzunehmen?«

Dozous wird bei dieser Frage unruhig:

»Ich bin ein Naturforscher, hochwürdiger Freund. Der Wunderglaube liegt unsereinem äußerst fern. Eine Quelle ist nur eine Quelle. Die Wissenschaft kennt hypersensible Naturen, die für Wasser oder Metalladern unter der Erde einen außergewöhnlichen Spürsinn haben. Bernadette mag solch eine Natur sein.«

Peyramale spricht die folgenden drei Fremdwörter nachdrücklich aus:

»Primitiv, genial, hypersensibel! Genügt das zur Erklärung?«

»Es hätte genügt, Herr Dechant, bis ... ja, bis zur Heilung des Kindes Bouhouhorts ...«

»Und zwingt Sie diese Heilung etwa, als Naturforscher abzudanken und an ein Mirakel zu glauben?«

»Nicht ganz, Herr Dechant«, zögert Dozous. »Mein Kollege Lacrampe ist der Ansicht, in dem Quellwasser von Massabielle seien irgendwelche unbekannten Heilstoffe wirksam. Ich kann diese Möglichkeit nicht völlig ausschließen ...«

»Ein starkes Stück freilich«, sagt die verschleierte Stimme Peyramales sehr langsam, »daß ein einziges Bad in dieser Quelle ein gelähmtes Kind heilt ...«

Der Arzt nickt zustimmend:

»Ein sehr starkes Stück, zumal wenn man bedenkt, daß die Heilung unmittelbar war. Doch ich will dem Kollegen Lacrampe zugeben, daß dieses Quellbad vielleicht einen langwierigen Genesungsprozeß nur beschleunigt hat, der meinen Augen entgangen ist, obwohl die Mutter und viele Zeugen behaupten, das Kind sei in der Stunde der Heilung schon in Agonie gelegen ... Bei dem aber, was sich heute ereignet hat, kann ich dem Zweifel nicht die geringste Konzession einräumen. Es ist eine unwiderlegbare Tatsache, deren Augenzeuge ich selbst bin!«

Peyramale schweigt. Er wendet seinen Blick, der nicht mehr feurig ist, sondern eigentümlich starr, vom Gesicht des Gastes nicht ab. Dozous erzählt, er sei heute zur Grotte gegangen, weil es ihn interessiert habe, wie sich nach so langer Trennung das Wiedersehen mit der Dame im Zustand der Seherin spiegeln werde. Und wirklich, Bernadette schien in eine Ekstase zu versinken, tiefer noch und ausgedehnter als jegliche vorher. Das Wiedersehen mußte sie ganz und gar überwältigt haben. Auch ist die so seltsame Verwandlung des Kindergesichtchens in die wunderschöne Totenmaske niemals so bestürzend und erschütternd gewesen wie an diesem Tage. Alle Frauen weinten und auch ein Teil der anwesenden Männer. Bernadette bewegte sich nur sehr selten auf ihren Knien. Die üblichen Riten an der Quelle, ja selbst das Komplimentieren und Flüstern entfielen beinah vollständig, bis auf das Rosenkranzgebet. Das erstemal in der Grotte sah Dozous das Mädchen in eine Art von Tiefschlaf versunken, der an volle Bewußtlosigkeit grenzte. Er wunderte sich über diesen Tiefschlaf, da er früher oft genug bemerkt hatte, daß Bernadette trotz ihrer Entrückung alles wahrnahm, was sich rings um sie begab. Sie hielt, wie immer, ihr schwarzes Rosenkränzchen in der linken, die brennende Kerze in der rechten Hand. Ihre Hände bewegten sich nicht. Von der linken, die etwas erhoben war, hing zwischen den gespreizten Fingern der Rosenkranz schlaff herab. Da geschah es, daß, vermutlich durch das Gewicht der dicken Kerze, des Mädchens rechte Hand nach links gezogen wurde und sich senkte, so daß die Flamme zwischen den gespreizten Fingern der Linken emporzüngelte. Schon stürzten die Verwandten herbei, um Bernadette die Kerze zu entreißen. In Dozous aber war, wie er selbst sagt, der Forscher erwacht. Er hielt die Frauen mit ausgestreckten Armen zurück, sich dem Mädchen zu nähern. Dann zog er seine Uhr. Es gibt keine Betäubung, dachte er, die dem Brandschmerz Widerstand leistet. Wenn die Flamme auch nur zwischen den zarten Fingern züngelte, so berührte sie diese doch immer wieder und mußte daher zumindest das Zellgewebe der äußeren Hautschichten zerstören und Brandwunden erzeugen. Man denke doch nur daran, wie jeder Finger zurückzuckt, wenn er einer Flamme in gemessene Nähe kommt. Dozous aber konnte volle zehn Minuten auf seiner Uhr zählen, in welchen die Kerzenflamme Bernadettens völlig schmerzlose Hand umspielte. Dann erst erhob sich die Kniende, als sei nichts geschehen, und begab sich näher zur Felsnische. Wahrscheinlich hatte die Dame sie herangerufen. Als die Vision zu Ende war, untersuchte der Stadtarzt sofort die Hand der Ekstatikerin. Sie war ein wenig rauchgeschwärzt, aber gänzlich unverletzt. Nirgends auch nur die leichteste Brandwunde. Darauf nahm der Arzt einer der Frauen die brennende Kerze ab und näherte sie gelinde der Hand des Mädchens. Bernadette schrie sofort auf: »Was wollen Sie? Warum verbrennen Sie mich?« –

Dozous erzählt dies alles mit nüchternen Worten und schließt:

»Ich hab's mit meinen Augen gesehen. Aber ich schwöre Ihnen, Herr Dechant, wollten Sie mir diese Geschichte aufbinden, ich würde Sie von Herzen auslachen.«

Marie Dominique Peyramale ist aufgesprungen und geht hin und her.

»Und Ihre Erklärung?« fragt er endlich.

»Ich habe von indischen Heiligen und Fakiren gelesen«, erwidert Dozous, »die sich lebendig begraben lassen, die durch Flammen gehn und unverletzt auf Nagelbetten liegen. Vielleicht ist das wahr, vielleicht auch nicht. Ist es aber wahr, so müßten wir Ärzte annehmen, daß der menschliche Körper, durch unbekannte geistige und seelische Energien angestachelt, in Zustände verfallen kann, die den materiellen Gesetzen widersprechen ...«

»Bernadette ist kein indischer Fakir und kein raffinierter Asket, sondern ein ganz gewöhnliches, ahnungsloses Ding«, ruft Peyramale ärgerlich. »Das sind keine Erklärungen!«

Nun ist auch der Arzt aufgestanden und zeigt seine Ungeduld:

»Die ganze Zeit, Herr Dechant, fragen Sie mich nach Erklärungen. Aber ich bin hierher gekommen, um Ihre Erklärung zu hören. Auf die wart' ich ...«

Peyramale geht weiter hin und her und sagt nichts und ist bis auf den Grund aufgewühlt und leidet unter seinen Zweifeln an Bernadette, die er noch immer nicht überwinden kann.


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