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Kapitel Dreiundzwanzig. Ein Louisdor und eine Ohrfeige

Vital Dutour, der kaiserliche Staatsanwalt, massiert seine gelbliche Glatze. Jacomets Vorschlag ist ihm von Herzen zuwider. Es ist die typische Geistesblüte eines Polizeigehirns. Sonderbar, dieser Jacomet ist ein platter, aber sonst gut mutig honetter Bursche. Er hat bisher sein Amt zu voller Zufriedenheit der Vorgesetzten geführt, indem er es verstand, zu gleichen Teilen beliebt und gefürchtet zu sein. Sein Familienleben ist vorbildlich. Mademoiselle Jacomet, die Tochter, gilt als ein Engel der Armen. Sie strickt den ganzen Tag wollene Unterleibchen und Halstücher, die sie auf der Straße verteilt. Jean Marie und Justin Soubirous haben, als »ärmste Kinder der Stadt«, von diesem Strandgut eines wohltätigen Herzens allerlei abbekommen. Abbé Pomian behauptet zwar, daß Fräulein Jacomet für ihre Unterleibchen eine veritable Polizeiwolle verwende. Diese wärme nämlich weniger, als sie kratze. Die witzigen Bemerkungen Pomians kennt man aber. Um einer gutsitzenden Pointe willen verletzen sie ohne weiters die priesterliche Milde. Marie Dominique Peyramale, der auch kein bähendes Lamm ist, hat wegen solcher Aphoristik den Kaplan schon öfters zur Rede gestellt. Die Zeiten, mein Lieber, pflegt er zu sagen, sind längst vorüber, wo es unsere geistlichen Standesgenossen wagen durften, sich als Vauvenargues durch die Salons zu schmarotzen. – Dutour hält also Jacomet für beschränkt und anständig. Dieser Einfall des Kommissärs jedoch ist alles eher als anständig. Es bildet für den Staatsanwalt eine alte Erfahrung, daß die Denkart der Kriminalisten mit der Denkart der Kriminellen in untergründigem Zusammenhang stehe. Polizisten und Verbrecher sind ja in gewissem Sinne Berufsgenossen. Der Agent Provocateur aber, der Lockspitzel, verkörpert gleichsam die Mitte, in welcher die beiden Pole dieses Berufs sich ausgleichen. Und um nichts anderes handelt es sich in der Idee Jacomets als um einen Lockspitzel.

Der Präfekt von Tarbes hat in seiner letzten Depesche ausdrücklich den Wunsch geäußert, man möge einen Fall entdecken, der beweist, daß die Soubirous die Leichtgläubigkeit ihrer Landsleute mißbrauchen, indem sie aus den Apparitionen und deren Folgen geldlichen Nutzen ziehen. Ein verdammt seltener Fall metaphysischer Korruption gewissermaßen. Er würde aber genügen. Denn über nichts urteilen die Menschen unerbittlicher als über dasjenige, was zu begehn sie stündlich selbst entschlossen sind: die eigennützige Ausbeutung der bereitwilligen Naivität! Beruht nicht die Geschäftsreklame der ganzen Welt auf obigem Prinzip? Könnte man das Ehepaar Soubirous der Tatsache überführen, daß die Erscheinungen ihrer Tochter ein ertragreiches Geschäft bilden, dann wäre Lourdes und ganz Frankreich mit einem Schlage geheilt. Um das zu erkennen, hat Dutour freilich nicht den Baron Massy gebraucht. Dennoch kann sich der kaiserliche Staatsanwalt nicht entschließen, der plumpen Idee Jacomets ohne weiteres zuzustimmen. Freilich, für den nächsten Donnerstag sind ganz große Dinge prophezeit, der endgültige Triumph Bernadettens und ihrer Dame über den Staat. Darum muß der Schlag gegen beide vor diesem Donnerstag unerbittlich geführt werden, zu welchem Zwecke leider nur mehr zweimal vierundzwanzig Stunden zur Verfügung stehn.

Vital Dutour will noch einen letzten Weg beschreiten, ehe er dem Kommissär freie Hand läßt. Bernadette soll die Rosenkränze der Menge gesegnet haben. Sie hat zwar in ihrer geschmeidigen Art sogleich wieder eine Ausrede ersonnen. Die Dame habe von ihr verlangt, sie möge ihren alten Rosenkranz gebrauchen, und diesen hätte sie nur hochgehoben! Tut nichts! In der Segnung der Gebetsmittel durch Laien kann bei einigem gutem Willen der Geistlichkeit ein Kultvergehen beanstandet werden. Dazu kommt noch, daß man auf Kosten der Madame Millet eine Art Altar in der Grotte aufgestellt hat, mit einem Kruzifix, mehreren Madonnenbildern und vielen Kerzen. Das Konkordat aber verbietet bekanntlich die Errichtung jedweder Verehrungsstätte ohne Erlaubnis des Kultusministeriums.

Der kaiserliche Staatsanwalt tut das gleiche, was der Präfekt getan hat: er begibt sich zum Vorstand der Kirche. Der Dechant kann Dutour ebensowenig leiden wie der Bischof den Baron. Der Staatsanwalt setzt dem Pfarrer breit auseinander, daß sich die Angelegenheit nun so weit entwickelt habe, daß ein Abwehrakt der Kirche nicht nur empfehlenswert, sondern unumgänglich notwendig sei. Die Segnung der Rosenkränze, die Aufstellung von Altären durch Ungeweihte und Unbefugte bilde ebenso ein Vergehen gegen die geistliche wie gegen die weltliche Ordnung. Peyramale hat den kaum erst von seiner schweren Influenza geheilten Dutour in den eiskalten Empfangssaal des Pfarrhofs führen lassen. Der kaiserliche Staatsanwalt bekommt sogleich kalte Füße und Angst vor einem Rückfall. Aber der grobe Klotz von einem Pfarrer bietet ihm nicht einmal einen Schnaps an. Die Laune Vital Dutours verdüstert sich zusehends. Er weiß genau, daß Peyramale die kleine Soubirous nicht weniger zum Kuckuck wünscht als er oder Lacadé. Zugleich aber weiß er auch, daß der eitle Dechant seinen Besuch als eine Selbstdemütigung ansieht und ihm trotzdem keinen Schritt entgegenkommen wird. Er irrt sich nur in den Motiven des Pfarrers. Dieser besitzt eine jungenhafte Neigung, im Kampf zwischen Räubern und Häschern die Partei der Räuber zu nehmen. Er hat den Rummel mit der Dame über und über satt. Er hält noch immer Bernadette für eine Schwindlerin. (Dennoch hat es ihm einen Riß gegeben, er wußte nicht warum, als er in der Matutin des sechsundzwanzigsten Februar auf folgende Worte des Propheten stieß: »Ich sah einen Wasserstrom ausgehen aus dem Tempel von der rechten Seite her, und alle, zu welchen dieses Wasser kam, wurden gerettet.«) Das aber geht wahrhaftig zu weit, daß Gericht und Polizei jetzt noch von ihm fordern, er möge ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen. Erbarmungslos mustert er mit seinem zerackerten Entdeckergesicht den kaiserlichen Staatsanwalt, der die Knie ein wenig hochzieht, um den Steinboden nicht mit den Füßen berühren zu müssen. »Werter Herr«, sagt Peyramale, »Sie befinden sich, was das sogenannte Kultvergehen anbelangt, in einem beträchtlichen Irrtum. Ein hölzernes Tischchen, auf das man Kerzen und heilige Bilder stellt, ist immer noch ein hölzernes Tischchen und kein Altar. Die Errichtung eines Altars ist an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden. Einen hölzernen Tisch mit Kerzen, Kreuzen, Blumen und so weiter darf jedermann aufstellen, zu Hause oder im Freien, das heißt, letzteres nur dann, wenn die Behörde keinen triftigen Einwand dagegen hat. Das Bürgermeisteramt oder die Staatsanwaltschaft kann den Tisch in der Grotte beschlagnahmen. Ich vermag Ihnen zu dieser Beschlagnahme dort ebensowenig zu verhelfen wie etwa im Hause der Madame Millet ...«

Diese klaren Worte bestimmen den kaiserlichen Staatsanwalt, seine Bedenklichkeiten gegen das Vorhaben Jacomets fallen zu lassen.

Am Dienstag gegen elf Uhr stellt sich ein neuer Gast im Cachot ein. Es ist ein Ortsfremder. In großkariertes Manchestertuch gekleidet, einen schottischen Plaid überm Arm, den Regenschirm in der Hand und auf dem Kopfe einen grauen Zylinder, erweckt der Mann den Eindruck eines reisenden Engländers, wie sich deren in den Sommermonaten nicht wenige zum Kurgebrauch in Cauterets und Gavarnie einstellen. Die Anwesenheit dieser großkarierten Persönlichkeit ist in Lourdes nicht unbemerkt geblieben. Der Postkutscher Doutreloux, der ihn gestern von Tarbes nach Lourdes brachte, verwunderte sich darüber sehr, daß ein so reicher Herr mit drei Brillantringen an den Fingern die holprige »Gelegenheit« der kleinen Leute benütze, anstatt einen Landauer zu mieten, wenn er schon nicht mit seinem eigenen Viererzug durchs Land trabe. Doutreloux, der keiner von den schweigsamen Pferdelenkern ist, erlaubte sich, seine Verwunderung in geziemende Worte zu kleiden, worauf er die Auskunft erhielt, Lourdes sei nun ein Wallfahrtsort, und wer nach Lourdes pilgere, der tue das am besten in demütiger Form und nicht mit juckenden Schimmeln und lackiertem Lederzeug. Bei dem Worte »Wallfahrtsort« pfiff Doutreloux durch die Zähne und dachte: Der gute Soubirous möchte seine Bernadette am liebsten durchwalken, damit sie ihm weniger heilige Sorgen macht.

Der Ortsfremde mit den vielen Brillantringen findet im Cachot nur Louise und François Soubirous vor, welch letzterer wieder einmal sich krank gemeldet hat. Marie ist in der Schule. Bernadette hat den Auftrag bekommen, ihre Brüderchen, deren Freiheitsdrang jetzt alle Grenzen überschreitet, aufzuspüren und nach Hause zu bringen. Es ist nicht das erste Mal, daß die Familie Soubirous von neugierigen Reisenden heimgesucht wird. Kein Wunder, da ja der Name Soubirous täglich durch alle Zeitungen Frankreichs »geschleift« wird, wie sich der ehemalige Müller auszudrücken weiß. Diese Fremden begucken das Vaterhaus der Thaumaturgin mit manchmal mitleidigen, manchmal verwunderten Augen. Sie gehen im Cachot umher, nicht wie in einem Raum, wo Menschen leben müssen, sondern wie in einem Museum, wo das Inventar des haarsträubendsten Mangels für die Zukunft aufbewahrt wird. Wie man Kindern gegenüber schädlicherweise seine Zunge oft nicht hütet, so lassen diese Neugierigen Bemerkungen über die klägliche Wohnstätte fallen, die den stolzen Soubirous zu der verärgerten Vorspiegelung bewegen, daß der Cachot nur eine provisorische Unterkunft sei und man demnächst in eine der Mühlen am Lapaca-Bach übersiedeln werde. Hie und da drücken die Besucher Vater oder Mutter Soubirous ein Geldstück in die Hand. Die nehmen es ohne Ziererei. Kein Mensch kann's ihnen verargen, denn sie haben ja ihre Zeit nicht gestohlen, um müßigen Leuten ihre Armut zur Schau zu stellen. Der Großkarierte scheint hartnäckiger, aber auch umgänglicher zu sein als andre Gäste dieser Art. Er kritisiert den Cachot nicht von der Höhe seines eigenen Reichtums herab, sondern lobt die Ordnung und Sauberkeit hier, was ihm sofort das Zutrauen Madame Soubirous' gewinnt. Mit seinen lebhaften Äuglein guckt er anerkennend in die Töpfe der Hausmutter. Ihr und François fällt es nicht einmal auf, daß dieser vornehme Millionär das Patois der Pyrenäen in der volkstümlich gröbsten Manier spricht. Dieser Umstand vermehrt sogar noch die Sympathien für ihn. Im Laufe des Gesprächs zieht der distinguierte Fremde eine mit Stroh umflochtene Reiseflasche hervor, in der ein alter, bernsteingoldener Cognac funkelt. Der Hausherr weiß diesen Trunk zu schätzen, von dem er einen Becher kredenzt erhält. Endlich kommt der Ortsfremde auf sein Anliegen zu sprechen:

»Hört, liebe Leute! Ich bin von Biarritz hergereist, wo ich in der Nähe der kaiserlichen Villa ein Haus besitze. Ich hab dort ein Töchterchen genau wie ihr, fünfzehn Jahr ist Ginette im Herbst gewesen. Es ist ein süßes Kind, ein bißchen traurig immer, schwach auf der Brust, und hat nur einen einzigen Wunsch, den Rosenkranz der petite voyante zu besitzen, von der man so viel hört. Kein Preis ist mir zu hoch dafür ...«

»Bernadette gibt ihren Rosenkranz nicht her«, erklärt die Soubirous schroff.

»So wird sie den Rosenkranz meiner Tochter segnen, ich habe ihn mitgebracht ...«

François schiebt den verführerischen Trank weit von sich:

»Sie sind ein vornehmer Herr, Monsieur«, erklärt er, »und wissen von der Welt viel mehr als ich. Aber eines weiß ich, daß meine Frau und ich ganz gewöhnliche Menschen sind und meine Kinder daher auch nur ganz gewöhnliche Menschen sein können. Die Bernadette sieht ihre Dame. Gut! Die Leute reden dies und das über die Dame. Niemand aber weiß, wer die Dame in Wirklichkeit ist. Sonst aber ist meine Bernadette ein ganz gewöhnliches Mädel. Sie ist kein Geistlicher und trägt keine Stola und kann nichts weihen ...«

»Glauben Sie ihm nicht, Herr«, mischt sich die Soubirous ein. »Meine Bernadette ist kein ganz gewöhnliches Kind. Schon als ich mit ihr schwanger war, hab ich sonderbare Träume gehabt. Meine Schwester Bernarde Casterot kennt sie. Und die Laguès aus Bartrès hat immer zu mir gesagt, deine Kleine, liebe Louise, die hat zwar einen schweren Kopf, aber in dem geht so manches vor, was niemand weiß ...«

Die rote Plebejerfaust des Millionärs hat mehrere große Goldstücke auf den Tisch gezaubert:

»Würde das genug sein für den Segen Eurer Tochter?«

Louise und François starren mit großen Augen auf das Geld. Louisdors, Napoleondors, Dukaten und anderes Gold hat Soubirous nur äußerst selten zu Gesicht bekommen. Ein paar Zwanzig-Sous-Stücke in die hohle Hand gezählt, das ist für ihn schon der Inbegriff allen Wohlstandes. Dieser schwindelerregende Goldschatz aber würde das Schicksal der Familie mit einem Schlage ändern. Man könnte endlich eine menschenwürdige Wohnung nehmen. Sicher könnte man sogar damit die Pacht einer Mühle bezahlen. Auch die Gedanken der Mutter sind nicht weniger in Aufruhr geraten. Jetzt entringt es sich ihr schon als schwerer Seufzer:

»O nein, Bernadette wird niemals diesen Rosenkranz segnen ...«

»Es würde meiner Tochter genügen, Madame«, lockt der Fremde, »wenn Sie selbst den Rosenkranz nur mit irgendwas in Berührung bringen, das Ihr Kind am Leibe trägt. Dafür könnt ich schon zwei Louisdor geben ...«

Louise sieht François an. François sieht Louise an. Plötzlich springt die Soubirous auf, nimmt den Rosenkranz aus der Hand dieses merkwürdigen Bittstellers und steckt ihn unter das Kissen Bernadettens:

»Sie hat ihren eigenen Rosenkranz immer unterm Kopf«, flüstert sie, »wenn sie hier schläft.«

Der Ortsfremde steckt die also geweihte Gebetsschnur befriedigt in die Tasche:

»Ich danke Ihnen schönstens, Madame Soubirous. Mein Töchterchen wird überglücklich sein. Zwei Louisdors bar sind nach heutigem Kurswerte zweiundfünfzig Silberfranken, vierzig Centimes. Es wäre nett von Euch, Soubirous, wenn Ihr mir auf diesem Zettel hier den Empfang bestätigen wolltet. Ordnung muß sein!«

»Kein Geld nehmen, Eltern, bitte!« schreit in der Tür Bernadette, die den letzten Satz gehört hat. »Die Dame würde böse sein ...«

Dann macht sie, wie um ihr verzweifeltes Dazwischentreten zu entschuldigen, gegen den Fremden einen Knicks und berichtet der Mutter:

»Die Jungen werden gleich da sein, Maman ...«

Was jetzt geschieht, ist »echt Soubirous«, denkt Louise. Der Hausvater erhebt sich zu voller Stattlichkeit und schiebt dem Großkarierten mit einer verächtlichen Gebärde das Gold wieder zu, das schon, wie nach abgeschlossenem Handel, in der Mitte des Tisches lag. Dann wendet er sich zu Bernadette:

»Nichts hab ich zu tun damit«, verkündet er großartig. »Nur das Herz deiner Mutter ist schwach geworden einen Augenblick lang. Sie hat auch für die paar Sous, die ich als Postbeamter verdiene, zu viele Mäuler zu füttern. Ihnen aber, Herr, danke ich für die Güte, wenn ich sie auch nicht annehmen kann ...«

»Abgemacht ist abgemacht, Soubirous«, eifert der Fremde, aus dem Ton des Millionärs fallend. »Ich hab die Ware empfangen, Ihr nehmt das Geld ...«

»Wir haben keine Ware feilzubieten hier«, erklärt der Hausvater mit spanischem Anstand.

»Wenn Euch zwei Goldstücke zu wenig sind, nehmt fünf«, schreit der Millionär, dessen Konzept verdorben zu sein scheint. »Ich bin's meiner Tochter schuldig, und Ihr der Eurigen auch.«

In Bernadettens Gurgel steigt ein Brechreiz auf, wie sie jetzt des Fremden Stiernacken vor sich sieht. Er ist puterrot und mit Narben und Geschwüren bedeckt. Der Mann besinnt sich, wechselt den Ton:

»Ihr habt mir schließlich gegeben, was ich brauche, Soubirous«, murmelt er mit Augenzwinkern. »Ich hätte nicht so offen sein sollen ...«

Diese Worte gehen in der Verwirrung unter, die dadurch entsteht, daß die beiden Knaben eintreten, daß Marie aus der Schule kommt, daß in der Tür die Gesichter von Nachbarn auftauchen, die der Besuch des »englischen Millionärs« angelockt hat. Dieser hat in Ermangelung besserer Möglichkeiten seinen Entschluß gefaßt. Der Wunsch der Auftraggeber geht dahin, daß die volle Summe oder auch nur ein Teil des Goldes im Cachot zurückbleibe. Er empfiehlt sich also mit herzhaftem Dank und Handschlag vom Ehepaar Soubirous, kneift la petite voyante väterlich in die Wange, nimmt Zylinder, Plaid und Regenschirm, läßt die Reiseflasche voraussichtsvoll auf dem Tisch stehn und geht. Neben der Tür hockt ein kleiner Holzschemel, auf den die Mutter allerlei Kram abzustellen pflegt. Mit der Berufsroutine eines Taschenspielers, der Gegenstände blitzschnell verschwinden und erscheinen lassen kann, praktiziert der Großkarierte auf den Rand dieses Schemels einen der verführerischen Louisdors.

Niemand außer dem siebenjährigen Jean Marie hat dieses Zauberkunststück bemerkt. Der Junge verkörpert in der Familie den praktischen Lebenssinn, was er ja schon dadurch bewiesen hat, daß er jüngst seiner Mutter den geweihten Wachsklumpen aus der Kirche zum Verkochen mitbrachte. Jean Marie ist nicht diebischer, als alle Welt es ist, falls die straflose Gelegenheit dazu sich bietet. Wenn er jetzt den Louisdor einsteckt, diese funkelnde Elsternbeute, deren Wert er gar nicht kennt, so geschieht's durchaus nicht, weil er ihn für sich behalten will. Er spürt aber genau, daß seit dem Erscheinen der Dame sich seiner Angehörigen eine sonderbare Verstiegenheit bemächtigt hat, die gar oft gegen den sachlichen Vorteil gerichtet ist. Das Bürschlein läßt den Louisdor in die Tasche gleiten, um ihn vor dem gefährlichen Idealismus der Familie zu schützen. Morgen wird er ihn triumphierend seiner Mutter einhändigen, wenn er allein mit ihr ist und Bernadette nicht zusieht. Einige Minuten später kommt der Ortsfremde mit vielen Entschuldigungen in den Cachot zurück, um die vergessene Reiseflasche abzuholen. Er nötigt dem Hausherrn einen letzten Abschiedstrunk auf. Ein rascher Blick auf den Schemel überzeugt ihn davon, daß sein Besuch nicht ganz vergeblich gewesen ist.

Gegen zwei Uhr nachmittags wird Bernadette auf dem Weg zur Schule verhaftet. Ein gewisser Leo Latarpe, ein Straßenarbeiter, den man zum Hilfspolizisten gemacht hat, nimmt sie zart beim Arm:

»Ma petite, du mußt jetzt mit mir ins Gefängnis gehn.«

Bernadette funkelt ihn übermütig an. Sie weiß, daß die Dame sie liebt. Was kann ihr die Welt noch antun?

»Halten Sie mich recht fest, Herr«, lacht sie, »sonst mach ich mich aus dem Staube ...«

Zur selben Zeit nimmt Callet das Elternpaar Soubirous gefangen und führt es durch ein flüsterndes Menschenspalier zum Landesgerichtshaus. Vital Dutour will durch dieses von ihm zum Ort der Handlung bestimmte Gebäude beweisen, daß der Spaß nun aufgehört hat. Wer sich einmal in den Klauen des Untersuchungsrichters befindet, der kommt nicht so leichten Kaufes los wie vom Polizeikommissariat. Gott aber hat es so gefügt, daß dem kaiserlichen Staatsanwalt, als Protagonist dieser kläglichen Komödie, leider nur ein regelrechter Tropf zur Verfügung steht: Herr Rives, der Untersuchungsrichter, in dessen Haus Madame Soubirous Wäscherinnendienste leistet. Der Staat hat zu einem ganz und gar unanständigen Mittel gegriffen, um mit der Dame fertig zu werden. Es liegt aber im Wesen des Staates selbst, daß er angesichts eines Notstands in seinen Mitteln nicht wählerisch sein kann. Im Zeitalter der Industrie bedeutet das Wunder zweifellos einen Notstand des Staates, da es die moderne Gesellschaftsordnung ins Wanken bringt, die alle metaphysischen Bedürfnisse gewissermaßen auf den grasbewachsenen Nebenbahnhof der Religionen abgeschoben hat, damit der große Verkehr des Lebens von ihnen nicht mehr belästigt werde. Dort haben sie die Aufgabe, als Dekoration für die drei pathetischen Ereignisse des Daseins, Taufe, Trauung, Tod, edel zu verkümmern. Die Apparitionen von Massabielle bedeuten somit ein unverzeihliches Aufwallen der übersinnlichen Residuen, das jeder moderne Staat abwehren muß. Weder Dutour noch Jacomet sind besonders schlechte Menschen. Sie sind treue und gewissenhafte Staatsbeamte. Sie handeln, wie sie handeln müssen. Der Prophet Jesaia läßt Gott sprechen: »Meine Wege sind nicht eure Wege.« Ebenso könnte der Staat sprechen: »Meine Moral ist nicht eure Moral.« Wofür der Staat jeden seiner Bürger an den Galgen bringen oder in den Kerker werfen müßte: Mord, Raub, Betrug, Erpressung, Verleumdung, das begeht er selbst von alters her ohne Gewissensbisse, wenn er seine Ordnung dadurch zu schützen meint. Doch selbst für diese grauenhafteste Seite ihres Wesens könnte die Staatsräson eine Bibelstelle rechtfertigend anführen, die Worte des Hohenpriesters nämlich: »Besser ein Mann geht für ein ganzes Volk zugrunde, als ein ganzes Volk für einen Mann ...«

Für Donnerstag ist der Zustrom von einigen Zehntausenden angekündigt. Die Staatsräson, vorzüglich verkörpert in Vital Dutour, muß diesen Triumph der Dame verhindern. Sie kann's nicht anders tun, als indem sie die Seherin in Ketten legt. Die Zeit drängt. Jedes Mittel, das zu diesem Zwecke taugt, ist auch gut. Einen groben Fehler aber begeht der Staatsanwalt von Anfang an. In der Scheu jegliches Beamten, sich in das »Ressort« eines andern Beamten zu mischen, läßt er diesen unglückseligen Esel von Rives nach freiem Ermessen gewähren. Der Untersuchungsrichter hat den Ehrgeiz, Bernadette und ihre Eltern der Schuld zu überführen. Er begreift nicht, daß diese »Schuld« der schwächste und nebensächlichste Punkt der ganzen Jämmerlichkeit ist. Es handelt sich ja um gar nichts andres, als Bernadette und mit ihr die Dame für längere Zeit vor und nach dem Donnerstag lahmzulegen. Das Gesetz schreibt vor, daß ein Gefangener binnen vierundzwanzig Stunden dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden muß. Hätte Herr Rives Verstand im Kopf, würde er deshalb Bernadette und ihre Eltern bis morgen ein Uhr nachmittags dunsten lassen. Dann könnte er durch die hundert Kniffe, die jedem Richter bekannt sind, die Untersuchung so lange hinziehn, wie es nötig ist. Er hingegen läßt Bernadette Soubirous unverzüglich vor sein Angesicht führen:

»Da bist du ja, du unverschämte Herumtreiberin«, brüllt er sie an, um das Mädchen in Schrecken zu versetzen.

»Ja, hier bin ich, Herr«, erwidert sie mit dem größten Gleichmut, der ihr zu Gebote steht.

»Jetzt wanderst du ins Gefängnis, mein Liebchen, kein Gott kann dich davor retten. Mit der Grotte ist es aus, ein für allemal. Hinter Schloß und Riegel kannst du deine Dame empfangen.«

Bernadette lächelt ein bißchen und sagt wortwörtlich:

»Que soi presto. Boutami, è què sia soulido e piu ciabado e quem descaperei ...«

Und das bedeutet:

»Ich bin bereit. Bringen Sie mich ins Gefängnis, aber es muß solid sein und fest vergittert, sonst brenn ich durch ...«

Der Untersuchungsrichter ist ganz starr über so viel Selbstgewißheit, die er für eine ganz unfaßbare Frechheit hält. Er springt auf und schüttelt das Mädchen:

»Wo hast du den Louisdor?«

Bernadette sieht ihn mit verschleierten Augen so unschuldig an, daß er seinen eigenen Blick abwenden muß.

»Was ist das, ein Louisdor, bitte?« fragt sie.

»Das Goldstück, das ihr von dem fremden Herrn gekriegt habt!«

»Wir haben nichts genommen, nicht ich und nicht die Eltern«, sagt Bernadette mit seelenruhiger Gelassenheit.

Nun wäre der Augenblick gekommen, das erste Verhör abzubrechen. Der kaiserliche Staatsanwalt aber hat es verschmäht, die Komödie zu lenken. Bernadette ist's gelungen, Herrn Rives aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Wahrhaftig, du kannst einen verrückt machen, du Geriebene«, schreit er, schwingt die Glocke hoch in seiner Hand und befiehlt dem eintretenden Gerichtsdiener, das Elternpaar Soubirous zur ›Konfrontation‹ vorzuführen. Wieder ein unverzeihlicher Fehler, diesmal sogar formaler Natur. Die beiden Soubirous halten sich nicht schlecht. Die natürliche Würde des deklassierten Müllers macht den Richter schwankend. Aus allen Antworten, die er empfängt, leuchtet die blanke Unschuld. Da begeht Rives den größten Fehler dieses Tags. Er gibt die magere Verschwörung des Gerichtes preis und läßt den Lockspitzel hereinrufen. Der Großkarierte macht solch eine erbärmliche Figur, daß es selbst dem ungefügen Verstände der Soubirous klar wird, welch niederträchtiges Spiel man mit ihnen getrieben hat. Rives schämt sich so, daß er am liebsten davonlaufen möchte und insgeheim wütende Flüche gegen Dutour schleudert. Er ruft zuletzt:

»Irgend jemand muß den Louisdor doch haben. Wer war außer euch noch in der Stube?«

»Meine Geschwister, Marie und die beiden Kinder«, erwidert Bernadette nachdenklich langsam.

»Hierher mit der ganzen Gesellschaft«, befiehlt der Richter.

Jean Marie gesteht sofort und zieht das Goldstück aus der Tasche:

»Auf der Bank ist's gelegen. Ich wollt's nur aufheben für Maman«, stammelt er weinerlich. Da geschieht etwas, das niemand einer Ekstatikerin und Visionärin zugetraut hätte. Bernadette wird rot bis unter die Haare. Ihr Gesicht ist jetzt so grob und energisch wie das von Tante Bernarde Casterot. Sie geht mit sonderbar gemessenen Schritten auf ihren kleinen Bruder zu und versetzt ihm solch eine fürchterliche Ohrfeige, daß er aufheulend zurücktaumelt. Zugleich hat sie ihm das Goldstück entrissen und wirft es dem Lockspitzel zu wie ein unwiderrufbares Todesurteil. Diese Handlung ist so rasch, so unwiderstehlich und so abschließend herrisch, daß dem Richter Rives nichts andres übrigbleibt, als gehorsamst selbst Schluß zu machen:

»Hinaus mit euch allen«, donnert er. »Geht zum Teufel!«

Vor dem Landesgericht wird die Familie Soubirous von einer dichten Menge empfangen, die sie mit Siegesrufen in den Cachot begleitet. Der Schaden, den sich die unvorsichtige Staatsräson selbst zugefügt hat, ist unermeßlich. Nach Eintritt der Dunkelheit wirft man dem kaiserlichen Staatsanwalt, dem Polizeikommissär und dem Untersuchungsrichter die Fenster ein. Um vier Uhr geht der Postwagen von der Place Marcadale nach Tarbes. Der »englische Millionär« und der Bäcker Maisongrosse sind die einzigen Fahrgäste. Auf der Landstraße, genau in der Mitte zwischen Lourdes und Bartrès, macht Doutreloux halt. Antoine Nicolau, Bouriette und zwei gewaltige Steinklopfer sind schon zur Stelle. Der Großkarierte wird aus dem Wagen gehoben und kunstgerecht auf einen Schotterhaufen gebettet, mit dem Rücken nach oben. Antoine entledigt sich seines breiten Lederriemens und prüft überdies den Knüppel, den er umsichtigerweise mitgebracht hat. Der erste Hieb gehört ihm. Maisongrosse, ein Liebhaber volkstümlicher Belustigungen, hußt die Männer mit regen Beifallsrufen. Doutreloux, die Pfeife im Mund, gibt sachgemäße Ratschläge. Der Engländer quäkt mit einer sehr hohen Stimme:

»Ich mache Sie aufmerksam, das ist das Verbrechen der schweren Körperverletzung, das ist Totschlag ...«

»Wir wissen schon, daß du dich im Gesetz auskennst, Dicker«, lacht Antoine, während einer der Steinklopfer mit seinem Messer die karierte Rückenseite des Ortsfremden bis auf die Haut entzweischneidet. »Aber sei nur ruhig, wir handeln's schon aus mit dem Gericht.« Dann läßt er den Riemen sausen. Nach vollbrachtem Werk verlädt man den Millionär, dessen prächtiger Anzug ihm in Fetzen vom Leibe hängt, wieder in den Postwagen. Er ist sehr still jetzt. Antoine und seine Genossen aber sind sehr heiter. Kein Dutour und kein Jacomet wird es wagen, sie zur Verantwortung zu ziehen.


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