Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Weggefährten

Die Tage und Nächte kommen und gehen. Unermeßlich ist die Pampa, und wenn man auch galoppiert und in langen Gängen hintrabt, so gelangt man doch eigentlich nirgends hin. Man ist immer auf Suche und findet nichts. Daß die Welt so groß ist, hat man nie gemerkt. Man war ihr nie allein ausgesetzt. Weder die Hürde eräugt man, noch hört man die Stimme des Menschen. Der Wallach ist nicht mitgekommen. Man hat sehr deutliche Merken der Siedlung und ihrer nächsten Umgebung im Gedächtnis, aber es will sich nicht fügen, daß man etwa an einen Platz gelangte, wo einem der helle Verstand gleich sagen würde: da gehörst du hin. Nein, man gehört seit vielen Tagen nirgends hin, und dieses Gefühl verwirrt einen; es jagt einen am frühesten Morgen in Trab, und erst mit anbrechender Nacht tut man sich nieder. Dann trifft es sich, daß man nach Tagen wieder an eine vertrocknete Wasserstelle oder zu einer 269 Araukarie oder zu einem riesigen Kandelaberkaktus gelangt und gleich erkennt, daß man da schon genächtigt oder in der größten Hitze gedöst hat. Man ist in einem tagelangen Kreis getrabt. Man schnuppert aufmerksam und kriegt nur die eigene Witterung in die Nase. Dann wirft man auf und wiehert sehr verwirrt. Oh, es ist kaum ein Gewieher, und wer soll das heisere Gebell hören in der riesigen Weite? Man ist vor Durst ganz trocken in der Kehle, und wenn nachts einmal ein Gewitter Kühle und Feuchte bringt, so sind andererseits Blitze und Hagel wahrscheinlich noch feindseliger, weil man allein ist, und keiner da ist, der vor Schreck mitkollert.

Mannsräuschlins Fell hat den schönen Glanz verloren, ist struppig, und eine dicke Staubkruste bedeckt Bauch und Flanken. Es hat sich in Salzlachen gesuhlt und hat sich dann auf dem lehmigen Boden gewälzt. Oft steht die Stute viertelstundenlang auf einer Bodenwelle und glotzt und äugt und kollert und schnaubt, dreht sich um sich selber, tut ein paar Gänge, verhält wieder, versammelt sich – und alles miteinander nutzt gar nichts. Man ist ein verschollenes Pferd, und man taugt keineswegs zum Verschollensein. Man ist ein Sippengeschöpf und hat ein Sippengemüt und verliert vielleicht den gesunden Verstand, wenn das 270 noch lange dauert. Mannsräuschlin hat in seinem kurzen Dasein viel erlebt, niemals aber noch das völlige Verlassensein. Und weil es dazu nicht erschaffen ist, wird sein Gemüt ängstlicher und verwirrter, und es würde gerne mit jeder Gesellschaft vorliebnehmen.

Eines Tages gegen Sonnenuntergang zottelt die Stute durchs verdorrte hohe Riedgras und weidet unfroh und wählerisch. Dann fällt ihr vielleicht die Futterkrippe und die Raufe im Menschenstall ein und das gute Heu und die Tränke. Sie wirft auf und äugt und spielt die Ohren. Nichts! Langsam schreitet sie weiter.

Da springt vor ihr einer auf. Mannsräuschlin tut einen erschrockenen Satz zur Seite und kollert. Der Springer verhofft und glotzt, und die Stute spitzt und glotzt. Sie mißtrauen einander. Aber der feine schlanke Hirsch hat seine Gründe, nicht davonzugehen, und Mannsräuschlin merkt gleich, daß der Gehörnte da nichts Feindseliges vorhat.

Die Stute kennt die Schafe und Ziegen, und deren Witterung ist ihr vom Menschenland her vertraut. Der Schlanke da hat wohl eine strengere Witterung, aber keineswegs bösartig. Da steht er, rötlich und glänzend behaart, hat einen weißen Bauch und äugt aufmerksam aus großen feuchten Augen, die von einem weißen Ring eingefaßt sind. Oh, was hat er für 271 zärtliche Beine, die die Erde wohl gar nicht spürt? Ein feiner Heimlicher!

Mannsräuschlin schnuppert mit weiten Nüstern die strenge Witterung ein und hat gleich eine deutliche Merke im Verstand. Die Stute starrt auf den Fremden, peitscht den langen Schweif und dreht die Ohren spitz nach vorne. Wahrscheinlich ist es ihr recht, daß da einer gleich ihr allein auf der Welt herumsteht. Jetzt senkt der Hirsch, der der Stute kaum an die Kruppe reicht, langsam den Kopf und beginnt zu äsen. Sogleich fängt auch Mannsräuschlin zu weiden an. Es schmeckt gleich besser, weil man hört, wie ein anderer Gras rauft. Weil die Stute längere Beine hat und größere Schritte macht, nähert sie sich immer mehr dem Hirsche, der manchmal aufwirft und die Ohren schüttelt. Sogleich wirft auch die Stute auf, und dann betrachten die beiden Tiere einander eine Weile, während sie das dürre Gras kauen. Breit und ruhig geht das Leben an beider Flanken hin, und sie wesen in ihm friedfertig und des Daseins sicher. Der große Strom des freien Lebens hat die Stute wieder aufgenommen, und weil nun ein Lebendiger da ist, der gleich ihr, wenn auch nicht verwandt, doch die nämliche Nahrung sucht, und dessen Lust gleich der ihren Sprung und Flüchtigkeit über der weiten rauschenden Erde ist, so fühlt sie 272 sich sogleich heimischer, und die heraufziehende Dämmerung sieht sie nicht mehr ruhelos schweifen. Der Mensch und seine Welt werden dünn und dünner in Mannsräuschlins Gemüt.

Natürlich hat der Hirsch einen Grund gehabt, nicht davonzugehen. Lang ehe er vor dem Pferde aufsprang, hat er das Heranschreiten gehört und hat im Gras versteckt gewartet, ob die Stute vielleicht ausbiegen und seinen gewohnten Wechsel verlassen wird; denn lange hat ihm der Wind das Herankommen eines Rosses verraten, noch ehe er den Huftritt hörte und das Raufen und den starken Atem im raschelnden Gras. Als Mannsräuschlin aber geradeswegs auf sein Versteck zukam, nutzte es nichts. Da mußte man nachsehen, ob auf dem Pferd das gefürchtete Wesen hockte, dessen Witterung nächst der des Jaguars die böseste ist in der weiten Pampa, und vor der man sonst in hohen Fluchten davonstürmt. Nein! Nichts hockte auf dem Pferd, und die starke Roßwitterung ist friedlich und altvertraut. Ja, wäre man allein, man hätte sich keinesfalls gezeigt. Der Mensch hat keine gute Nase, und die des Pferdes langt nicht weit. Ach, wie oft ist der Mensch hart an einem vorübergetrabt! Man hat sich geduckt, hat natürlich gezittert, hat alle Sehnen und das Herz gespannt, um etwa sogleich auf und davon fahren zu 273 können; hat mit Grausen die schreckliche Witterung nahe herkommen gespürt; hat aus großen und ängstlichen Augen durch das Gehalm auf den undeutlichen langen Schatten gestarrt und den Atem verhalten; und als Schatten und Hufschlag sich entfernten und die Witterung dünn und dünner ward, hat man sich wieder ausgestreckt und gedöst und ist beileibe nicht aufgestanden.

Gut, das mochte so gehen, als man für sich allein lebte. Aber jetzt im Sommer hat man wie alle Jahre her eine kleine Familie, oh, nicht sehr bedeutend, keineswegs etwa wie ein Hengst. Eine feine Frau, mit der man seit Jahren, auch wenn man sich mit den Sippen zu größeren Rudeln zusammentut, friedlich lebt; ein Junges, an dem man mit größter Liebe hängt. Ja, diese zwei hocken da, etwa hundert Schritte rückwärts in einem Grasbusch, und dösen. Das Junge saugt vielleicht gerade und hat natürlich keine Vorstellung, was es für Unglück und Bösheit auf der Welt gibt, und ist gerade bereit, zu bocken, zu spielen, zu meckern. Aber die Mutter, die natürlich längst Ohren und Nase voll von dem herankommenden Pferd hat, murmelt eine ganz heimliche Warnung. Ja buchstäblich: sie murmelt. Der drei Monate alte Übermut aber versteht das sofort, kuschelt sich eng an sie, hat erstaunte und 274 fragende Augen und wagt es kaum, die feinen Ohren zu schütteln.

Sie ist in großer Angst, und ihre Flanken gehen rasch. Sie weiß, daß der Hirsch das Gefährlichste unternimmt, was es in ihrem schönen und sanften Dasein geben kann: den heranreitenden Menschen vom Lager fortzulocken. Mensch? Was weiß das zarte und feine Geschöpf vom Menschen? Sie ist allem Lebendigen, das durch ihr Leben wechselt, scheu und fremd und keineswegs feindselig. Ihr Dasein ist friedfertig und voll einförmigen Behagens, aus dem sie höchstens der Schrei des Jaguars oder Pumas aufschreckt, oder gar zu nahes Klatschen großer Flügel, etwa der schwarzen Leute oder des Geierfalken. Aber ein einzelnes Pferd? Denn weithin hat man keine Herde gespürt? Ein einzelnes Pferd ist eine große Gefahr, soviel weiß sie.

Sie kennt die seltsame und mit nichts zu vergleichende Witterung des Menschen, und die weckt die größte Furcht in ihrem Gemüt. Nie zwar hat sie den Menschen recht gesehen. Aber tief in ihrer Seele ist von den Ahnen her die Kenntnis dieser seltsamen tödlichen Witterung. Wüßte sie es auch, daß eins ihrer Jungen vergnügt und sorglos beim Menschen lebt, sie würde doch die große Scheu nicht überwinden. 275

Ja, das war im späten Herbst, kurz vor der Regenzeit gewesen. Mehrere Rosse kamen das Gras her, und mit ihnen kam die furchtbare Witterung des Menschen. Es hatte nichts genutzt, daß der Hirsch alle Liste aufwandte, um den Menschen zu verführen. Hunde waren da, die auf solche gläubige Künste nicht hereinfielen und unbeirrt ihrer Nase folgten. Da gab es nur mehr Flucht. Nicht weit, o keineswegs! Man hörte noch gut das ängstliche Meckern des Jungen, und dann scholl dieses klägliche Gemecker plötzlich von einem Roß herab, und auf dem Roß saß der Mensch. Man wagte sich nicht nahe heran, man sah nichts Deutliches; nur das feine Ohr sagte einem, daß das Junge immer weiter fort gelangte. Man folgte stundenlang und rief und verhoffte, aber es nutzte nichts. Als dann das Land neu und fremd wurde, und jenseits aller bekannten Wechsel und des gewohnten Lebensraumes, verhielt man und tat sich im hohen Gras nieder. Das Gemüt konnte es nicht fassen, daß das Junge nicht mehr da war und zu saugen begehrte. In der Nacht wanderte man dann unschlüssig und immer verhaltend und sichernd zurück und fand bald den Platz, wo man vor wenigen Stunden noch mit dem Jungen gedöst hatte. Noch war die Milchwitterung des Säuglings fein und deutlich da. Man beschnupperte im Kreis das Gras, 276 tat sich nieder und äugte vor sich hin, lockte einmal ohne rechten Mut, leckte das nächste Grasbüschel ab, das deutlich nach dem Jungen roch. Man begriff nichts und klagte ein-, zweimal leise vor sich hin. Dann hörte man feine vorsichtige Tritte und bekam die Witterung des Hirsches. Da stand er dann plötzlich im auseinander wallenden Gras und beugte sich herab, und man beschnupperte sich. Man hatte sich wieder. Er schritt langsam das Lager aus und zog die Witterung des Jungen ein, warf auf, schüttelte die feinen Ohren, äugte in die Nacht. Lange stand er so gegen den Sternenhimmel, dann tat er sich nieder. Sie beäugten einander und fühlten, daß ihnen Böses widerfahren war. Sie begriffen nicht warum und suchten tagelang das Junge.

Daran erinnert das feine Tier sich jetzt, und die Angst um das vor kurzem geborene Kälbchen ist groß. Sie weiß nicht, wie gut es ihrem Sohn auf der Menschensiedlung geht, und daß er ein übermütiger und aufmerksamer Spielkamerad und längst der Witterung des Menschen anhänglich ist. Wenn sie es sähe, sie begriffe es nicht. Groß ist die Ferne zwischen dem Menschen und ihrer Sippe. Die große Freiheit liegt dazwischen . . .

Jetzt steht die Hindin auf und schreitet langsam der 277 Witterung des Hirsches nach. Sie hat keine Warnung erhalten. Das Junge zottelt neugierig vor ihr her. Da treten sie ins niedere Gras heraus. Mannsräuschlin wirft auf, spitzt und äugt auf die beiden Fremden. Langsam schreitet der Hirsch auf sie zu und beschnuppert zuerst das Junge, dann die Mutter. Beide beginnen zu äsen. Das Kälbchen stellt sich unter die Mutter und saugt. Die Nacht ist da.

Die Stute folgt weidend den Hirschen eine kleine Weile. Im hohen Dürrgras raschelt da und dort der Nachtwind. Das Raufen und Kauen geht durch die große Stille, und manchmal kollert Mannsräuschlin dumpf. Dann werfen die Hirsche auf, und das Junge bockt vor Schreck. Dann tut die Stute sich nieder. Die Hirsche äsen die Nacht hindurch und entfernen sich nicht weit von ihrem Lager. Am Morgen wird man sich bald wiederfinden und tagelang in friedlicher Eintracht nebeneinander leben. 278

 


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