Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Ein Auftritt

Über den tieferen Gründen der Lagune steht seit wenigen Tagen ein dünner Wasserspiegel. Wenn die Pferde überhin schreiten, reicht er ihnen wenig über die Hufe. Wenn sie übermütig zu galoppieren anheben, spritzt lehmiges Wasser weitum. Der laue Regen sinkt Tag um Tag, Nacht um Nacht aus dem niederen Gewölk, und manchmal fährt ein stoßender Südost darein; dann liegen die Regenwände schief, und die Flanken der Pferde schauern wohlig unter dem massenhaften und leichten Anprall der Tropfen. Es geht ihnen gut, und sie leben verschwenderisch die Tage hin.

Mannsräuschlin wächst. Sein dürrer Leib ist runder geworden, und das struppige Fell legt sich über den Rücken schon glatt und glänzend. Der krause Kamm der Mähne biegt sich am Widerrist dunkelbraun, und wann der Wind herfährt, flattert dünnes Haar auf. Das immer wedelnde Schweiflein klatscht triefend schon an die Kruppe. Des Fohlens Milchgesicht ist 113 zwar immer noch voll Staunen über das Dasein; aber ernsthafte Züge um Augen und Wangen sind schon wie Bezirke und Umhegung der Seele da. Aus dem furchtsam hinlebenden, nirgendwo sich versammelnden, grenzlos in der Sippe und dem Leben aufgehenden, zum Sein geheißenen steifbeinigen Es wird allgemach ein stolz versammeltes, sich abzäunendes, im Sein sich fühlendes, leichthin und hoffärtig galoppierendes Ich. Und jeder Tag ist voll Glückseligkeit und wallenden Selbstgefühls und voll von Erlebnissen, die den unendlichen und fröhlichen Raum des Daseins mit großen Bildern und weithin sichtbaren Merken ausstatten.

Oh, welch ein Erlebnis hat Mannsräuschlin gestern um die Mittagszeit gehabt! Oh, was es alles gibt auf der Welt, über der Welt und unter der Welt! Die kleinen Komparsen, die aus den Versenkungen der großen Bühne auftauchen, kennt das Fohlen jetzt ganz und gar. Mit Nase, Auge und Gehör hat es die grunzenden Hamster seinem Gedächtnis einverleibt. Die aber sind auf ihr Stichwort vor Wochen schon abgetreten und schlafen ohne Wissen um Regen und ziehende Nebel. Aber daß es gewaltige Mitspieler des Lebens gibt, die mit Gepolter und riesiger Kraft auf die Szene springen, wenn ihr Stichwort fiel: das hat man der grün hinwogenden Welt nicht angesehen. 114

Um die Mittagsstunde hat es sich begeben. Mannsräuschlin hat sich am Rand der Lagune niedergetan und blinzelt verschlafen über die unabsehbare Seichte hin, auf der das Wasser dünn steht. Der Regen rieselt auf den lehmigen gelben Spiegel, und manchmal bricht ein Windstoß ein, daß das Wasser erzittert. Der schmale Kopf des Fohlens liegt auf einem Grasstock, und die Beine hat es weit von sich gereckt. Die kurzen Ohren spielen nach allen Seiten.

Da bewegt es sich draußen in der Lagune, und es ist, als ob der Wasserspiegel einen Buckel bekäme. Lehmwolken breiten sich gelb und dicht aus. Mannsräuschlin starrt unverwandt auf das Seltsame. Noch aber hat es den Kopf nicht aufgehoben. Was unter dem Wasser sich begibt, hat wahrscheinlich keine Bewandtnis und Beziehung zu einem jungen Pferd. Nur die Ohren spielen nicht mehr; spitz sind sie nach dem sich Ereignenden gerichtet. Jetzt klafft ein breiter Riß über dem Lehmbuckel, daß das Wasser von dem hoch und höher sich Wölbenden zurückwellt. Das Fohlen wirft auf und starrt aus staunenden Augen. Springt man auf? Prescht man davon? Ach was! Warten wir ab! Wir sind so schön satt und faul!

Eine Weile begibt sich nichts. Dann poltern draußen Lehmschollen meterhoch auf und klatschen ins Wasser. 115 Mit einem Sprung ist Mannsräuschlin auf den Beinen. In steifer Grätsche steht es, die Vorderbeine gestreckt, ein wenig in die Knie der Hinterbeine gebeugt, um alsogleich davonschnellen zu können. Heftig schnaubt das Fohlen vor Neugier und halbem Schrecken, und der dünne Schweif ist sehr aufgeregt. Dann ist draußen in der Lagune ein großer Aufruhr. Wasser und Lehm gischten durcheinander, Schollen fliegen massenhaft umher, und der nasse Lehm spritzt weitum. Jetzt peitscht ein gewaltiges Ruder Erde und Wasser himmelan, und unter großem Gepolter sprengt das Krokodil seine Grabkammer völlig auf. Dann tut es ein paar schlurfende Rucke und liegt still und grün blinzelnd wie eine Lehmbank überm gelb wölkenden Wasser.

Wie die starke und unheimliche Witterung in Mannsräuschlins Nüstern gerät und es den nie gesehenen, riesig schlurfenden Leib erblickt, wiehert es kurz auf, wirft sich herum und jagt in gestrecktem Galopp davon. Natürlich verhält es nach ein paar Gängen und sichert gegen die Lagune. Die Neugier ist fast so groß wie der Schrecken. Wahrscheinlich wird es in einem vorsichtigen Bogen wieder an das fremdfremde Ereignis sich heranpirschen.

Der Panzerkerl hat ausgeschlafen. Wie lange er 116 geschlafen hat, weiß er nicht, kümmert ihn nicht. Fast neunzig Jahre sind vergangen, seit er am Rand des unübersehbaren Stroms ins Leben geschlüpft ist. Er weiß davon nichts. Er ist da, war immer da, wird immer da sein. Wenn er in den Tag oder auch in die Nacht grün hinstarrt, umgibt das Leben unendlich seine gepanzerte Seele. Er west in ihm ohne Furcht und Not, ohne Hast und heftigen Willen, in riesiger Sicherheit und gleichmütigem Daseinsglück. Bis gegen sein fünfzigstes Jahr hat er im gelben Strom gehaust, in zahlreicher Sippe, und es ist ihm nie eingefallen, sich in die Erde zu machen. Träg wie seine dumpfe Seele, hat Jahr um Jahr das gelbe Wasser, dessen tiefe Schlammgründe er keinmal aufgesucht hat, weil sie ihn nicht wundern, das Leben ihm herangespült; hat es, die mächtigen Flanken entlang wieder davongetragen, unaufhörlich, gleichmütig, riesig, unendlich.

Dann ist er eines Winters dem überfließenden Strom nachgefahren, in seichtere Bezirke, über fremde Gegenden. Die unübersehbar und randlos sich hinbreitende Welt ist ihm ein Neues gewesen, und die vielen Seichten und flachen Mulden und Sandbänke waren eine willkommene und ernährende Landschaft. Sie waren behaglich zu erschlurfen, man konnte mit einem kleinen Ruck sich wieder ins Wasser begeben. Sie 117 waren so zahlreich, daß man den riesigen Schwanz kaum gebrauchte, um sich einen Platz zu ergattern im Gedräng der Sippe. Auch zu beißen und zu brüllen brauchte man nicht. Man rutschte gemachsam hinan, hatte Sonne, Wärme, Stille, und vermißte niemals das Gurgeln des Stroms. Fraß gab es im Überfluß. Bis nach der Widderwende der Strom sich faßte und die Überschwenglichkeit seines Lebens in die jahrtausendalte Richtung zwang. Dann stand das gelbe Wasser in den Lagunen still, wurde unter der mächtigen Sonne dünn und dünner, bis eines Tages nur die tiefen Mulden es noch hielten, indes die weiten Seichten weißlich zu glitzern begannen.

Wohl hatte der Gepanzerte das Rückströmen und den feinen Zug des Wassers gefühlt. Und daß etwas sich ereignete, merkte er auch an dem Eintreffen vieler Verwandter, die aus entlegeneren Bezirken gegen die tieferen Mulden heranzogen und beunruhigt waren vom Kommenden. Als die den Uralten behaglich in Sonne und Suhle gewahrten, blieben sie, und die Versammlung von Männern und Weibern der Sippe ward täglich enger gepfercht in die von den Rändern her austrocknende Lagune. Aber sie sind die enge Nähe gewöhnt; es ist Brauch in ihrer Sippe, Flanke an Flanke, ja selbst auf dem Rücken des anderen zu dösen. 118 Nur auf Jagd braucht man Raum. Jagd aber war täglich spärlicher geworden; und weil die Sonne täglich höher stieg und die Panzer in dem dünner und faulig werdenden Wasser sich nicht mehr genug abkühlen konnten; weil es nach manchen vergeblichen Suchen nur tödliche Auswege durch die weite sandige Steppe nach dem Strom hin gab; weil der und jener und diese und jene von solchen Wanderungen nicht zurückkehrten: da unternahmen es die Zurückgebliebenen, sich einzugraben.

Uralte Dränge aus Jahrtausenden, da ihre Ahnen, riesiger Größe, sich in die Kreidemergel einpaddelten und viele Monate schliefen, weil sie nur durch Scheintod den Tod zu überlisten hofften; uralte Dränge begannen zuerst in den Seelen der jüngeren Sippen zu wesen. Still und ohne Aufsehen schafften die sich aus der Welt des Lichts und Atems, die ihnen tödlich zu werden anhub. Eines Tages waren sie nicht mehr vorhanden, und das seichte Wasser wölkte schlammig über ihren Grabkammern.

Länger hatte der Alte der Sonne standgehalten. Erst als sie aus dem feurigen Löwen zu herrschen begann und nur mehr ein dunkler und riesiger Fleck feucht im Schlammgrund der Mulde stand, da war in seine schwerfällige Seele das drohende Geheiß 119 gedrungen, sich davonzumachen. Schlamm und Schollen flogen in jener Nacht umher und polterten weithin über den Grund. Der gewaltige Schwanz schleuderte den aufgekrallten Lehm hoch, und gegen Morgen lag der Alte ein paar Zoll tief im Morast. Die gelben glitzernden Augen deckten faltige grüne Lider. Aufeinander gepreßt wie im Krampf lagen die schrecklich gewaffneten Kiefer, nur die Zähne an den vorderen Kanten bleckten weiß. Schwacher Atem ging in langen Zwischenräumen aus den Nasenlöchern. Tief und tiefer sank das umpanzerte Leben an den Tod, und nur ein dünner Wille stand zwischen den beiden Gewalten, die sich in grausamer und höhnischer Schwebe messen. Wenn aber der Tod sich aufreckte, wich in großer List das Leben ihm alsogleich aus, und der Gepanzerte grub in tiefem Schlaf sich tiefer und tiefer, der Feuchte folgend, der Senge sich entziehend. Was Wunder, wenn er in solcher Region, in der von der Sonne zu Stein gebrannten Grabkammer, nach Wochen erst den Winterregen spürt und langsam nur, von den feuchtenden Rändern des Leibes her, das Leben ihm wiederkehrt?

An vierzig Sommer hat er so verschlafen. Keinmal hat es ihn mehr nach dem Strom zurückverlangt. Was Wunder, wenn er ein großes Gepolter veranstaltet bei 120 seiner Auferstehung und junge Pferde in Schrecken und Neugier stürzt?

Jetzt ist er da. Wieder da, wie seit vierzig Regenzeiten. Sein Auftritt ist großartig, wie eh und je. Seine große Rolle spielt er genau und gründlich und mit großer Wucht. Er liebt seine Szene und kennt seine Mitspieler, die er mit wenigen Ausnahmen tötet. Ein breiter Ausschnitt der unübersehbaren und herrlichen Bühne ist ihm zugewiesen; groß und vielfältig genug für seine Rolle. Und er schickt sich an zum ernsthaften Spiel.

Mannsräuschlin hat einen weiten Bogen geschlagen, hat sich nach dem erschrockenen Galopp in kurzen Trab gebracht und ist an den Rand der Lagune zurückgekehrt. Die Herde weidet zerstreut im hohen Gras. Seit das Wasser in den Mulden steigt, meiden sie die Pferde. Sie wissen aus Erfahrung, daß überspülte Gründe tückisch sein können; und weil sie durch das Wasser keine Witterung erhalten, sind sie mißtrauisch. Durst leiden sie lange nicht mehr, und die geliebte Abschwemme besorgt ihnen der Regen lau und wohlig.

Vorsichtig und sichernd durchschreitet das Fohlen das hohe Riedgras am Rand der Lagune. Es findet den Platz, wo es vorhin gedöst hat. Die Halme sind noch nicht wieder aufgestanden, und die eigene Witterung 121 ist trotz des Regens stark. Mannsräuschlin schnauft vor Neugier und halber Furcht, obwohl es ganz sicher ist, daß der Polternde seinen Galopp keinesfalls einholen könnte. So hoch ist das Gras, daß nur der Mähnenkamm über der Stirn und die spitzigen Ohren überhinragen. Dann steht Mannsräuschlin plötzlich am grasfreien Rand und äugt und wittert die weite tiefe Mulde hinauf und hinab.

Da liegt der Polterer. Ho, länger als der alte Hengst, wenn er im Dösen den Hals weit von sich auf einen Grasstock reckt. Eine starke und süßliche und widrige Witterung kommt herüber, wann der Wind blackt. Das Fohlen schüttelt sich und wiehert dünn. Da wendet das Krokodil langsam den Kopf nach dem jungen Pferd, und wie es dies, halbverschlafen noch, ins Auge faßt, dreht es schwerfällig auch den riesigen Leib und schlurft den Schwanz nach, daß das dünne Wasser gischtet.

Jetzt haben sie einander, die beiden so verschiedenen Geschöpfe, die Darsteller so verschiedener Seelen, so verschiedener Süchte und Nöte auf der herrlichen Bühne.

Aus uralten Augen starrt der Gepanzerte ohne Bewegung, ohne ein Lid zu rühren, glitzernd und mörderisch 122 auf das junge Pferd, das aus hochgewölbten, edlen und aus einem viel tieferen Schlaf erst kurz erwachten Augen staunend und beklommen blickt. Durch das seine Geäder laufen Schauer, wenn die Witterung des anderen stärker herüberkommt. Die lüsternen Backenwülste des Krokodils bewegen sich hie und da; dann ist's, als lächle es grausam und frevelhaft in sich hinein. Die breiten Krallenfüße hat es im Lehm stecken, und die riesigen Kiefer sind vom Wasser halb überspült. Häßlich bauschen sich die Flanken, wenn es atmet.

Ho, seid ihr wieder da? Das ist gut! Lang wart ihr fort! (Oh, keineswegs waren die Pferde fort. Aber der Gepanzerte weiß nicht, daß sie über seine Grabkammer galoppierten. Jetzt ist er da, und war immer da. Natürlich waren für ihn die Pferde fort.) . . . Oh, wie ich euch kenne! Wenn ich euch an der Schnauze gepackt habe und zu mir hinabgezogen habe und euch ertränkt! Ho, wie ihr um euch schlagt! Lächerliche Bursche! Mein Schwanz bricht euch das Leben entzwei! Es ist gut, daß ihr wieder da seid! Ich wittere euch gerne! Ihr kommt mir schon zurecht! Schnauf, kleiner Bursch! Das große Wasser kommt, und der Hunger und die Schwäche, und euer täppisches Getue in meiner Welt! Oh, wie ich euch kenne! Ich habe Zeit, habe Zeit! Ihr rennt durchs Leben! Aus dem 123 Leben! Ich nicht! Ich anders! Ich liege im Leben! Auf dem Leben! Ich bin da, ich bin da! Ich! Ich! Arrh!

Vor dem Rachen, den das Krokodil aus dem Bedürfnis, sich zu recken, zu beleben, und vielleicht auch in aufsteigender Gier auftut, erschrickt Mannsräuschlin nicht. Als aber die Kiefer mit einem häßlichen Geräusch, das fremd durch die Regenstille herkommt, sich schließen, wirft das Fohlen auf und trabt langsam davon. Das Gras schluckt es ein. Die hohen Büschel schlagen hinter ihm zusammen.

Bis in die Nacht starrt der Gepanzerte in das Gehalm. Dann verliert er das junge Pferd aus dem Sinn. 124

 


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