Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Der große Schrecken

Unter der furchtbar sich wölbenden Himmelsbläue, unter der schneeweißen dröhnenden Sonne bedrängt stumme Lebensangst die Pferde. Die Führer vieler Trupps haben sich zusammengetan, und es ist nun eine Herde von mehreren hundert Pferden, die, in hohe Staubwolken gehüllt, die Pampa durchschweift.

Sie sind weiter westlich gezogen, wo hügelige Ausläufer der Gebirge in die Grasöde dringen. Da und dort stehen kahle Felsen; tiefe Erdrinnen mit steilen Abhängen furchen je und je das Land. Baumgruppen sind häufiger, aber sie geben nur dünnen Schatten, und im trockenen heißen Nordwest rascheln sie mit verstaubten Ästen.

Die beiden Stuten halten sich nahe beieinander, und ihre Fohlen folgen ihnen so genau, daß die Schweife der Mütter ihnen über die Milchgesichter wedeln. Die schmalen Hufe versinken bis an die Sprunggelenke im Sand, der von den voraustrabenden Hunderten klein zerbröselt wird. Lange hat auch die hohe braune 58 Stute keine Milch mehr, und der bald halbjährige magere Hengst zottelt halbverschmachtet neben Mannsräuschlin hin, das längst gelernt hat, für sich selber zu sorgen und hängenden Kopfes, dünn schnaubend, ängstlich ob der riesigen Versammlung und doch vertrauensvoll der Mutter folgt. Die wendet manchmal den Kopf nach dem Fohlen, das dann gleich aufgaloppiert und sich abschnuppern läßt. Es hofft auf etwas, und vor solcher Zärtlichkeit wedelt das dünne Schweiflein gleich übermütig. Aber es hat umsonst gehofft. Die Stute trabt langsam weiter. Enttäuscht steht das Fohlen und drängt sich dann hinter die Kruppe der Mutter. Dumpfes Poltern dröhnt zum gleißenden Firmament.

Stundenlang verhalten die führenden Hengste, und die Herden weiden, weithin sich ausbreitend, stampfend, schnaubend, heiser kollernd, in Staub gehüllt und von Fliegenschwärmen umbraust.

September ist. Von Hunger abgezehrt, struppig von Durst und Staub, erschöpft von tagelangem Traben und schlaflosen Nächten, überkommt die Pferde mählich eine große Lebensbeklemmung, und ihre streng gespannten Nerven erzittern unter dem hohen Druck so unbarmherzigen Daseins.

Was für Bilder in ihre Seelen aufsteigen; welche Schrecknisse in ihr Gemüt einbrechen; vorzeitliche 59 Erinnerungen oder geheime Aufflutungen des hinhetzenden Lebensstroms; magische Wirkung der Himmelslichter und großen Gestirne, die durch die feurigen Häuser rollen und denen sie untertan sind, mehr als andere Tiere: eines dröhnenden Mittags tut der älteste der Hengste einen heiseren gellen Schrei, wirft sich hoch auf und stürmt polternd und laut schnaufend in gestrecktem Galopp in den Horizont. Seine Stuten und Jährlinge folgen sofort. Aufgellend stürzen der Rote und die anderen Führer nach, und in entsetzlichem Schrecken, in ausbrechendem Wahnsinn rast die Herde die Steppe hin, in panischer Flucht vor etwas Furchtbarem, das, aus den wilden Fluten des Lichts, der dampfenden Erde, der Angstströme aus so vielen verschmachtenden Leibern und erschöpften Seelen ausbrechend, in dämonischem Wirbel sie plötzlich umnachtet.

Zerstampft ist das morsche Gras; zerfetzt die Dornenhecken und Gesträuch; zertretenes Kleingetier, überrannte Schafe, gehetzte Pampahirsche und Rinder; wild hinstürmende Strauße. Heiseres Gebrüll dringt minutenlang aus dem Gedröhn und erstirbt in Geächz. Zu spät ist der Jaguar geflüchtet. Blutend und zertrampelt liegt er in einer Sandmulde, und die Fliegenwolke geht über ihm nieder. Kreischend folgen die 60 Rabengeier der hinpolternden Herde. Die wissen, daß Festzeit wird.

Hin stürmen die Pferde. Die Angst steigt mit der Erschöpfung. Felsen stehen im Weg. Dahinter ein ausgedörrter Bachrunst zwischen steilen Ufern. Was wollen Felsen und Schründe? Feuer des Wahnsinns sind die dunkelbraunen Augen. Nichts sehen sie, nur Weite, Weite, Flucht. O tödliche Lust der Leiber und Seelen, die vor dem Leben selber hinstürmen! . . . Krachend zerschellt der älteste Leithengst am Felsen. So furchtbar ist der Anprall, daß der Nacken bricht, der Schädel zertrümmert; eingestoßen ist die breite Brust. Kein Schrei, kein Aufbäumen! Wie vom Blitz getroffen schlägt er hin. Über ihn stürmen die Stuten, zerbrechen, zerschmettern. Seitlings brechen vor dem sich wälzenden Haufen die neu und neu Anstürmenden aus, stürzen die Hänge hinab, überschlagen sich, schreien gell aus blutenden Mäulern, zucken mit gebrochenen Gliedern, aufgerissenen Leibern. Hinweg, hinweg! Über die Gefallenen und Stöhnenden poltern die Reste der Herde. Als die Fohlen, die solchen Fluchten nicht gewachsen sind, herangaloppieren, verhalten sie bäumend mit den wenigen Stuten und Jungpferden vor dem Hang und sehen die anderen den jenseitigen Rand hinaufklimmen; indes die drüben Angelangten weite 61 Bogen tun, sich scharen und allmählich in langsameren Gang fallen.

Schnaufend und bebend, mit fliegenden schweißtriefenden Flanken, die weiten Nüstern gebläht, in Gesicht und Auge noch das Flackern und Zucken der Raserei, mit peitschenden Schweifen und stoßenden Lungen, traben sie kurz hin und her, feindselig und fremd aufeinander schauend, zögernd im Schnuppern sich erkennend oder sich meidend, je nach der Verschiedenheit ihrer Herdenzugehörigkeit. Wenn sie auf die Toten und Verwundeten schauen, schnauben sie wild und schütteln die Hälse, werfen wiehernd auf und jagen davon. Sie begreifen nichts; sie zittern schrecklich. Entsetzen und Schmerz geht durch ihre Seelen. Es ist, als ob der Fluch: »Disteln und Dornen sollst du tragen«, der über diesem weiten Land zu dräuen scheint, über die Seelen dieser vertriebenen, ausgesetzten und ihrer schöneren Heimat beraubten Tiere Gewalt bekommen hätte. Unergründlich sind die Schächte, aus denen ihr Wahnsinn sich erhob.

Die Hengste, soweit sie noch leben und heil sind, gewinnen zuerst die Besinnung. Sie locken und befehlen ihre Stuten. Es gehorchen ihnen die Hörigen ihrer Herde. Die, deren Führer tot oder wund sind, schnauben um die röchelnd Liegenden und den Hang 62 hinab. Viele Tage wird es dauern, ehe sie neuen Führern gehorchen; viele Tage lang werden herrenlose Stuten und Fohlen ziellos die Pampa durchschweifen und wiehernd den Führer suchen. Zweifelnd nur und mißtrauisch werden sie jetzt, im frühen Herbst, die Botmäßigkeit jüngerer Hengste, die sich zu Herren aufwerfen werden, anerkennen.

Tot ist die hohe braune Stute, und der kleine Hengst ist verwaist. Mannsräuschlins Mutter war zu schwach, dem rasenden Galopp bis ans Ende zu folgen. Kurz vor dem Abhang versagte ihre Kraft, und sie fiel in kurzen Trab. Ihr Fohlen war weit hinten und holte langsam auf. Jetzt stehen die drei hochatmend da und schnuppern Blut und Schweiß.

Dann hört die Stute das Gewieher des Roten, der von drüben her ruft. Da müht sie sich, über den Hang zu kommen. Scheu und vorsichtig, keines der verwundeten und toten Pferde mit dem Huf berührend, findet sie einen Weg. Mannsräuschlin folgt ihr zögernd, ängstlich mit den Ohren spielend und behutsam auftretend. Das verwaiste Hengstlein, das nirgend die Mutter wittert und hilflos dasteht, wiehert dünn, als es die Stute und das Fohlen davonschreiten sieht. Da wendet die Stute den Kopf und lockt es. Steif und furchtsam folgt das Verwaiste. 63

 


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