Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Großmutter

Gegen Abend aber machen die beiden Fohlen sich furchtsam wieder zu ihren Müttern, deren Gewieher sie deutlich heraushören aus der Herde.

Wie die Wochen gehen, steigen Hunger und Durst in der Herde. Die älteren Tiere wissen es und beugen ihre Nacken unter das Unvermeidliche. Hängenden Halses stehen sie in stummen Gruppen, eingehüllt in Wolken von Staub und Fliegen. Stundenlang ist nichts zu hören als das Peitschen der langen Schweife, das Aufstampfen der Hufe, dumpfes Schnauben, und manchmal ein heiserer Aufschrei, wenn der Stich einer Bremse besonders schmerzhaft war.

Die Jährlinge verlieren den Übermut höchstens während der Mittagsstunden. Sonst treiben sie schwitzend und schnaufend ihre wilden Spiele im raschelnden Gras. Am liebsten wälzen sie sich auf dem Rücken, schütteln die Beine gegen den Himmel, liegen eine Minute, wie um sich zu besinnen, was es nun geben könne, springen, von irgendeinem Einfall erfaßt, 52 plötzlich auf, galoppieren ein paar Längen und weiden dann das dörrende staubige Gras. Die zahmsten Dinge tun sie mit einem großen Aufwand von Kraft und Wildheit. Die Welt ist ihnen zu eng, das Leben bricht über die Dämme.

Die Jüngsten staunen diesen Burschen nach, wo sie sie erblicken, möchten mittun, werden nicht ernst genommen und taumeln zwischen Geburt und Dasein immer noch unbeholfen und schüchtern hin; wissen es nicht, ob sie näher der ersteren oder dem Kommenden sind.

Mannsräuschlin hat jetzt alle Schneidezähne und auch die Eckzähne. Das glänzende weiße Milchgebiß ist da. Ohne Kummer und Schmerz, ganz friedlich ist es gekommen und wird ebenso friedlich wieder gehen. Oh, Mannsräuschlin hat Zeit, bis es sein ordentliches Zahngerüst fürs lange Leben sich anschafft. Zum Abweiden des brüchigen Grases braucht es fast nur die Lefzen, und sonstwie zu beißen hat sein sanftmütiger Sinn keine Absicht. Sein Fell ist immer noch struppig, und die kleine Mähne steht aufrecht, dunkel und lächerlich trotzig zu dem Milchgesicht. Der kurze dünne Schweif ist in fortwährender Unruhe; er langt noch nicht die mageren Flanken hin, und das Fohlen wirft sich vor den größeren Surrern lieber gleich auf den 53 Rücken. Als es die ersten Stiche bekam, scheute es entsetzt, bockte und feuerte aus, und wußte nicht, wer ihm übelwollte. Später begriff es, daß die Schwirrer stechen. Da bockte es schon, wenn es das Gesurr hörte. Aber das nutzte ihm ebensowenig wie den anderen. Der lange Schweif der Stute fegte ihm den Rücken, und das tat gut. Seither hält es sich in den heißesten Stunden bei der Mutter. Die wedelt freundlich und unermüdlich, trotzdem sie schwach und matt sich fühlt und sich selbst den Stichen der Bremsen aussetzt.

Stundenlang treibt Mannsräuschlin sich mit dem Hengstfohlen umher, das sein Milchgebiß noch nicht fertig hat. Es saugt noch ein und das andere Mal am Tage bei seiner Mutter, die größer und stärker und um sieben Jahre älter ist als Mannsräuschlins Mutter. Dabei begleitet das Stutenfohlen den Kameraden einmal. In weiter Grätsche stellt es sich hin und schaut dem Schmatzenden zu. Die Stute beschnuppert den kleinen Fremdling, den sie recht gut kennt. Sie wiehert freundlich und leise auf, als sie Mannsräuschlins Witterung deutlich hat. Die kennt sie ganz genau. Es ist die nämliche und sanftmütige Witterung, die vor mehreren Jahren ein Stutenfohlen von ihr hatte. Seither hat sie nur mehr männliche Kinder gehabt. Natürlich ist dieses Junge aus ihrem Stamm! Sie 54 täuscht sich nicht. Nach einem Dutzend Jahren noch hätte sie die nahe Verwandtschaft gespürt. Freundlich schnaubt sie über dem schmalen Rücken Mannsräuschlins, und als dieses ein paar Schritte von ihr tut, schreitet sie ihm nach. Das nimmt der kleine saugende Hengst übel und bockt davon. Mannsräuschlin verhält; und weil die Witterung des Euters sehr lockend ist, macht es sich vorsichtig unter die hohe Stute. Ganz geheuer ist ihm nicht. Es weiß gut, daß sie nicht seine Mutter ist; aber es hat ein argloses Gemüt, und das Gute im Leben ist natürlich immer gut gemeint. Die Stute dreht den Kopf nach der struppigen kleinen Kruppe, die da an ihre Flanke sich drängt. Sie hat das Milchgebiß wohl gewahrt und ist besorgt, ob das Fohlen sie nicht verletzen wird. Aber weil dieses sehr behutsam und glücklich den peinigenden Durst stillt, hält die Stute aus und freut sich über den zarten Fremdling, der ihr Enkelkind ist. Als dann der eigene Sohn herantrabt und staunend vor der Gruppe verhält, entzieht sie Mannsräuschlin das Euter, und gleich macht sich das Hengstlein an sie. Dann trollen sich die beiden Fohlen, wiehern dünn, bocken vergnügt und wälzen sich im hohen Gras.

Die Großmutter und Mutter schaut ihnen aus guten großen Augen nach und hat schöne Bilder vergangener 55 Jahre in ihrer Seele. Regenzeiten und heiße Sommer sind gekommen und gegangen. Ihre Söhne und Enkel sind draußen am Rand der Herde. Der Älteste hat es im Frühling gewagt, gegen den Führer sich zu empören.

Das jüngere ihrer beiden Stutenfohlen – es war etwa drei Jahre alt – hatte der alte Hengst im verflossenen Frühling aus der Herde gejagt. Sonst hatte er nie genug Frauen um sich gesehen. Vielleicht hatte er ein Einsehen mit den Junghengsten, die tagelang draußen im Weiten wieherten und wild umherpolterten. Mau mußte ihnen Gesellschaft geben. So war es wohl. Oder nicht? War er älter geworden? Bedrängte so viel Jugend in der Herde sein Leben? Sie hatte seinen Kampf mit ihrem Sohn genau beobachtet. Zwar hatte er den Jungkerl leicht abgeschlagen. Aber hernach hatte er lange geschnauft und ihm keinen Haß nachgeschrien. Dumpf hatte er vor sich hingekollert und sich dann niedergetan. Wenn er vorbeitrabte, war die Witterung nicht mehr kühn und herrisch. Er wurde alt. Wahrscheinlich wurde auch sie alt.

Sie galoppierte kurz an. Sie landete neben Mannsräuschlins Mutter, die sie vor mehr als einem halben Dutzend Jahren dem roten Hengst geboren hatte. Ein Trupp Jungpferde stürmt an den zwei Stuten 56 vorüber. Söhne, Töchter, Enkel, Urenkel. Ernsthaft, die Mähne schüttelnd, schaut die braune hohe Stute den Hinpolternden nach. Dann schnuppern die zwei Mütter sich flüchtig ab und weiden gemachsam das verdorrte Gras.

Die lichte und unendliche Bahn des Lebens wird weit draußen in der Unermeßlichkeit zum Kreis. 57

 


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