Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Auf Wanderung

Die Erinnerung an ihre jährlich überschwemmten Weiden ist bald nach den ersten Regentagen in den Seelen der älteren Pferde lebendig geworden. Vergessen vor den herschwemmenden Nöten des Winters sind die Nöte, die die Sonne ihnen bereitete. Kurz sind die freundlichen Zuneigungen der Gestirne über dieser großen ausgesetzten Landschaft der Erde. Allem Getier und Gewächs sind zwei kurze Spannen zugemessen, sich zu stärken für den Kampf mit der Gewalt und Grausamkeit und dem großen Hohn der Vernichtung.

Die Sonne wendet mählich gegen den Widder. Woche um Woche gießt der Regen, und keine Stunde des Tags oder auch der Nacht hört das einförmige Rauschen auf. Tief liegt das Firmament über der Erde, und den nahen Horizont dichten gelbe schmutzige Nebel ab. Der Regen ist kalt geworden, und ein steifer Südost, der vom Meere herüber kommt, jagt den bissigen wider die Flanken der Pferde, wenn sie in langem 125 Zuge, eins hinter dem anderen, mit hängenden Hälsen, triefenden Leibern, unfrohen Schritts über das regnichte dämmernde Land wandern. Sie streben zu den höher gelegenen Weiden, wo das Wasser vielleicht noch nicht über die Sprunggelenke reicht; wo sie sich niedertun können, ohne zu ertrinken.

Mannsräuschlin zottelt mit den Jährlingen hinter den Erfahrenen her. Es begreift den immerströmenden Regen nicht, und in seinem Gemüt glaubt es, daß die Sippen wandern, weil sie Plätze wissen, wo man wieder trockenes Futter und trockenes Lager findet. Das Fohlen friert in den langen Nächten, und keine Sonne trocknet es am Tag. Das triefende Gras fegt die Flanken hin und klatscht ins Gesicht, wenn es hinter den Vorausschreitenden wieder sich aufrichtet. Von der Stirnmähne rinnen dünne Wassersträhnen über das weiße Mal und verschwemmen die Augen. Dann schüttelt Mannsräuschlin ungeduldig den schmalen Kopf und schnaubt heftig. Eine dünne Dampfsäule geht aus den feinen Nüstern. Stundenlang trottet das Fohlen in der wandernden Herde, umwallt von der sicheren Witterung der Sippe.

Auf den Ästen der da und dort im Wind wankenden Akazien hocken Leib an Leib die Rabengeier und erheben ein zorniges und süchtiges Geschrei, wenn die 126 Pferde vorüberziehen. Wenn sie nahe herankommen, klatscht der und jener der schwarzen Leute auf und zieht kreischend drohende Schleifen über den Rücken der Pferde. Aus lüsternen Augen, die Gierhälse gereckt, starren sie und schmähen hinter den Wanderern her. Genau beobachten sie, ob sieche oder lahmende darunter sind. Wehe denen! Witterung von Verwesung und Niedrigkeit des Leibes geht von ihnen aus. Vorüber schreiten die edlen Pferde.

Es gibt Mulden und tiefere Wasserläufe, die der Hengst vorsichtig mit den Vorderhufen durchtastet. Einzeln, schnaubend, suchenden Halses folgen die Stuten, und keins der Jährlinge und Jungpferde unternimmt es, seitlich auszutraben. Inmitten der Not des Daseins werden diese Jungen aus hochfahrenden einzelnen geduldige Sippengänger.

Dichte Nebel brauen heran, und die Richtungen des Lebens verwirren sich für viele Geschöpfe. Nicht aber für die Pferde. Genau kennt der Leithengst den jahrlang verfolgten Weg, den er der Herde voraus ins höhere Land schreitet. Jede der Stuten und viele der Jungpferde fänden sicher dahin, auch ohne den Führer. Wenn der Hengst stundenlang verhält und die Herde versammelt, dann wissen die Pferde genau, daß nur eine Rast gemeint ist. Oh, keinesfalls hat er den Weg 127 verfehlt oder ist seiner ungewiß. Alsogleich merkten dies die Hinterherschreitenden. Gewieher und Zögern, heftiges Schnauben und vielleicht ein Anfassen der Mähne mit dem gelben Gebiß brächte den Irrenden auf den gewohnten Weg. Vielleicht aber glaubten die Stuten auch, daß seine große Erfahrung und Klugheit dem Hengst einen anderen Weg weise. Und wahrscheinlich schlügen sie diesen nach längerem Zögern ein.

Vor einer breiten Lagune verhält der Hengst. Sie ist viele Kilometer lang, und der Umweg zu den fernen Hügelgeländen kostete die Herde zuviel Zeit. Man weiß nie, wann das große Wasser kommt, das einem bis an den Bauch steigt, und man muß rechtzeitig die höheren Bezirke erreichen.

Scharen von Sumpfvögeln klatschen auf, als der sichernde Hengst an den Rand der Lagune tritt. Schilfgebüsch steht weit hinein, halb vom Wasser umspült. Wie die Herde aufholt, stoßend und schiebend am Rand verschnauft, gewahren die Pferde ein Jungrind, das brüllend im Wasser draußen liegt und seltsame gleitende und rutschende Bewegungen über den seichten Grund einer Sandbank tut. Es ist, als ob es hingezerrt würde. Die Beine sind im schlammigen Gischt unsichtbar. Eine Weile sichern die Pferde mit vorgelegten Ohren gegen das Seltsame, dem sie Gefahr für sich 128 selber sogleich anmerken. Der Hengst und die Stuten wissen, was sich begibt. Als dann plötzlich ein Panzerkerl auftaucht, sich an das Brüllende heranschiebt, in dessen Schnauze sich verbeißt, wird aus dem Gebrüll ein gurgelndes Stöhnen. Dann zieht er den Kopf des Kalbes hinab und ertränkt das Wildzuckende. Als jetzt in Gischt und Schlamm an den Beinen des um sich Tobenden mehrere solcher Kerle – oh, nicht besonders große! – hängen und zerren; und immer mehr flache Schädel im Seichten auftauchen und aus grünen Augen glotzen: – oh, sie sind vor Wochen aus den Grabkammern gestiegen und bewähren sich wacker im Leben! – da nimmt der Hengst im Trab den Weg unter die Hufe, und die Herde poltert erschrocken und ungewiß, was werden soll, hinter ihm her. Die Jungpferde und Fohlen haben des Ereignisses nicht sonderlich geachtet. Die Witterung ist übers Wasser her, im Regen und nassen Gras und stößigen Wind dünn und ungewiß; solche Fährnisse haben sie noch nicht erlebt; Gebrüll von Rindern ist ihnen wohlbekannt. Neugier ist bei Kälte und engem Dasein nicht groß; der Führer und die Stuten kennen das Leben und seine Wege; somit Gott befohlen! Man trabt wieder einmal munter, und vielleicht ist das Dasein bald wieder unter der Sonne. 129

Dann hat Mannsräuschlin ein Erlebnis. Die Herde verhält weiter oben am Ufer der Lagune, wo der Hengst eine Furt weiß. Die Pferde sind müde und hungrig und zerstreuen sich zur Weide im hohen Gras. Das Fohlen zottelt zwischen den Stuten hin und rauft unlustig die nassen Halme. Sein Milchgebiß kommt schwer zurecht, das zähe Gras zu schneiden. Brust und Kopf sind über und über besprüht vom triefenden Gehalm. Inmitten eines breiten Grasstockes liegt ein flacher niedriger Block, und um diesen Block ist das hohe Gras weiterhin wie niedergetreten. Regenlachen stehen dünn über dem Lehmboden.

Mannsräuschlin ist müde und tut sich auf dieser flachen Insel in der Graswildnis nieder. Die Herde weidet schnaubend in der Nähe und entfernet sich zeitweise. Dann bebt der Grund leicht unter den fernen Huftritten. Der Wind saust schwach, und das Regengeplätscher schafft eine eintönige Stille. Weil der große braune Block vom Wasser nicht überspült ist, reckt das Fohlen den schmalen Kopf aus, so daß es mit der halben Wange und den Nüstern auf ihm liegt. So kann es atmen, ohne Wasser in die Nase zu bekommen. Einen Augenblick ist eine neue und seltsame Witterung da. Aber auch die sommerlichen Blöcke hatten seltsame und verschiedene Witterung, je nachdem ein Hamster 130 oder ein Geier oder die Pampakatze oder Gürteltiere und Schlangen auf ihnen und neben oder unter ihnen ihr Wesen gehabt hatten. Überdies verschwemmt der Regen die Witterung ins Ungewisse, und Mannsräuschlins feine Nüstern sind bis ins zarte Geäder hinauf übersprüht.

Eine Weile liegt das Fohlen. Da reckt sich aus dem Block ein flacher Schädel; ein wulstiger grauschwarzer Hals kommt hinterher. So heimlich und ohne Aufsehen geschieht das, daß Mannsräuschlin, welches vor sich hin döst, dessen nicht gewahr wird. Erst als die fremde Witterung des Schädels und Halses und Atems zu ihm dringt, hebt es den Kopf und äugt auf das Lebendige, das da unter dem Block hervor sich reckt. Neugierig und erschrocken schnaubt das Fohlen. Da verschliefen Hals und Schädel im Augenblick, und alles ist wie vorher. Aber des Fohlens Mißtrauen ist rege. Man kümmert sich zwar selten und höchstens aus Neugier um fremde Leute; man will ihnen nicht wohl und nicht übel; sie sind eben da, wie man selber da ist. Aber man weiß nie genau, was ein anderer vorhat.

Mannsräuschlin steht auf, umschreitet den Block einmal, verhält, schnuppert in den finstern Schlund, aus dem die Witterung stark und fremd kommt. Soll man sich davonmachen? Keineswegs! Es gibt was Neues 131 fürs Gedächtnis, eine neue Merke im Leben ist da. Ho, man lebt zwischen Merken in der großen Weite des Daseins. Natürlich wird man immer mehr man selbst, wird immer mehr ein Pferd, je mehr Lebendige man gewahrt, die dies nicht sind.

Das Fohlen hebt neben der großen Schildkröte an zu weiden und behält die Seltsame seitlings im Aug. 132

 


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