Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Sintflut

Die Herde hat weit oben die Furt durchwatet und zieht jenseits der Lagune in gleichförmigem Paßgang. Der Nebel ist stundenweise so dicht, daß der Hengst vor einer plötzlich und gespenstig dastehenden Akazie schnaubend zur Seite poltert. Dann, wie um sich vor dem Baum zu behaupten, rauft er von den tieferen Ästen ein paar der feinen gefächerten Zweige. Die Landschaft ist unkenntlich, und nur die feinen Sinne leiten die Pferde.

Unaufhörlich rauscht der Regen. Mühselig ist das Schreiten durchs zähe triefende Gras, das die hohen Flanken der Pferde hinstreift. Die Fohlen haben große Mühe mitzukommen und wiehern oft dünn und unmutig, als bäten sie um Einsehen. Aber der Hengst weiß, daß er sie sicherem Tod entführt.

Ein jähriges Hengstfohlen hat vom nassen Futter und nassen Lager Kolik bekommen. Seit Tagen schleppt es sich unter großen Schmerzen und kraftlos hin. 142 Immer öfter bleibt es hinter der Herde zurück, tut sich nieder, springt erschrocken auf, wenn das Stampfen der Sippe undeutlich wird, und holt in kleinem Galopp auf. Dabei verhängt es sich im zähen Riedgras und stürzt, überschlägt sich; wie es schnaufend und kollernd aufsteht, hat es auf Minuten die Richtung verloren. Es wiehert dünn und überaus ängstlich. Dann bringt ein Windstoß die Witterung und den fernen Hall des Gewiehers der Herde heran, und das Erschöpfte und vom Krampf Abgemagerte läuft den Sippen nach.

Eines Morgens dann – die Pferde tun sich nachts nicht mehr nieder, weil zollhohes Wasser über allen Gründen steht – kommt das Fohlen der aufbrechenden Herde nicht mehr nach. Die Krämpfe haben es niedergezwungen, und wenn sie anpacken, stöhnt das Liegende und wirft die Beine wie im Austraben. Eine der Stuten kehrt um und beschnuppert das Hilflose, umschreitet es schnaufend, wiehert, tritt von ihm weg, lockt es leicht kollernd. Weil das Kranke nicht aufsteht, schüttelt die Stute sich und trabt der Herde nach. Die ist schon fern, und kein Laut, keine Witterung kommt zu dem Verlassenen. Dann wiehert es furchtsam, steht auf, zittert vor Frost und Schwäche, tut ein paar schwankende Schritte im Kreis, spielt die Ohren nach allen Seiten und hört nichts als Regen und den Wind im 143 rauschenden Gras. Wieder überfällt es der Krampf, daß es kollernd sich niedertut. Schlammiges Wasser spritzt umher und übersprüht das Fohlen. Die braunen Augen sind wie aus Glas und starren vor sich hin in die dunklen Halme, in denen das Wasser gluckst. Der Atem geht rasch und stoßend, und weil der Kopf im Wasser liegt, muß das Verendende husten. Dann reckt es den Hals nach einem Graspolster, das noch nicht überspült ist, um den Kopf darauf zu legen. Aber es hat die Kraft nicht mehr, sich hinzuwälzen. Vor Schwäche verliert es das Bewußtsein und ertrinkt, erstickt rasch. Es ist nicht sicher, ob die Rabengeier den Tod des Fohlens genau abwarten. Aber nach zwei Tagen hocken sie mit dicken Bäuchen und behaglich gesträubtem Gefieder, Leib an Leib auf den Ästen naher Akazien und können sich nicht genug tun in lautem übeltonigem Preis der ausgezeichneten Mahlzeit. So rund ist das Dasein in der großen ausgesetzten Landschaft, wo es seine Herrischkeit bewährt, ohne überlistet und vergewaltigt zu werden.

Dann ist eines Nachts schleichendes Gurgeln um die Pferde. Sie haben sich in der Dämmerung um eine Baumgruppe versammelt, die dem Hengst alle Jahre her als Merke im Gedächtnis war. Erschrockenes Schnaufen und Gewieher geht durch die Herde, 144 die seit vielen Nächten stehend, hängenden Halses geschlafen hat. Die älteren Pferde haben sich bald daran gewöhnt, stehend zu schlafen, wie in allen Regenzeiten, und der Schlaf stärkt sie doch. Die Jährlinge aber können es lange nicht begreifen, daß man sich nicht mehr niedertun soll. Immer wieder versuchen sie es und springen prustend, die Nüstern voll schlammigen Wassers, auf. Sie drängen sich eng aneinander und legen die müden Köpfe einander auf die Nacken. Kurz und unruhig ist solcher Schlaf, und die hochgespannten Nerven werden nur durch den eintönigen Regen und laschen Luftdruck niedergehalten. Sonst vielleicht überfiele die Ausgesetzten und Frierenden jene Lebensangst, die sie unter der dröhnenden Sonne in den Wahnsinn hetzt.

Als es grau tagt, ist der kurze nebelverhängte Horizont eine gelbe gurgelnde Wasserwüste. Der große Strom im Norden ist vor mehreren Tagen über seine Dämme getreten, und heute nacht haben seine Fluten die Region der Pferde erreicht. Jetzt ist das Leben nur mehr ein Trotz und Sichbäumen gegen den Tod. Jedes Behagen, jede Lust und Weite des Daseins sind von kalter tückischer Vernichtung zugedeckt, Weide und Schlaf nur mehr mühselig zu erreichen und vielleicht eines Tages auch sie im Unübersehbaren ertränkt. 145

Unaufhörlich schüttet der Regen sich aus, kalt stößt der Südost her. Vom gelben Gischt hoch umsprüht wandert die Herde durch die Wasserwüste. Wo es geht, setzt der Hengst sich in Trab. Dann sind Kaskaden aufspringenden und niederstürzenden Wassers um die hintrabenden Pferde. Jedes der Jährlinge hat sich an eine Mutterstute herangemacht, und wenn die ein eigenes Fohlen hat, ist sie jetzt von zwei ängstlichen, schnaubenden Milchgesichtern umgeben. Die Mütter kennen die Not der Jungen, und wo es geht, nehmen sie sie in die Mitte. Dann ist die Reihe zerlöst. Hinterher zotteln unwirsch und verängstigt die Junghengste und die zwei- und dreijährigen Stuten.

Dann steigt eine Bodenwelle an, und wie die Herde auf der Grasfläche sich versammelt, haben die Pferde seit vielen Tagen und Nächten wieder Grund unter den Hufen, der nicht überschwemmt ist, wenn er auch vom Regen durchnäßt und zerweicht ward. In großer Erschöpfung tun sie sich nieder und rasten viele Tage, weiden die Spitzen und helleren Büschel des üppigen hohen Grases und kommen wieder zu Kräften und neuem Vertrauen. Unaufhörlich regnet es.

Mannsräuschlin ist stundenlang gelegen, den schmalen Hals auf einem Büschel niedergetretenen Grases, die Beine weit von sich gereckt. Der Atem geht 146 stoßweise und dampfend von ihm, und manchmal fliegen Fröste über das nasse ruppige Fell. Wieder und wieder weidet es und tut sich in der Sippe um, beschnuppert sich mit den Mutterstuten, verhält eine Weile neben dem großen Hengst, wie um ganz sicher zu sein, daß der da ist, und macht sich dann wieder zu der hohen Stute, von deren breiten warmen Flanken und ruhigem Atem es auf der weiten Wanderung Mut und Vertrauen gewonnen hat.

Dann schreitet der Hengst eines Morgens ins Wasser hinunter. Wie die Herde schnaubend und ungewiß, was nun werden soll, ihm nachsichert, sieht sie ihn bis ans obere Sprunggelenk im Wasser waten. Vorsichtig schreitet er aus. Als er nach vielen Seiten hin den Grund geprüft hat, tut er den Befehlsschrei. Die heimliche und überwältigende Magie der Erde, des Daseins, des Lebens zwingen seine Seele, so und nicht anders zu tun, und ist keine Überlegung in ihm, nur eine helle und deutliche Voraussicht, ein klarer Befehl. Den gibt er weiter.

Ernsthaft und ohne zu zögern schreiten die Stuten ins Wasser. Seit Tagen ist auch in ihnen die Weisung zum Aufbruch lebendig. Aber weil der Hengst da ist, bleibt diese Weisung verhohlen in ihrem Gemüt. Wäre der schwerkrank oder tot, so würden sie sie vernehmlicher 147 empfangen und ihr gehorchen. Aber weil er lebt und befiehlt, ist nur der selbstverständliche und sofortige Gehorsam seinem Rufe da.

Die Jungpferde bocken den Wasserrand entlang, ehe sie schnaufend und die Hälse schüttelnd sich entschließen, den ernsthaften Sippen zu folgen. Mannsräuschlin hat eine Weile in steifer Grätsche neben der hohen Stute verhalten und den gelben Gischt beschnuppert. Zögernd und tastend hat es die mageren Vorderbeine ins Wasser gestreckt und vor dem Aufspritzenden dünn gewiehert. Als ihm das Wasser fast bis an die Brust steht, verhält es und wendet sich, wie ungläubig, daß dies sein muß. Weil aber die Stute ruhig ausschreitet, weil vorne, schon undeutlich im Nebel, der Hengst groß einhergeht und manchmal laut ruft, weil die Reihe der Sippen ruhig und unentwegt ihm folgt: faßt das ängstliche Fohlen Mut und zottelt, den schmalen Kopf nahe an der Kruppe der Stute, ins Ungewisse und Unübersehbare hinaus. 148

 


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