Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Die Fremdlingin

Dann treten die Wasser rasch zurück. Die wenigen Bäume tragen deutliche gelbe Merken des Wasserstandes, und ihre niederen Äste und das Gesträuch sind allenthalb behängt mit verwesendem oder dörrendem Triftgut.

Eines Tages, zu Beginn des Mai, springt der kalte Südost um und weicht einem trockenen warmen Nordwest. Wenige Tage nur fährt der über die Steppe, und wenn er zuerst das feuchte morsche Gras hinbog, widersteht es ihm bald und raschelt trocken in seinem Wehen. Dann schießen neue Gräser auf, und eines Morgens steht der heftige und kurze Frühling über der Pampa, hüllt sie in Duft und laues Gelüft, und mit ihm kommen seine blitzenden und buntgeflügelten Trabanten. Die Sonne steigt in ein sanftblaues funkelndes Firmament, und in den Morgenstunden sind dünne Nebel überm Land, die wie eine Glorie es umwallen und hinschwinden. Die große Bühne und ihre 164 munteren Komparsen stehen im schimmernden Licht. Ein neues Jahr hat den dunklen Vorhang über der herrlichen Szene aufgezogen und führt zu frohem und hoffnungsvollem Reigen.

Die Pferde haben Mühsal und Krankheit und Tod vergessen. Ihr Wiehern ist hell und ohne Angst. Nach monatelangem mühseligem Schreiten und kurzen Gängen traben sie frei hin und galoppieren in neuem Stolz und wiederkehrender Kraft.

Die Herde hat drei junge Fohlen. Zwei stelzen neben oder hinter den Mutterstuten her. Das Verwaiste, dem die Mutter starb, hat die kräftigere der beiden Mütter, eine hohe rostbraune Stute mit einer fast schwarzen Mähne und langem Schweif zu sich gelockt. Geduldig hält sie stand, wenn bald das eigene, bald das fremde Fohlen sich an ihr Euter machen.

Der Hengst bleibt viele Tage im höher gelegenen Grasland, das gegen die westlichen Gebirge sich hinzieht, und die Herde ist es zufrieden.

Mannsräuschlin hat das große Wasser und die schwarzen Leute lang vergessen und treibt sein Leben in Gesellschaft der Jungpferde übermütig und froh vor sich hin. Um die drei Neulinge bekümmert es sich nicht mehr. Ein paarmal hat es die Furchtsamen abgeschnuppert, nicht ohne daß die Mütter mißtrauisch von der 165 Seite es beäugten. Dann ist ihm gewesen, als ob diese steifen Bürschchen für Wettläufe und Bockereien keine Neigung hätten. Ein paarmal hat es aufmerksam zugeschaut, wenn die Fohlen an ihren Müttern saugten. Dabei ist ihm eine helle Erinnerung an seine Säuglingszeit gekommen. War es Eifersucht, war es ein Gefühl des mutterlosen Ausgesetztseins: Mannsräuschlin drängte das Fohlen von der hohen Stute weg und schickte sich an, selber zu saugen. Da kam es schlecht an. Die Stute kollerte zornig, schüttelte die Mähne und bleckte die gelben Zähne nach Mannsräuschlins Hals. Dieses begriff gleich, daß das ernst gemeint war, obwohl es noch von keiner Stute je ernsthaft gestellt worden war. Es warf sich herum und stand in rechtem Winkel zu der hohen Stute; beide beäugten einander von der Seite. Sollte man ausfeuern? Man träfe sie schön in die Flanke! Dasselbe denkt die Stute. Weil aber jetzt das eigene, von dem Auftritt sehr verwirrte und geängstigte Fohlen sich wieder an die Mutter macht, bockt Mannsräuschlin wiehernd davon. Die hohe Stute äugt dem Unband eine Weile nach. Sie begreift das Gemüt des Jährlings gut. Aber sie kann ihr eigenes Junges nicht verdrängen lassen. Und noch von einem so glänzenden weißen Milchgebiß. Ho, wohin käme man! Und vielleicht beißt der Unband! Gott 166 befohlen! – Die Stute weidet langsam ausschreitend; unter ihrem Leib trippelt das saugende Fohlen mit.

Dann ist eines Morgens ein seltsamer Besuch in der Herde. Wahrscheinlich ist der nachts durch die Steppe herangekommen, hat die Witterung der Pferde gespürt und hat sich ohne viel Aufhebens zu den Verwandten gemacht. Wie der alte Hengst im Morgengrauen die Herde umschreitet, stutzt er, als er die Seltsame gewahrt, die sich an das verwaiste kleine Fohlen herangemacht hat und neben diesem weidet. Als er herantrabt, nimmt die Fremde Reißaus. Der Hengst geht ihr in langen Gängen eine Weile ohne rechten Ernst nach. Der Alte ist müde. Der Frühling setzt ihm zu. Gegen Morgen schmerzen ihn die Beine von der noch feuchten Nachtluft. Seit mehreren Jahren schon ist er im frühen Frühling morgens steif. Die Hochwasserzeiten haben dem Alternden einen hartnäckigen Rheumatismus gebracht. Er kollert der Davonlaufenden zornig nach und dreht um. Fremdlinge in seiner Sippe? Er bedankt sich! Im Zurücktraben sichert er mehrmals in die Richtung. Er traut der Fremden nicht, die ohne zu wiehern und zu kollern davonlief. Die Witterung war seltsam. Neu und doch bekannt. Der Hengst fällt in langsamen Gang und ist beunruhigt. Im Bann der Herde läßt ihn dann das Seltsame los. 167

Wenn der Tag steigt, zerstreuen die Pferde sich ein wenig, und ein jedes lebt nach seiner Laune. Mannsräuschlin ist bei den Jährlingen, die beiden Mütter mit ihren Fohlen halten sich enger zusammen; das verwaiste Fohlen zottelt zwischen ihnen hin und wider. Oftmals wirft es auf, und es ist, als suche es etwas.

Dann ist die Fremde auf einmal wieder da. Durchs hohe Gras hat sie sich herangepirscht und weidet, vorsichtig von der Seite äugend, hinter den beiden Stuten. Als die die Witterung bekommen, werfen sie auf, starren auf die Fremde und schnauben heftig. Die wirft auch auf und starrt sie an, aber sie schnaubt nicht. Dann treten die zwei Mütter die Seltsame an. Groß schreiten sie auf sie zu, und die hält stand.

Sie ist fast so groß wie die Stuten und blickt aus klugen Augen. Ihr Kopf ist kürzer, und ihr ernsthaftes Gesicht nicht so stolz wie das der Pferde. Mühsal und Schwermut sind in den langen gefurchten Zügen, von den Augen die Wangen herab, und die Stirne ist wie von oftmaligen Schmerzen kraus, nicht frei und hoffärtig wie die der Pferde. Das rechte Ohr hat sie jetzt steil aufgestellt und sichert gegen die Anschreitenden; das linke spielt scheu in alle Richtungen. Seltsam fremd erscheinen den beiden Stuten die langen Ohren; und wie sie nach ihrer Art die Fremde umschreiten, 168 gewahren sie an deren braunen Flanken Narben und blutige Striemen. Das ist neu und merkwürdig, und eine neue und fremde Witterung geht von der Fremden aus. Die Stuten beschnuppern ihr die Nüstern; dabei bleckt sie große gelbe Zähne, mehr aus Unsicherheit und Vorsicht. Genau wittert sie den Pferden ihre Gutmütigkeit, aber auch das Mißtrauen ab.

Die Stuten beginnen wieder zu weiden und säugen dabei ihre Fohlen. Das Verwaiste hungert manchmal, denn der rechtmäßige Sohn der Stute macht sein Recht unwirsch geltend. Seitlich äugend und immer wieder aufwerfend schreiten die Stuten hin. Die Fremde folgt in größerem Abstand. Sie weidet spärlich. Hängenden Halses steht sie und wittert gegen das verwaiste Fohlen; dann tut sie einen kurzen Lockruf, spröde und fremd.

Der Hengst wirft auf und spielt in die Richtung. Da gewahrt er die Seltsame und trabt heran. Vor seinem Schnauben schlägt sie einen Bogen. Da gelangt die Witterung in die Nüstern des Hengstes. Mit ein paar raschen Gängen schneidet er der Flüchtenden den Weg ab und hat sie eingeholt. Sie hält stand. Er schnauft sie an und bleckt das Gebiß. Da geht vom verstriemten Rücken der Fremden her stark ein fremder Geruch, der keinem Tier angehört. Der Hengst stutzt. Dann plötzlich wirft er sich herum und galoppiert davon. Er kümmert 169 sich nicht mehr um die Fremdlingin. Die Witterung hat ihn vielleicht überwältigt, besänftigt; als hätte er kein Recht, dazwischen zu preschen.

Die Maultierstute tut sich nieder. Sie ist müde. Die große Freiheit der Steppe und der herrische Frühling fallen über sie her. Sie kommt vom Menschen. Die Hochwasser haben eine Menschensiedlung überschwemmt, und in der großen Verwirrung ist sie in die Freiheit getrabt.

Vor vielen Jahren ist sie unter den Menschen geboren. Ihre Mutter war ein Abkömmling der spanischen Edelinge, ihr Vater ein schöner kluger Eselhengst, mit glänzenden Augen und einer willfährigen Seele. Sie hat die hohe Gestalt der spanischen Stute und das kleinstolze Gemüt des Vaters. Wenn sie herantrabt, hat ihr Gesicht den Adel der spanischen Ahnen, und wenn sie seitlings sich wendet, ist der flachere, viel weltklugere Sinn des Grauen in den Augenbogen, den Wangen und kurzen Lefzen. Auch wächst ihr die Mähne tief in die Stirne, und die kurzen Ohren der spanischen Mutter haben sich nach den langen des Vaters hingebildet. Schmal sind die Hufe an den hohen mageren Beinen, schmäler als die der Pferde. Die Schenkel sind nicht schön gewölbt wie bei den Pferden. Schmächtiger, kümmerlicher ist der Mischling herangewachsen 170 als die edlen Pferde und kümmerlicher auch im Wesen wieder als der sehr selbstbewußte Eselhengst. Willfährigkeit und Geduld und ein schwankendes Selbstgefühl füllen ihre Seele aus. Ihre Süchte und Leidenschaften sind im Banne einer dumpfen Hörigkeit unter der Vergewaltigung, die sie in solcher Gestalt ins Leben zwang. Wenn je die Süchte gegen den Bann sich auflehnen, dann ist keine herrliche Leidenschaft und wilde Ichheit der reinen Ahnen in ihrem Leibe mächtig. Störrischer Trotz und bissige Bösheit überwältigen sie dann und machen sie hilflos vor sich selber. Der Mensch hat ihr Leben vergewaltigt, lange ehe es Gestalt annahm, und ihr Dasein ist an den Menschen gewiesen, dem sie tief untertan ist und der manchmal freundlich ist zu ihr. Es ist kein stolzes Untertansein wie der edlen Pferde. Es ist Sklavenart, und die macht auch aus dem Menschen statt eines Herrn einen Sklavenhalter. (Denn die großen Ordnungen des Erschaffers gelten im Guten und Bösen; nach vorne und nach rückwärts.)

Das fremdartige spröde Locken des Maultiers hat das verwaiste Fohlen unsicher gemacht. Die Stimme war nie erhört in der Herde. Es ist die gelle harte Stimme des Eselhengstes, die sich mit dem Gewieher des Pferdes seltsam gepaart hat. Unruhig trabt das Verwaiste heran und stutzt, als es die Maultierstute im 171 Gras liegend gewahrt. Die Witterung sagt ihm sogleich, daß das kein Hengst ist, und also faßt es Vertrauen. Natürlich ist da noch eine neue und fremde Witterung vom Menschen und seinen Geräten her um die Stute. Die macht das Fohlen scheu. Als aber das Maultier aufsteht und hoch vor dem jungen Pferd verhält, ist sie vielleicht doch dessen Mutter? Verhohlen lockt die Stute und schreitet langsam aus dem Bereich der Herde. Das Fohlen folgt ihr und drängt sich eng an die Flanke.

Gläubig zottelt es neben der Mütterlichen her. Denn eine Mütterliche ist sie, obwohl sie nie gebären wird. Jährlich im Frühling überfallen ihre Seele die Nöte der Mutterschaft. Der Mensch weiß gut, warum sie in diesen Wochen Willfährigkeit und Geduld tagelang verliert und störrisch und bissig wird. Sie hat dann böse Zeiten beim Menschen. Noch bluten die Striemen über ihrem Rücken und die Sporenrisse an den Flanken.

Jetzt ist sie zufrieden, daß das Fohlen ihr folgt. Als es den schmalen Kopf unter ihren Leib drängt und stoßend nach dem Euter sucht, ist die Unfruchtbare in ihrer einfältigen Seele sehr gestillt. Als das Betrogene zu saugen anhebt, verhält sie und zweifelt wahrscheinlich keinen Augenblick, daß ein eigenes Fohlen an ihr saugt. Die unabsehbare Reihe der Mütter, denen sie 172 entstammt, west magisch durch ihren Leib, und kein Bewußtsein, daß sie unfruchtbar und ein dürrer Sproß des herrlich lebendigen Baums ist, stört ihre Zufriedenheit. Wenn das hungernde Fohlen unwirsch davonbockt, lockt sie es wieder, und vor dem feinen Geschöpf wird ihre spröde Stimme fast weich. Immer weiter entfernt sie sich von den Pferden, die sie schon vergessen haben. Auch die hohe rotbraune Stute denkt nicht mehr an das verwaiste Fohlen, weil ihr eigenes sie ganz beschäftigt.

Als dann eines Tages das Verwaiste nicht mehr die Kraft hat, sich auf die Füße zu stellen, und neben dem weidenden Maultier langsam Hungers stirbt, versteht die Unfruchtbare nicht, warum es der guten Lockung nicht folgt. Immer wieder umschreitet sie es, schnuppert das langsamer Atmende ab, entfernt sich einige Schritte, ruft es, weilt dann tagelang um den Leichnam und schreit zuzeiten kläglich. Grimmig fährt sie unter die Rabengeier, die die Witterung lange in weitem Kreis versammelt hat, der stündlich enger wird. Als aber der Leichnam in Verwesung übergeht, räumt sie den schwarzen Leuten das Feld. Der Geruch ist auch ihr zuwider.

Langsam, oftmals verhaltend und sich umwendend, schreitet das Maultier durchs hohe Gras, dann setzt es sich in Trab. Lange hat es den Weg zum Menschen 173 zurück in den Sinnen. Willfährig gehorcht es seinem Gemüt, das es wieder in die Gewalt des großen Herrn bringt. Es erinnert sich gut der Mühsale und Plagen, die es von ihm erleidet, und des Futters und der manchmal freundlichen Hände. Die hohe Gestalt und die magische Stimme und Witterung des Menschen sind übermächtig in seiner Seele, die, von ihm ins Fleisch gezwungen, um ihr reines Selbst betrogen, unfruchtbar und zwitterhaft, seinem Dienste hörig, das ärmliche unfrohe Leben eines Sklaven stumm und geduldig leidet. 174

 


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