Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Der Mensch

Dann war der Sommer vorüber und die große Dürre. Mit allen Mühsalen und Plagen wie eh und je hatte das ausgesetzte Land die ausgesetzten Pferde geschlagen.

Sie sind längst den neuen Herrn gewöhnt, und kein Erinnern an den toten Führer mehr ist in ihnen lebendig. Der braune Hengst ist ein gewaltiger und allen Plagen gewachsener Herrscher, und die Herde folgt ihm willig. Auflehnung und Unbotmäßigkeit sind fern. Sicher führte er die Sippe zu Wasserstellen, und in seiner großen Kraft erzog er sie zu größeren Leistungen in Tag- und Nachtwanderungen. Der Schrei des Jaguars schreckt ihn nicht. Er ist mit dem Menschen auf Raubwildjagd gewesen, und die fernhin treffende Gewalt des Menschen und daß der den Hengst gegen die Witterung der Raubkatze gespornt hatte, läßt ihn die Gefahr eher hassen als fürchten. Es ist vorgekommen, 207 daß der Braune dem blutgierigen Schrei des Jaguars aufwerfend und rauh geantwortet und ein paar wilde Gänge in die Richtung getan hat. Nur daß er die Herde nicht verlassen darf, ließ ihn umkehren. Dann umkreiste er donnernd und staubwölkend die Stuten und Fohlen, schüttelte die Mähne und schnaufte wild.

Dann waren die Winterregen gekommen mit ihren Drangsalen, und diese hatte der kurze Frühling abgelöst. Tode und Geburten hatte es in der Herde gegeben, die drei kleine Fohlen und mehrere Jährlinge

Mannsräuschlin ist gewachsen und treibt sich allenthalb umher. Das Leben steigt höher, und der Kreis des Daseins, den seine einfältige Seele durchmißt, wird weiter. Es hat jetzt sein drittes Jahr begonnen. Schon sind Ferne und Nähe deutlich in seinem Gemüt, und nicht nur das Nächstliegende ist vorhanden. Morgen, hoher Mittag, Dämmerung und Nacht sind Merken, die man schon erwartet, nicht mehr von ihnen überfallen wird. Wasserstellen und Baumgruppen sind deutliche Bilder, die man wiedererkennt. Witterungen bringen sichere Vorstellungen und sind nicht nur schreckhafte Einbrüche in den Verstand, der so leicht zu verwirren ist, eben weil man ihn feiner hat als andere Steppenleute, besonders die Rinder. 208

Mit diesen Leuten ist man manches Mal an Wasserstellen zusammengetroffen. Man hat sie flüchtig abgeschnuppert. Man ist weit von ihnen entfernt. Die Witterung zwar ist friedlich, aber man hat nichts miteinander. Die Rinder ihrerseits haben großen Respekt vor den hohen Pferden und machen ihnen Platz. Sie haben keine Szene miteinander auf der großen Bühne.

Dann ziehen eines Morgens im späten heißen Herbst am nahen Rand des dunstverhüllten Horizonts fremde Pferde hin. Sie ziehen einzeln hintereinander, so wie die Herde es auf Wanderungen durch die Regenwochen hält.

Lange hat der Braune über den fein bebenden Boden her das Schreiten gespürt und steht seit einer Weile unbeweglich, mit vorgelegten Ohren. Die von der langen Dürre halb verschmachtete Herde, die den Führer nie aus den Augen läßt, holt langsam auf, äugt auf den gespannt und groß Dastehenden und nimmt die Richtung von seinem Hals ab. Da werden auch schon die fremden Schritte deutlich, und die Witterung kommt herüber. In einem weiten Bogen stehen die Pferde hinter dem Hengst, spielen die Ohren gegen das Kommende. Die Fohlen werfen erstaunt auf, kümmern sich aber nicht weiter, traben um die Flanken der Mütter, versuchen zu saugen, werden unwirsch 209 abgewiesen. Mannsräuschlin steht draußen am rechten Ende bei ein paar Jungpferden und äugt und spielt gegen das fremde Ereignis.

Jetzt schnaubt der Hengst und setzt sich in kurzen Trab. Er galoppiert nicht, er wiehert nicht. Vorsichtig eher als wild, nimmt er die Richtung nach der herziehenden Reihe der fremden Pferde. Je näher er kommt, desto öfter verhält er. Die Herde hat, einem sicheren Gefühl folgend und die Vorsicht des Leithengstes genau spürend, eine Reihe gebildet und trabt, eins hinter dem anderen, dem Braunen nach. Auch sie halten sich still. Sie schnauben vor Erregung und Neugier, aber sie wiehern nicht. Die Fohlen galoppieren eng an den Flanken der trabenden Stuten. Mannsräuschlin und die Jungpferde schließen den Zug.

Dann hat der Braune sich hinter die Fremden herangemacht. Ho, Stuten! Aber eine bekannte und gefürchtete Witterung geht mit. Doch die Stuten sind schön. Er vergißt auf die andere Witterung. Er tänzelt an die Flanke einer roten Stute und schnuppert freundlich. Die Herde, die den Führer so vertraut sieht, trabt guten Mutes hinterdrein. Gewieher von vorne Trabenden hebt an. Antwort kommt aus der Herde.

Da schwenkt der fremde Zug plötzlich ein, und jetzt ist ein scharfer Galopp von allen Seiten gegen die 210 Herde, die sich plötzlich von fremden Rossen umringt sieht.

Der Braune wiehert gell auf und ist einen Augenblick ratlos, wohin er sich wenden soll. Da prescht an seine Flanke ein fremder Hengst, und jetzt ist da auch die volle Witterung des Menschen und die unterjochende Stimme. Der Mensch ist da und holt sich seinen herrlichen Zuchthengst wieder.

Ho, er kennt den Braunen, und die List mit den Stuten ist geglückt. Laut lacht der Mensch, als er den Hengst einäugig sieht. Großartig muß der sich geschlagen haben! Mordskerl! Dich kenn ich!

Kennt er ihn? Weiß er, wie das ist, jahrlang unterworfen sein und dann die Wildheit des eigenen Leibes erfahren? Und der Haß auf den Unterjocher? Und daß der Braune voll Haß ist? Ho, der jahrelange Druck war keiner, als er noch mit der Stimme und den Händen des Menschen einherging. Aber als die ausblieben, da warf der Hengst sein Gemüt so auf, wie er den Hals aufwirft, wenn die Hoffart ihn überkommt. Da ward aus losgelassenem Druck Wut und Bösheit.

Ho, die Schlinge! Das Halfter! Wie er sie kennt! Sausend würde sie sich über seinem Kopf drehen, den Hals hinabfahren, ihm den Atem zudrücken! Er kennt 211 das, von den Pferdejagden her! Was? Die Scheu vor dem Menschen ist aus! Damals, damals – o junger Kerl! – floh er in die Weite, und die Schlinge riß ihn zu Boden. Und der Mensch war über ihm. Jetzt nicht mehr! Jetzt anders! Jetzt er über dem Menschen!

Hochauf bäumt sich der Braune . . . Was? Der Bursch stellt sich? . . .Der Lasso saust über die Kruppe hinweg. Riesig gereckt auf den Hinterbeinen, dumpf kollernd, kommt der Hengst die wenigen Schritte heran. Einäugig glotzt er auf den Menschen, der seinen Gaul herumreißen will. Aber der hat, wütend über die Witterung und rasende Stellung des anderen, die Stange in die Zähne genommen und bäumt auf. Da preschen die Vorderhufe des Braunen über seinen Hals und Nacken. Ein fürchterlicher Biß in den Widerrist läßt den Reitgaul aufbrüllen. Der Braune, dem die Peitsche des Menschen über Auge und Nüstern saust, fährt dem Menschen an die Schulter. Was tut's, daß der Reitgaul ihn in die Lende beißt! Ho, zahmer Biß, hinter der Kandare! Der Braune hat sich in die Schulter des Menschen verbissen. Durch und durch beißt er und gurgelt vor Haß; läßt los und feuert einen schrecklichen Schlag mit beiden Hinterhufen gegen die Flanke des Reitgauls, der einen riesigen Sprung tut und durchgeht. 212

Der Mensch verliert Halt und Bügel. Er kann den Arm zum Schießen nicht gebrauchen. Eine Weile schleift ihn sein Gaul, den der Braune hetzt. Dann rollt er über den Sand, und die Hufe des Braunen sind über ihm. Schnaufend und rauhe Schreie ausstoßend, läßt der Rasende dann von dem zertrampelten Menschen und flüchtet in wilden Gängen vor den heransprengenden Pferdejägern. Schüsse hallen aus dichten Staubwolken; Kugeln sausen um den Hinstürmenden. Eine streift ihm die Kruppe, und der harte Schlag hetzt ihn zu äußerster Flucht. Weiter bleiben die Verfolger zurück, heben den Toten auf, setzen die Jagd auf die wilde Herde, die in alle Richtungen zerstoben ist, fort.

Nach stundenlangem Galopp fällt der Braune in Trab. Schweiß und Blut, Schaum und Zittern sind über seinem Leib. Das Auge ist blutunterlaufen, und die Flanken fliegen. Entsetzen und Raserei toben durch sein Gemüt. Näher ist er dem Menschen erschaffen als jedes andere Geschöpf. Daß er den Herrn der Erde tötete, ohne vom Herrn der Erde dazu gespornt worden zu sein, wird sein Wesen mit Bösheit und scheuer Wildheit lebenslang erfüllen.

Zerstoben ist die Herde. Zu zweien und dreien jagen Stuten und Jährlinge hin, und die Schreie der 213 hetzenden Menschen, die sie einzukreisen suchen, sind ein nie erhörtes und furchtbares Erlebnis.

Einer der Jäger, geübten Auges, hat unter den Trupps der Jungpferde sich jenen ausgesucht, in dem Mannsräuschlin in hohem Galopp hinhetzt. Augenblicklich hat der Mensch an Gang und Gestalt der nun fast dreijährigen Stute ihre schöne Form und gute Abkunft erkannt. Jetzt jagt er dem Fohlen nach. Er wird es ermüden. Sein Gaul hält die Gänge Mannsräuschlins leicht aus. Die Schlinge hat noch Zeit. Warum das junge Tier mit einem harten Riß um den Hals schrecken? Oder es mit den Wurfkugeln zu Boden schleudern?

Mannsräuschlin stürmt wild und ungeheuer erschrocken vor dem Menschen her. Das plötzlich auftosende Ereignis, mitten im großen Frieden der Herde, von verwandten Sippen kommend; die neue Erscheinung des Menschen und die überwältigende Stimme; die lauten Wutschreie des braunen Hengstes, die Schüsse, die zersprengten Sippen; die große Hilflosigkeit des Alleinhinrasens, ohne Stuten, ohne Führer, ohne Ziel, ohne Lockruf und Sammelschrei: alles das stürzt das Fohlen in äußerste Verwirrung.

Schon ist es allein vor dem verfolgenden Menschen, der mehr und mehr aufholt. Die anderen Jungpferde 214 sind im Bogen davongestäubt. Der Mensch hat sich um sie nicht gekümmert. Das Fohlen merkt, daß das fremde Geschrei und der Galopp des Reittiers ihm allein gelten. Es versammelt seine letzte Kraft und jagt über den staubwölkenden Boden. Zu allen Listen und Künsten, die es im Spiel mit den Jährlingen gelernt hat, nimmt es seine Zuflucht; schlägt scharfe Haken, feuert im Lauf nach hinten und nach den Seiten, steht plötzlich, bäumt, wendet auf den Hinterbeinen und galoppiert im spitzesten Winkel nach rückwärts.

In heller Jagdlust und mit wachsender Freude hetzt der Mensch hinter dem schönen Fohlen her. Lachend und seinen Gaul spornend, dem die Jagd selber eine große Lust ist, weil ihm lange die Witterung des Stutenfohlens gefällt, schwingt der Mensch den Lasso in der Hand. Noch wird er ihn nicht werfen. Schön ist der Anblick des zierlichen Geschöpfs, und er weiß, was für ein Renner diese Stute unter seiner Hand werden wird.

Dann fällt Mannsräuschlin langsam ab. Seine Flanken fliegen, Schaum flockt dem Reiter, der nahe herankommt, ums Gesicht. Das Fohlen fällt in langen Trab und biegt nochmals aus. Da hebt der Mensch die Schlinge. Sausend dreht er sie ein paarmal überm Kopf und läßt sie fliegen. 215

Wie Mannsräuschlin den Gurt um den Hals fühlt, bäumt es hoch auf zu einem verzweifelten Sprung. Da drückt die Schlinge den Hals ein und schneidet in den Nacken. Das Bäumende überschlägt sich, will aufspringen, gerät mit den Hinterhufen in den Lasso, fällt seitlings hin und hat plötzlich allen Widerstand aufgegeben. Zuckend mit allen vieren liegt es, und sein Kindergemüt ist voll Staunens und Schrecks und voll großer Verlassenheit.

Dann kommt der Mensch, der seinen Gaul in Schritt gebracht hat, langsam heran. Er rafft die Leine kurz, aber er traut dem Frieden nicht. Zwar ist sie eine Stute, die zierliche Gefangene, und sehr jung ist sie auch. Aber es gibt auch unter den Stuten Übeltäter, die mit Bissen und Schlägen unversehens da sind.

Langsam umkreist der Mensch das heftig schnaubende Fohlen. Dann verhält er nahe bei seinem Gesicht, und zum erstenmal zieht das Bild des Menschen durch die braunen sanften, jetzt vor Schreck weit gewölbten Augen ins Gemüt des jungen Pferdes. Eine Weile betrachten sie einander, der Herr der Erde und das adlig Erschaffene. Dann hört dieses die tiefe und freundliche Stimme des Menschen und spitzt fremd und verwirrt und furchtsam die kurzen Ohren. 216

»Ho, mein Kleines! Was bist du für ein Feines, Wildes!«

Das Fohlen will aufspringen, aber es bekommt die Hinterbeine nicht frei. Fort! Fort! Zu den Sippen! Die verwirrende Witterung! Die fremdfremde Stimme! . . . Die Herrschaft des Menschen über sein Gemüt hebt aus ihr an. Die große Freiheit ist hin.

»Ho, Kleines! Halt Ruhe! Ich tu dir nichts! Du gefällst mir! Sehr gefällst du mir, kleine Stute. Denn das bist du ja, wie ich sehe. Mannsräuschlin sollst du heißen! Ja, so will ich dich nennen! So hießen sie die schönen Mädchen im Lande meiner Vorfahren, in alten Zeiten. Mannsräuschlin! Paßt dir das?«

Das Fohlen schnaubt und kollert und müht sich, loszukommen. Da lenkt der Mensch seinen Gaul, der freundlich gegen das Liegende schnuppert, zu der mageren Kruppe und zieht die Leine von den Hinterhufen Mannsräuschlins.

Sofort springt es auf und will davonstürmen. Aber es hängt am Menschen, und die Schlinge schneidet.

»No, no! Sei ruhig, Wildfang! Schön ruhig! Es geschieht dir nichts. Ich tue dir nichts!«

Oh, wie die Stimme seltsam ruhig und bannend ins Gemüt fällt. Nie, nie erhört! Das Fohlen stutzt, 217 sichert, wittert und steht still. Es ist fast verschmachtet. Dann setzt der Mensch seinen Gaul in kurzen Trab. Lang ist der Lasso. Das Fohlen galoppiert sofort an und will seitlings ausbrechen. Die Schlinge schneidet.

»Komm! Komm! Es nützt dir nichts! Schön ruhig bleiben! Soo! Soo! Willst du voraustraben? Auch recht! Wir werden uns schon kennenlernen, mein Feines! Soo! Soo! Wieder einen kleinen Galopp? Mir ist's recht! Wie du willst! Wir werden uns leicht verstehen! Gib acht!«

Rechts hin, links hin, nach vorne, nach rückwärts bockt und zerrt Mannsräuschlin, wiehert hell, schnaubt heftig, drängt sich einmal ratlos an die Kruppe des Reitgauls, prescht wieder steil hinweg, bäumt, zittert, stemmt sich in steifer Grätsche gegen den Zug der Leine, spielt die Ohren in die Ferne, äugt hinaus in die Pampa und wird minutenlang durch die Stimme des Menschen überwältigt; trabt dann ruhig in der Schlinge und besinnt sich aufbäumend plötzlich wieder auf sich selbst und die große Freiheit.

Dann überfällt das Fohlen mählich die Müdigkeit dieses heißen Morgens. Seit vielen Stunden ist es in hohen Gängen hingaloppiert, hat zu weiden vergessen, ist von der monatelangen Dürre und Senge schon ermattet gewesen, als der Mensch in seinen Frieden 218 einbrach. Über seine völlig verwirrte und von den Schrecken unterjochte Seele kommt eine müde Willfährigkeit, die vielleicht aus den tiefsten Schächten seines Ahnenerbes sich erhebt, denen der Mensch ein freundlicher Gebieter war.

Mannsräuschlin zottelt in einem kleinen Trab hinter dem Menschen her, der es in seine Welt führt. 219

 


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