Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Panzerleute

Die Schildkröte hört den Schritt des Fohlens sehr gut; und das leichte Beben des Grunds von den vielen Huftritten der nahe weidenden Herde geht durch ihren Bauchschild in den Leib. Sie weiß dann, daß die Pferde da sind. Sie kennt diese Riesigen seit vielen Jahrzehnten. Sie begegnet ihnen auf ihren Wanderungen durch die nassen Gründe. Wenn sie sie von weither traben hört, verhält sie, schlieft in sich selber zurück und wartet das Gepolter ab. Dann kommt es vor, daß im Gedräng der Herantrabenden die Hufe über sie hinwegpreschen. Das verschlägt ihr ein wenig das feine Gehör, und es ist ihr recht, wenn es vorüber ist. Sonst macht sie sich aus solchen Erlebnissen nichts. Sie stören den großen und sicheren Frieden ihres Daseins keineswegs.

Wenn das Land um die Wende des Krebses dürr und hart wird, macht sie sich in die Erde davon. Dort schläft sie tief und ohne Gefährde bis zu den ersten 133 Regen. Dann liegt sie noch tagelang in einem wohligen Halbschlummer und reckt manchmal die Glieder; bis eines Tages die Wände ihrer Grabkammer nachgeben und sie weichen Lehm in den Krallen hat. Dann beginnt sie, sich auszugraben, und inmitten dieser mühseligen Arbeit fährt ihr plötzlich ein feuchter Wind um die Schnauze, und feiner Regen rieselt auf den flachen Schädel. Dann blinzelt sie in den Tag oder auch in die Nacht und ist da, und ist immer da gewesen. Monatelang ist sie friedlich neben dem undeutlichen Tod gelegen, und jetzt hat das deutliche Leben sie wieder. Herrlich, feucht und weit und nahrhafter Witterung voll, und unermeßlich dehnt es sich um die Ränder des großen Panzers.

In einem seichten Tümpel hat sie heuer ihren Sommerschlaf gehalten. Jetzt ist sie auf dem Wege zur großen Lagune, die sie genau kennt, und die ein herrlicher Jagdgrund ist. Dabei haben die Pferde ihren Weg gekreuzt. Sie hat es keineswegs gespürt, daß Mannsräuschlins Kopf auf ihrem Rückenschild gelegen ist. Nur weil es still geworden ist, hat sie sich umsehen wollen. Das Schnauben des Fohlens hat sie erschreckt. Jetzt hört sie den leichten Huftritt genau. Gefahr ist keine. Weit ist dieses Leben von ihrem Leben. Nie schneiden die Sphären sich grausam. Neugier hat sie 134 nur für Leute ihrer Lebenskreise, die flach auf Flächen leben, nicht hoch über ihrem Dasein da sind und atmen. Nahe Nähe nur kennen ihre Sinne, und Weite ist gestückelte Nähe. Nie west ihre Seele in den großen Räumen der Pferde und Vögel. Tiefer aber als diese taucht sie hinab in die Räume der Zeit; und Jahrhunderte sind den Bevorzugten ihrer Sippe zugemessen.

Wie die Schildkröte jetzt sich wieder ausreckt und starren Halses nach dem Fohlen äugt, das die sich Regende stumm anschaut, hat sie zwei Geschlechter des edlen Pferdes überlebt und ist noch in ihrer Jugend. Sechs und mehr Generationen der Hingaloppierenden erlebt sie leicht, und immer traben die gleichen hohen Leute an ihr vorbei durchs triefende Gras. Ihre Augen sind, ganz anders als die des Krokodils, ohne Süchte. Sie glitzern nicht und zeugen von keiner List und besonderen Grausamkeit. Sie gehen, schwermütig fast, durch die Jahrzehnte im Licht; und mehr als bei den anderen Gepanzerten sind Schatten des langen Schlafs und halben Todes unter der Erde immer in ihrem fast unbewegten Blick.

Sie halten sich minutenlang im Anblick fest, die zwei immerfremden Seelen, die nichts voneinander wissen als eben nur: daß sie da sind. Dann reckt die Schildkröte ihre bekrallten Füße aus. Jetzt kommt Leben in 135 den großen braunen Block; und als der sich träg und wuchtend ein wenig aufhebt und dann über das Gras hin sich bewegt, tut Mannsräuschlin vor Schreck einen Satz und galoppiert in kurzen Gängen zur Herde, die es hinter den zusammenrauschenden Graswänden findet.

Die Schildkröte schreitet sicher und geruhsam fürbaß. Das Gras knickt in breiten Büscheln seitlings unter ihrem herwuchtenden Gewicht und steht, zermalmt fast, mühselig und nach vielen Stunden erst wieder auf. Ganz anders als bei den flüchtigen Pferden, hinter denen es hernickt. Wenn eine Schnecke oder Würmer über den Weg kriechen, schnappt sie die Arglosen. Sumpfvögel stehen kreischend auf und umflattern schmälend die Wandernde, bis die aus dem Bereich ihrer Nester ist. Sie wissen gut, daß nackte oder flaumgefiederte Nestlinge eine Leibspeise der Riesigen sind, und daß, wenn ein Gelege auf ihrem Wanderweg sich befindet, die Schildkröte keinen Schritt zur Seite weicht. Nicht aus Bosheit. Keineswegs! Nur, weil sie eben geradeaus will. Daß hinter ihr zerbrochene Eier und ein zerstörtes Nest im glucksenden Grund liegen, kümmert sie nicht. Wenn die Brütenden dann sie verfolgen, sich in großem Zorn und ohnmächtiger Wut wohl auf den Rückenschild setzen und flatternd auf den flachen Schädel hacken: oh, dann liegt nur ein 136 riesiger brauner Block unbeweglich und fühllos inmitten ihrer Welt, an dem sich Angst und Wut und empfindliche Schnäbel fruchtlos austoben; bis sie es aufgeben und kreischend davonklatschen.

Die Schildkröte setzt ihren Weg geradeaus fort. Die Witterung des Geflügels hat ihren Hunger gereizt, und sie strebt der Lagune zu. Sie kennt diese schnatternden, qnäkenden, krächzenden Leute seit undenklichen Regenzeiten. Auf dem Lande weiß sie nichts mit ihnen anzufangen. Aber wenn ihre Schatten übers Wasser herankommen und unterhalb der Schatten schwarze, rote, braune Schwimmfüße breit und gemächlich rudern: dann ist es ein nahrhaftes Geschäft, nach solchen Rudern zu schnappen und die Ruderer, die wild um sich toben, zu ertränken und behaglich aufzufressen.

Die Schildkröte ist am Rand der Lagune angelangt. Die hohen Schilfhalme rauschen durcheinander. Jetzt rutscht sie den böschigen Lehmrand hinab und planscht ins aufgischtende Wasser. Ein paar große Krokodile wenden langsam die Schnauzen nach dem Lärm und glitzern aus gelben Augen. Wie sie die Gepanzerte erkennen, blinzeln sie nur, und das Glitzern erlischt. Gegen solche Kerle ist man trotz eines tödlichen Schwanzes und trotz der mörderischsten Säge der Welt machtlos. Man zieht die Witterung ein und haßt den 137 Wettspieler im Fisch- und Vogelfang aus kältestem Herzen. Man kümmert sich nicht weiter um ihn. Nur daß man ihn, sollte er die Sandbank erklimmen, mit einem einzigen Schlurf des riesigen Schwanzes hinabfegte.

Aber die Schildkröte weiß Besseres, als sich den Schwänzen der Panzerleute auszusetzen. Riesig ist die Lagune, und bald wird sie unübersehbar sich ins Land hinein dehnen. Sie rudert abwärts. Aus vielen Regenzeiten her kennt sie flache Ufer, auf denen die vorjährigen Sippen der Krokodile sich gerne aufhalten, weil dort die Gründe seichter sind. Es fällt diesen, im Herbst erst ins Leben Geschlüpften, die einen kurzen Schlaf nicht sehr tief im trockenen Schlamm gehalten haben, keineswegs ein, sich in die Nähe ihrer großen Verwandten zu machen. Sie sind wenige Fuß lang und stecken in ledernen Wämsen, die eine elterliche Mordsäge mit einem einzigen Biß durchschnitte. Sie haben kleine Hechtschnauzen und blitzende Zähne, aber: Gott befohlen! Vor solchen Werkzeugen haben mörderische Eltern wenig Respekt. Also hält das jüngste Geschlecht sich vorsichtig abseits der elterlichen Reviere; und wenn je ein großer Verwandter vorbeikommt, heimtückisch und verhohlen, daß nur die Nasenlöcher und Glitzeraugen und die flache Kuppe des Räuberschädels in der oberen Welt herfährt, dann rutschen die erschrockenen 138 Bürschchen weit auf die Lehmbank hinaus. Sie hoffen: dahin wird der Mordskerl nicht dringen. Das tut der auch nicht. Nur wenn ihm eines in den Weg käme! Aber es kommt ihm keines in den Weg. Sie glitzern sich an, die alten und jungen Geschlechter, und fahren durchs Dasein, kältesten Herzens.

Zu spät aber haben die Dösenden die hertreibende Schildkröte gewahrt. Vielleicht auch, daß sie von deren Dasein auf der Welt noch keine Vorstellung haben und nichts Feindseliges wittern. Bis die Riesige mit den Vorderfüßen sich aus dem Wasser stemmt. Wie der flache Schädel, in dem die gelben Augen geradeaus starren, plötzlich sich aufreckt, rutschen die vordersten der Jungkrokodile erschrocken zur Seite. Sie wissen mit dieser Erscheinung nichts anzufangen. Ihre Seele freilich sagt ihnen, daß plötzliches und riesiges Auftauchen wahrscheinlich Gefahr bringt. Aber ihre Seelen sind langsame Ansager; sie haben viel Zeit vor sich.

Mit einem Sprung fast, den die große Schildkröte leichthin tut, hat sie sich auf die vorderste Echse gestürzt, und die zahnlosen Kiefer fassen den gelblichen, weichen, faltigen Hals. Mit stählernem Rahmen schneidet sie durch und durch, tritt mit den Vorderfüßen auf den windenden Leib. Ihr riesiges Gewicht erdrückt augenblicks das junge Krokodil. Dann schleift sie das Getötete 139 die Lehmbank hinaus und frißt den Leib rein aus. Kopf und Schwanz und das lederne Rückenwams läßt sie liegen.

Zur Verdauung zieht sie sich in den Schild zurück und döst behaglich im strömenden Regen. Dann hört sie das Klatschen nasser Schwingen und weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung, daß die Rabengeier sich um die Reste ihrer Mahlzeit balgen. Ihre Behaglichkeit stört es keineswegs, daß einer dieser schwarzen Leute den Oberkiefer des Krokodils auf ihren Rückenschild geschleppt hat und ihn dort mit seinem Schnabel wütend und gierend bearbeitet.

Einförmig durchwuchtet sie ihr langes Leben, und wenige Wallungen bewegen ihr Gemüt. Nur jährlich gegen den Anfang des Mai steigt es in ihr auf, daß sie nicht für sich da ist. Dann sucht sie eines Nachts einen flachen Rand am Wasser und begutachtet das Erdreich und die Umgebung genau. Dann legt sie wenige und große Eier, die sie mit den Hinterfüßen in genauer Ordnung und sehr sorgsam in der Nestgrube verstaut. Darauf wälzt sie Sand und bröseligen Lehm, denn einen Monat fast ist die Regenzeit dann schon vorbei und das Land trocken. Mit dem Hinterende des Bauchschilds klopft sie in raschen Schlägen das Gelege reinlich glatt. Wenn die Sonne aufgeht, macht sie sich 140 davon, und bald ist kein Wissen um die Nachkommenschaft mehr in ihrem Gemüt. Wenn Ende April des nächsten Jahres ihre Wanderschaft sie etwa an der Nestgrube vorbeiführte und sie gewahrte, wie ihre Kinder mühselig den feuchten Lehm emporwerfen und ins Dasein steigen: wahrscheinlich gäbe das einen herrlichen Schmaus. Keineswegs erinnerte sich die so sorgliche Mutter, daß sie ihre Kinder auffrißt. Etwas lebt, bewegt sich schüchtern über die Erde hin, hat eine feine und nahrhafte Witterung: wozu wäre es da, als verschlungen zu werden? . . .

Seltsamer, grausamer Kreis, immer bereit sich zu schließen und ohne Aufhören neu zu beginnen. 141

 


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