Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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52

An Isabel Longden waren eine qualvolle Ewigkeit lang so furchtbare Bilder vorübergezogen, daß sie sich nun nicht zu regen wagte.

Das war plötzlich etwas anderes – etwas Wunderschönes und Beruhigendes . . .

Nur die traumhaft geweiteten braunen Augen tasteten umher. Durch den weiten hellen, Raum in Weiß und Gold, über die kostbaren Möbel und nach den hohen Fenstern, durch die der Herbst mit seiner milden Sonne und seinen bunten Farben hereinguckte. Und dann nach der Frau in der weißen Haube, die ihr so freundlich zulächelte . . .

Isabel suchte sich zurechtzufinden. Das war nicht daheim – das war kein Hotel – – und das war nicht dieses schreckliche Alderscourt.

Diese Erinnerung genügte, um Isabel mit einem Schlag aus ihrer Traumwelt völlig in die Wirklichkeit zurückzuführen. Sie richtete sich jäh auf und stammelte eine Frage, die sonst nur etwas beschränkte junge Damen in geschmacklosen Romanen zu stellen pflegen.

»Wo bin ich . . .?«

Die freundliche Frau war so taktvoll, die banale Frage zu überhören.

»Haben Sie ordentlich ausgeschlafen, Miss Longden?« erkundigte sie sich angelegentlich. »Fühlen Sie sich wohl genug, um aufzustehen? Soll ich Ihnen ein Bad bereiten? Wünschen Sie zu frühstücken?«

Das war etwas viel auf einmal, aber Isabel nickte schwach, und es ging unter der freundlichen Beihilfe alles seinen Gang.

Nach dem erfrischenden Bade stand Isabel Longden wieder mitten im Leben, aber nun stürzten Fragen auf sie ein, auf die sie keine Antwort fand.

Was war in der letzten Stunde in Alderscourt mit ihr geschehen? Wie war sie in dieses Haus gekommen? Wußten die Leute, daß . . .?

Das Frühstück brachte ein frisches Mädchen, das nach rasengebleichter Wäsche und Lavendel duftete, und Isabel aß trotz aller peinigenden Ungewißheit mit großem Appetit. Dann erschien die Zofe wieder, und nachdem sie in Eile abserviert, mit flinken Händen Ordnung gemacht und die hohen Fenster geöffnet hatte, entledigte sie sich mit großer Förmlichkeit eines Auftrages.

»Lady Gilian läßt fragen, ob sie Miss Longden ihren Besuch machen darf.«

»Ich lasse Lady Gilian bitten«, erwiderte Isabel ebenso förmlich, aber mit schwacher Stimme, und bereitete sich vor.

Aber das hatte keinen Zweck. Der Besuch von Lady Gilian vollzog sich mit einem Temperament, das jedes Konzept umstoßen mußte.

Zunächst flog einmal die Tür ziemlich lebhaft auf, und dann flog »Lady« Gilian ebenso lebhaft herein.

Sogar Isabel sagte sich, daß sie noch sehr jung sein müsse, aber das kam wohl bloß von dem zierlichen Figürchen, dem etwas eigenwilligen Näschen und den treuherzigen Augen. Und es war etwas an diesen Augen . . .

Aber Isabel kam nicht einmal dazu, über irgend etwas nachzudenken, denn Lady Gilian nahm sie vollständig in Anspruch.

Zunächst mit einer stürmischen Umarmung und dann mit ihrer übersprudelnden Beredsamkeit.

»Guten Tag, liebste Miss Longden. Ich freue mich, daß Sie wieder auf dem Damm sind. Ich habe mir schon große Sorgen gemacht, denn schließlich hatte ich ja die Verantwortung. Tante Ally hat eben ihre Woche für die armen Negerkinder, aber ich habe ihr depeschiert, und sie wird nachmittag hier sein. Sie ist eine gute Seele, nur etwas unmodern. Man muß sie erziehen. Aber wir werden uns auch ohne sie die Zeit vertreiben. – Haben Sie Lust auszufahren? Der Arzt hat recht viel frische Luft für Sie verordnet, und die können Sie haben. Außerdem ist das Fahren mein Lieblingssport. Das heißt, nach dem Reiten. Das ziehe ich doch vor. Aber die Geschwindigkeit hat auch ihre Reize. Ich fahre grundsätzlich nur fünfundfünfzig, lieber aber noch sechzig. Das ist erst das Richtige. Und ich kann es mir gestatten, denn mein Packard ist zuverlässig, und eine Schrecksekunde gibt es bei mir nicht. Vielleicht eine Viertelsekunde, dann habe ich alles wieder in der Hand. Höchstens, daß sich der Wagen dabei einmal auf den Kopf stellt aber da kann man nichts machen . . .«

Isabel Longden sah sie mit so erschreckten Augen an, daß Lady Gilian etwas unvermittelt stoppte.

»Mir scheint«, fuhr sie entgegenkommend fort »dafür sind Sie nicht. – Nun, dann machen wir also lieber ein kleines Hindernisrennen. Sie kommen ja von dort her, wo die Cowboys zu Hause sind. Ich gebe Ihnen den ›Blitz‹. Er ist ein lammfrommes Tier, nur ein bißchen bodenscheu. Wenn er eine Maus sieht, geht er todsicher durch. Auch Schmetterlinge mag er nicht. Dann müssen Sie sich fest aufs Leder setzen und ihn langsam aufwickeln. Sie können auch ›Lizzie‹ haben. Die ist aber sehr nervös und steigt gern. Ich habe eine Bahn mit wundervollen Hindernissen. Alles natürlich. Zuerst eine Hecke, fünfeinhalb Fuß hoch, dann eine Steinmauer, vier Fuß, dann einen tiefen Wassergraben von fünf Yards, und dann eine richtige Schlucht, ungefähr vier Yards breit . . .«

Lady Gilian hätte noch mehrere solche verlockende Vorschläge bereit gehabt, wurde aber durch die duftende Zofe unterbrochen.

»Drei Herren von der Polizei«, meldete diese mit derselben ruhigen Feierlichkeit, als ob es sich um irgendwelche Mitglieder der Peerage gehandelt hätte, und Lady Gilian nickte auch so hoheitsvoll.

»Ja«, wandte sie sich an Isabel, »das gilt wohl Ihnen. Man hat sich schon einige Male telefonisch erkundigt.«

Für Isabel Longden zerstob damit auch der schöne Traum der letzten Stunde, und sie sah sich nun wieder der schrecklichen Wirklichkeit gegenüber. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, und in ihren Augen flackerte ratlose Verzweiflung.

»Verzeihen Sie . . .«, stammelte sie mit zuckenden Lippen. »Ich bereite Ihnen große Unannehmlichkeiten, aber . . .«

Aber die jugendliche Dame des Hauses hatte über solche Dinge anscheinend ganz besondere Ansichten.«

»So etwas kommt in den besten Familien vor«, sagte sie leichthin, indem sie ihren Arm stützend um Isabel legte. »Wir haben auch so ein schwarzes Schaf, das ewig mit der Polizei zu tun hat. Und schielen kann der Junge . . .«

Isabel Longden hörte nichts mehr und sah nichts mehr und wußte nicht, wieso sie auf einmal in der geräumigen Hall stand.

Aber dann wußte sie, daß es wirklich um die gewisse Sache ging und daß nun alles aus war. Die drei steifen Männer kannte sie zwar nicht, aber die Frau in ihrer Mitte und den Mann mit dem roten Haar hatte sie schon einmal gesehen. Nur einen winzigen Augenblick – aber diese Gesichter würde sie nie mehr vergessen.

Und dann kam der furchtbarste Schlag.

Aus dem Hintergrunde tauchte ein sehr eleganter junger Mann mit einem bestrickenden Lächeln und einem treuherzigen Blick auf – und Isabel mußte an Lady Gilian eine Stütze suchen. Aber selbst die junge Dame des Hauses wand und krümmte sich aus irgendeinem Grunde.

Also das war es. Der Unbekannte, dem sie so vertraut hatte, hatte sie verraten . . .

Es war ein großer Schmerz für Isabel Longden, aber er ließ sie wenigstens das andere leichter tragen. Nun war ihr alles gleichgültig. Nur dem Manne wollte sie zeigen, wie sehr sie ihn verachtete. Sie blickte mit einem harten Zug um den hübschen Mund starr geradeaus, und auch als er sogar die Kühnheit hatte, zu sprechen, war er für sie überhaupt nicht auf der Welt.

»Liebe Miss Longden«, sagte Alf Duncan in seiner schamlosen Verkommenheit, »gestatten Sie, daß ich Ihnen Chefinspektor Perkins von Scotland Yard vorstelle. Die beiden anderen Herren sind Unterinspektor Hunter und Sergeant Bell. – Ja, und das nette Paar in ihrer Mitte sind die gramgebeugten Eltern. – Und nun wird Sie Mr. Perkins einen Augenblick bemühen.«

Damit wurde Alf Duncan wieder zum Gentleman und schob Isabel höflich einen bequemen Sessel zurecht, aber auch das sah das erschütterte junge Mädchen nicht.

Mr. Perkins hatte einen feierlichen schwarzen Rock an, eine Krawatte in den Nationalfarben umgebunden und schwitzte jammervoll. Die beiden Ajaxe aber standen unbeweglich wie Statuen und schielten nur aus den Augenwinkeln auf das gramgebeugte Elternpaar. Bell auf den roten Tim hinunter, Hunter zur »Schiefen Fregatte« hinauf.

Endlich nahm der Chefinspektor einen verzweifelten Anlauf.

»Sie haben da vor einigen Tagen bei Thame eine Sache mit Ihrem Auto gehabt, Miss Longden. Es ist Ihnen ein Kinderwagen in den Weg gekommen, und Sie haben ihn zusammengefahren . . .«

»Und sie hat nicht einmal angehalten«, warf der schurkische junge Gentleman ein, aber Isabel konnte nichts mehr treffen.

»Ja«, sagte Perkins und zerrte an seiner blauroten Krawatte. »Wir werden also darüber ein kurzes Protokoll aufnehmen müssen, Miss Longden. Aber zunächst möchte ich Sie fragen, ob Sie die Leute dort mit Bestimmtheit wiedererkennen.«

Er deutete auf die »Eltern«, die plötzlich sehr schmerzergriffen zu Boden blickten, aber Isabel mußte nicht erst nochmals hinsehen.

»Ja«, erklärte sie mit leiser, stockender Stimme. »Besonders den Mann. Das rote Haar . . .«

»Kunststück – so einen verdammten Brandschädel«, ließ sich in diesem Augenblick die »Schiefe Fregatte« in höchstem Grimm vernehmen, und gleichzeitig flog ihre Rechte von der hohen Hüfte in das Gesicht des roten Tim.

Da sich das Brautpaar so ungezogen benahm, wurde es von den beiden Ajaxen abgeführt, und Perkins sagte wieder »Ja . . .« und blickte immer hilfloser nach dem verkommenen jungen Gentleman.

»Ja«, nahm dieser ihm endlich das Wort ab. »Sie wollten sich die Geschichte etwas kosten lassen, liebe Miss Longden. Darüber können wir nun sprechen. Aber zuerst will ich mein Wort halten.«

Er holte aus einer Ecke neben dem Kamin eine große Schachtel hervor und begann eifrig darin herumzukramen. Aber Isabel hätte um nichts in der Welt hingesehen.

»Wie Sie wissen«, fuhr Alf Duncan mit lebhafter Gesprächigkeit fort, »habe ich Ihnen ein Geschenk versprochen, das Sie sehr erfreuen sollte. Und sogar noch Ihre Kinder und Kindeskinder. – Gestatten Sie, daß ich es Ihnen nun überreiche . . .«

Bevor Isabel Longden noch abzuwehren vermochte, wurde ihr etwas in die Arme gedrückt, und sie konnte dieses Etwas nur krampfhaft festhalten und mit verständnislosen Augen anstarren. Dabei sprach der junge Gentleman ruhig weiter, aber es dauerte noch eine lange Weile, bevor sie begriff.

»Es gleicht dem armen, von Ihnen zu Tode gefahrenen Baby auf ein Haar, liebe Miss Longden, denn es ist dieselbe Fabrikmarke, Serie und Nummer. Ich habe sie unter den Scherben im Straßengraben gefunden. Nur den Himbeersaft habe ich weggelassen, denn der klebt zu sehr . . .«

Isabel Longden sah mit zuckenden Lidern auf das große nackte Puppenbaby in ihren Armen, auf Lady Gilian, die mit verzerrtem Gesicht dasaß und mit den Beinen strampelte, auf den Mann in dem schwarzen Rock und mit der blauroten Krawatte, der sich ununterbrochen den Schweiß wischte, und dann wandte sich ihr Blick langsam und schüchtern nach dem jungen Gentleman, der sie mit seinen treuherzigen Augen anlächelte . . .

Und dann tat Isabel Longden aus Shoshone, Idaho, USA, plötzlich ganz das gleiche, was jedes kleine Mädchen zu tun pflegt, wenn es eine schöne Puppe geschenkt bekommt: sie küßte sie stürmisch ab, und dann fiel sie dem Spender um den Hals . . .

Lady Gilian gefiel dies so gut, daß sie einen wilden Indianertanz aufführte, und auch Chefinspektor Perkins hatte plötzlich wieder ein Feixen in dem breiten Gesicht.

Aber Alf Duncan benahm sich wie ein wirklicher Gentleman. Er legte zunächst seinen Arm um die schluchzende Isabel, und dann sagte er:

»Schwesterlein, guck aufmerksam zu, denn auch an dich wird einmal die Reihe kommen. Sie, lieber Perkins, aber haben gar keinen Grund, so hämisch zu grinsen, denn ich habe Ihnen doch damals vor dem Hotel ganz deutlich gesagt, daß es diesmal für mich vielleicht um ›lebenslänglich‹ geht. – Ja, und dann habe ich Ihnen auch eine große Freude in Aussicht gestellt . . .«

Er brachte einen versiegelten Brief zum Vorschein, und der Chefinspektor machte gewaltig gespannte Augen.

»Bestellen Sie also, bitte, dieses dienstliche Schreiben an den Chef des Konstablerwesens. Es enthält das Abschiedsgesuch seines Kommissars für besondere Verwendungen.«

»Ich werde es persönlich übergeben«, versicherte Mr. Perkins hastig und faßte mit beiden Händen zu.

 

Dem netten Boy des vornehmen Hotels am Strand blieb die Hand in der Luft, als er nach der Flügeltür griff.

Dann aber verzog sich sein Mund von einem Ohr bis zum andern, wie es immer geschah, wenn er den freundlichen jungen Gentleman erblickte, und gleichzeitig verneigte er sich so tief, wie er dies bei Miss Isabel Longden zu tun gewohnt war.

Und obwohl die Lunchstunde war und die Hall von Gästen wimmelte, gestattete sich sogar auch der würdige Mann in der Portierloge ein ehrerbietiges Lächeln, das seine freudige Überraschung verriet.

»Also, lieber Mr. Brown«, sagte Alf Duncan, »Miss Longden hat noch einiges zu erledigen.«

»Allerdings, Sir. Das große Gepäck, die Post – und zweihundert Dollar.«

»Das große Gepäck und die Post«, wiederholte Alf Duncan so nachdrücklich, daß der verständnisvolle Mr. Brown sich mit ganz besonders dankbarer Ergebenheit verbeugte. »Und dann ein Kabel, lieber Mr. Brown. Miss Longden ist vor einigen Tagen bei der Abfassung durch dringende Geschäfte unterbrochen worden. Schreiben Sie, bitte . . .«

Mr. Brown war schon bereit, aber als der junge Gentleman ein zerknittertes Briefblatt aus der Tasche zog, fühlte er sich gar nicht behaglich.

»Ich finde, liebste Isabel«, sagte mittlerweile Alf, indem er das Papier überflog, »daß du die Sache doch etwas allzu tragisch genommen hast. Wir wollen den Text ein klein wenig abändern. –

Also, lieber Mr. Brown . . .«

Und er diktierte dem aufhorchenden würdevollen Manne langsam in die Feder:

Mrs. Symington, Shoshone, Idaho, USA. Liebste Mrs. Symington, oh, warum habe ich nicht auf Ihre Warnungen gehört. Welch ein schreckliches Ende. Ich vermag es nicht auszudenken. Ich habe mich mit Alf Duncan auf Sandford Manor verlobt. Aber ich bin sehr glücklich.

»Ist es gut so, mein Liebling?« fragte Alf Duncan-Sandford.

Isabel Longden nickte mit strahlenden Augen und spitzte die Lippen.

Und dem erfahrenen Mr. Brown schien es, als ob das diesmal etwas ganz anderes bedeuten sollte, als daß sie pfeifen wollte.

 

Ende

 


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