Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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28

Die Nebenpforte des Golfhauses war noch immer unverschlossen, aber Alf Duncan versperrte sie nun wieder und glitt wie ein Schatten die schmale Seitentreppe hinauf.

Auf dem Rückweg war er zu einem Entschluß gekommen, der ihm zwar nicht sehr sympathisch war, aber unter den gegebenen Verhältnissen geboten schien. Wenn er sich nicht sehr täuschte, bereitete sich nun eine rasche Entwicklung vor, bei der die Dinge kaum mehr so leicht auseinanderzuhalten sein würden, und ein Mißgriff der einen Seite auch den Erfolg der andern in Frage stellen konnte. Und schließlich hatte er ja so viele Trümpfe in seinem Spiel, daß ihm die Vorhand nicht mehr streitig gemacht werden konnte.

Das Zimmer des Chefinspektors lag der Tür des nervösen Mr. Gwynne etwas schräg gegenüber. Das war für Duncan eine Mahnung, besonders leise zu sein, als er mit dem Fingernagel in kurzen Pausen drei leichte Kratzer tat. Eine Maus konnte sich bei ihrer Arbeit nicht rücksichtsvoller benehmen, und es schien gerade kein geeignetes Mittel, einen abgehetzten Menschen aus dem ersten Schlummer zu wecken.

Aber Alf hatte noch den Finger erhoben, als er auch schon Einlaß fand. Das Zimmer war dunkel, aber dann glitt der geölte Riegel vor, und Perkins knipste das Licht an. Er war noch immer angekleidet und schien über einer Arbeit gesessen zu haben, denn den Tisch bedeckten Orientierungskarten und verschiedene Papiere.

In dem Blicke, mit dem er den Besucher empfing, lag gewaltige Spannung, und der Chefinspektor entwickelte diesmal sogar eine geradezu verblüffende Höflichkeit. Er schob dem leichtlebigen jungen Herrn beflissen einen Stuhl und die Zigarrenkiste zurecht, brachte eine Flasche herbei und wartete dann begierig, aber ohne jedes Zeichen von Ungeduld, was der andere ihm so Dringendes mitzuteilen haben mochte.

Duncan ließ ihn ziemlich lange warten, denn er mußte sich wieder einmal erst seinen äußeren Menschen gründlich betrachten. Der dunkelblaue Anzug sah sehr mitgenommen aus, und das feine Schuhwerk hatte es bei der Partie über Stock und Stein ebenfalls gehörig abbekommen.

Auch Perkins bemerkte das und ergriff die Gelegenheit, um vielleicht endlich zur Sache zu kommen.

»Es scheint kein hübscher Weg gewesen zu sein«, meinte er. »Den Rücken haben Sie verstaubt, als ob Sie geradenwegs aus einer Mühle kämen . . .« Der Chefinspektor wußte sich den seltsamen Blick, der ihn traf, nicht zu deuten und nickte bekräftigend. »Jawohl. Gerade unter dem Kragen . . .«

Er machte Miene, mit seiner großen Hand säubernd über die Stelle zu fahren, aber in diesem Augenblicke schnellte der junge Mann mit einem förmlichen Sprung zurück und ging auch schon daran, sich mit größter Behutsamkeit den Rock vom Leib zu ziehen.

»Also das war es . . .«, sagte er, als er sich die graue Staubschicht eine Weile nachdenklich betrachtet hatte. »Wahrscheinlich hätte ich doch schießen sollen. Bitte, einen Bogen reines Papier, Mr. Perkins . . .«

Der Chefinspektor begriff nicht ein Wort, aber er gehorchte und sah dann mit großen Augen zu, wie Duncan den Schmutz mit einem Messer sorgsam von dem Kleidungsstücke schabte. Die Ausbeute war nicht besonders reich, aber einen Fingerhut voll mochte sie doch ergeben, und der junge Mann schien sehr zufrieden, als er sie mit großer Behutsamkeit geborgen hatte.

»So«, sagte er, indem er das Papier Perkins überreichte, »nehmen Sie das an sich, und verwahren Sie es gut. Es dürfte zu Ihrer Sache gehören und wahrscheinlich eine große Rolle spielen. – Nun aber müssen wir uns um Miss Reid kümmern.«

Die unvermittelte Bemerkung ließ den Chefinspektor den Kopf aufwerfen, und die Spannung in seinem ledernen Gesicht wurde noch deutlicher.

»Ich warte seit ungefähr einer halben Stunde auf ihre Rückkehr«, erklärte er. »Sie hat kurz vor zehn das Haus verlassen, und ich bin ihr gefolgt, habe aber draußen nichts mehr von ihr entdecken können.«

Es war nun Duncan, der plötzlich eine lebhafte Wißbegierde bekundete.

»Wo haben Sie ihre Spur verloren?«

»Ich habe sie überhaupt nicht gefunden«, gestand Perkins etwas verlegen. »Als ich hörte, wie die Frau sich mit solcher Heimlichkeit über die Seitentreppe davon machte, bin ich in der nächsten Minute auf demselben Weg hinter ihr drein. Aber als ich aus dem Haus kam, war sie verschwunden. Ich bin dann noch ein Stückchen längs dem Hang gegangen, habe es jedoch schließlich sein lassen.«

»Wie weit sind Sie gekommen?«

»Nur etwa hundert Schritte. Sie hatte ja keinen allzu großen Vorsprung, und wenn ich auf dem rechten Weg war, hätte ich sie unbedingt noch sehen müssen.«

»Und gehört haben Sie auch nichts?«

Der Chefinspektor schüttelte den Kopf.

»Keinen Laut«, versicherte er befremdet. Aber statt einer Erklärung kam eine neue Frage.

»Weshalb interessieren Sie sich für Miss Reid?«

Um den breiten Mund des Detektivs erschien wieder einmal das spöttische Feixen, aber es war diesmal etwas bescheidener als sonst.

»Nun, unsereiner hat zwar nicht in Oxford studiert . . .«

»In Cambridge«, fiel ihm Duncan mit ärgerlichem Nachdruck ins Wort. »Daß Sie sich das nicht merken können. – Sie werden mit Ihrem schwachen Gedächtnis einmal noch große Unannehmlichkeiten haben.«

»Also schön, in Cambridge«, fuhr Perkins grinsend fort. »Und man besitzt auch nicht die Intelligenz und die vielseitigen Beziehungen gewisser Leute von Welt, aber man weiß doch immerhin einiges. Und eine Frau wie diese Miss Reid, oder wie sie sonst heißen mag, merkt man sich, wenn man ihr einmal begegnet ist. Ich habe zufällig dem großen Erpressungsprozeß beigewohnt, den man ihr vor ungefähr einem Jahr vor Old Bailey angehängt hatte, und habe dabei einiges über ihre Methoden und ihre Tüchtigkeit erfahren. Und wie sie mir heute nachmittag plötzlich hier mit diesem käsigen Menschenfreund in den Weg gelaufen ist, bin ich blitzartig auf eine Vermutung gekommen.«

»Auf welche Vermutung?« forschte der junge Mann weiter, aber der Chefinspektor schien dieses förmliche Verhör nun endlich satt zu haben. Er zuckte nur mit den Achseln und verkniff trotzig die Lippen.

»Also, sagen wir auf die Vermutung, daß Miss Reid etwas mit dem Fall Dan Kaye zu tun haben könnte«, setzte ihm Duncan hartnäckig zu. »Sie haben richtig geraten. Der Zettel, den Sie hier auf dem Tisch liegen haben« – er tippte mit dem Zeigefinger auf das schmierige, zerknitterte Papier – »ist von ihrer Hand geschrieben. Gestern vormittag – so gegen elf Uhr.«

»Sehen Sie«, triumphierte der Chefinspektor. »Also hat sie ihn wirklich herausgeschickt. – Aber zu welchem Zweck?«

Der Gentleman legte sich in den Stuhl zurück und starrte mit ernstem Gesicht zur Decke. Dann heftete er die halbgeschlossenen Augen plötzlich mit einem langen Blicke auf Perkins.

»Das herauszubringen ist nun Ihre Sache. – Warum haben Sie auf Miss Reid nicht besser aufgepaßt? Als Sie ihr folgten, war sie eben auf dem Wege, um mir etwas darüber zu sagen. Aber sie ist nicht so weit gekommen, und ich fürchte sehr« – er machte eine kleine Pause, die noch mehr verriet als seine Worte – »daß wir aus ihrem Mund nun nichts mehr erfahren werden . . .«

Der Chefinspektor war mit einem jähen Ruck aufgefahren.

»Sie glauben . . .«, stieß er heiser hervor und scheute sich, das Weitere auszusprechen.

Alf Duncan nickte.

»Förmlich zwischen uns beiden . . . Gut, was? – Ich schätze, daß Sie keine hundert Schritte von dem Ort entfernt gewesen sein dürften, als es geschah. Aber ich habe Sie ja darauf aufmerksam gemacht, daß Sie auf verschiedene Teufeleien gefaßt sein müßten. Das war die erste, aber kaum die letzte. Der Schwarze Meilenstein ist eine verdammt gefährliche Sache – auch wenn man nicht im Auto fährt. Sehen Sie sich also vor. Ich habe meine Lehre weg und bin gewitzigt.«

Und der junge Mann begann kurz und gelassen zu berichten, was er für notwendig fand. Der Chefinspektor hörte mit verhaltenem Atem zu, und nur seine derben Finger führten ein unruhiges Spiel auf.

»Was also jetzt?« würgte er endlich unschlüssig hervor, als Duncan fertig war und das Taschentuch mit gespitzten Fingern auf den Tisch legte.

»Darüber müssen Sie sich schlüssig werden«, bekam Perkins zu seiner Erleichterung und doch auch ein wenig zu seiner Enttäuschung zur Antwort. »Es betrifft zweifellos Ihren Fall, und Sie tragen die Verantwortung. Daran wollen wir uns halten. – Wenn Sie aber auf einen Rat hören wollen, so übereilen Sie nichts. Es gibt diesmal so viele Fährten, daß Sie leicht auf eine falsche geraten können, und der richtige Mann Ihnen dabei durch die Lappen geht.«

Perkins nagte aufgeregt an den Lippen.

»Wollen Sie nicht ein bißchen deutlicher werden?« drängte er, indem er sich erwartungsvoll über den Tisch beugte.

»Nein«, erklärte Duncan mit einer Gelassenheit, die den Chefinspektor fast aus der Haut fahren ließ. »Ich kann Ihnen höchstens noch verraten, daß der arme William sich heute abend den Fuß verstaucht hat, und der alte Komödiant Ihnen gegenüber einen Heidenspektakel schlug, weil er in seiner Ruhe gestört wurde. – Und vielleicht auch noch, daß Mr. Fielder die Freundlichkeit hatte, mir einen meiner hübschen Dollarscheine zu wechseln. – Das ist aber nun wirklich alles, und damit werden Sie kaum viel anzufangen wissen.«

Der Chefinspektor schnitt ein verzweifeltes Gesicht.

»Nun – und wegen Miss Reid?« fragte er dann plötzlich.

»Ja, wegen Miss Reid . . .«, wiederholte Alf unschlüssig, indem er sich erhob. »Das will sehr überlegt sein. Was ich Ihnen angedeutet habe, ist ja schließlich bloß eine Vermutung. Trifft sie nicht zu, so kann es nur schaden, wenn Sie jetzt sofort Lärm schlagen, – trifft sie aber zu, so kann es kaum mehr viel nützen. Der Frau nicht und Ihnen nicht, denn es sind seither fast zwei Stunden verstrichen. Schließlich könnten Sie ja auch nur planlos in dem schauderhaften Gestrüpp herumstolpern, und bevor Sie Ihre Polizeimacht zusammentrommeln . . .«

Sein Blick hatte nachdenklich an den schweren Vorhängen gehaftet, die der herbstliche Nachtwind hie und da auseinandertrieb. Nun schnellte er mit einem Sprung zum Fenster und spähte gespannt durch einen Spalt.

Etwa zehn Schritte gegenüber stand ein starker Baum, und Duncan glaubte in dem bereits halb entblätterten Astwerk einen fadendünnen Schimmer wahrgenommen zu haben.

Und nun sah er es nach einigen Sekunden ganz deutlich wieder aufglimmen. Dreifach, vierfach – in einem ganzen Bündel . . . Mit dem matten Zucken einer unzulänglich gespeisten Glühbirne . . .

Der junge Mann prallte jäh zurück, und ehe der Chefinspektor wußte, wie ihm geschah, wurde er von einem kräftigen Arm zur Tür gerissen und in den Korridor geschleudert.

Es war nicht einen Augenblick zu früh.


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