Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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15

Dan Kaye war im Leben ein schlichter, bescheidener Mann gewesen und hatte sich gewiß nie träumen lassen, daß sein Scheiden aus dieser Welt einmal so gewaltigen Lärm verursachen würde.

Noch vor Mitternacht war das neue Unglück beim Schwarzen Meilenstein von einem heimkehrenden Bahnbeamten entdeckt worden, und die Londoner Morgenblätter ergingen sich darüber bereits in großer Aufmachung und in Andeutungen, die die allgemeine Ratlosigkeit und Nervosität widerspiegelten.

Miss Reid gellte auf ihrem Weg zum Büro die Sensation wie ein Pistolenschuß in die Ohren, und sie riß dem vor Eifer völlig heiseren Zeitungsjungen seine Blätter ungestüm aus der Hand.

Was war da draußen geschehen?

Für sie hatte diese Frage eine weit schwerer wiegende Bedeutung als für die übrigen Tausende, die sich auf die Nachrichten stürzten.

Sie war ärgerlich, aber auch etwas beunruhigt erst in der letzten Minute von daheim weggegangen, weil Charles Barres nicht gekommen war, und nun empfand sie plötzlich eine lähmende Furcht, daß sie vielleicht in den nächsten Augenblicken einen entsetzlichen Grund für sein Ausbleiben erfahren würde.

Ihre Erregung war so groß, daß sie lange Minuten nicht den Mut fand, in die Zeitungen zu blicken. Endlich begann sie, mit verkniffenen Augen scheu die fetten Titelzeilen zu überfliegen, und je weiter sie kam, desto mehr atmete sie auf.

Aber ganz wollte ihre Sorge selbst dann nicht weichen, als sie sämtliche Berichte mit fieberhaftem Interesse von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen hatte. Sie lauteten alle so ziemlich gleich und enthielten infolge der Kürze der Zeit nur wenig an Einzelheiten. Um diese aber ging es für sie.

Was hatte sich ereignet, daß der Schwarze Meilenstein plötzlich wieder in Tätigkeit getreten war, und wieviel würde darüber bekannt werden? War Charles irgendwie darin verwickelt? War das der Grund, weshalb er sich nicht meldete?

Sie begrüßte es, daß ihr Chef wie gewöhnlich auf sich warten ließ, denn es war möglich, daß Charles sich bloß aus einem bedeutungslosen Grund verspätet hatte und sie vielleicht nun im Kontor anrief.

Aber der Anruf kam nicht, und als sie endlich selbst einen Versuch machte, bekam sie aus der unheimlich stillen Wohnung lediglich das Schrillen der Klingel zur Antwort.

Plötzlich aber erinnerte sie sich in irgendeinem losen Zusammenhang an die Abreise der jungen Amerikanerin, und ihre Befürchtungen nahmen mit einem Mal eine andere Richtung. Stand das völlig unerklärliche Verhalten Charles' etwa damit in Verbindung? – Sie traute ihrem Verbündeten nur bis zu einer gewissen Grenze, und schon die erste Mitteilung von dem plötzlichen Verschwinden Miss Longdens hatte sie mißtrauisch gemacht. Sie wäre dieser Sache auch schon gestern noch energischer nachgegangen, wenn nicht Dan Kayes Besuch in Blackfield sie so beschäftigt hätte. – Hatte Charles ein falsches Spiel getrieben? Oder hatte der verschlagene Fielder Wind bekommen und einen tückischen Gegenzug getan?

Je mehr die kluge Frau grübelte, desto mehr Fragen drängten sich ihr auf, aber sie wußte auf keine eine Antwort zu finden. Und sie mußte sich sagen, daß die Rätsel um sie, denen sie bereits viele Monate opferte, immer zahlreicher statt weniger wurden: Erst war es nur das Geschäft gewesen, dann war die Sache mit James Marwel und dem Schwarzen Meilenstein dazu gekommen, und nun schien eine weitere geheimnisvolle Entwicklung in der Luft zu liegen.

Es ging bereits gegen Mittag, als Mr. Fielder sich endlich einstellte. Miss Reid empfing ihn mit einem blitzschnellen forschenden Blick, aber der kleine Mann mit dem schwammigen, grauen Gesicht zeigte nur Sorge um die Kiste, die sein Chauffeur hinter ihm dreinschleppte.

»Warten Sie draußen beim Wagen, bis wir fertig sind«, befahl Fielder. »Ich werde die Sendung gleich weiterexpedieren. – Die Papiere haben Sie wohl vorbereitet, Miss Reid?« wandte er sich an diese und begann sofort den Inhalt des Kollis einer oberflächlichen Besichtigung zu unterziehen. Es waren zumeist Keramiken und Gläser, für die Miss Reid sonst immer ein besonderes Interesse gezeigt hatte, weil sie das eigentliche Geschäftsgeheimnis der »Kunsthandlung« Guy Fielder bergen mußten. Jede Woche kamen zwei bis drei solcher Sendungen von dem rührigen Agenten aus Paris und gingen sofort an die Kundschaft weiter.

Miss Reid besaß keinerlei Kunstverständnis und wunderte sich, daß dieser bescheidene Handel so blühen und so viel abwerfen konnte. Er hatte seit ihrem Eintritt von Monat zu Monat zugenommen, und zu den Abnehmern in Kanada waren später auch solche in Polen und auf dem Balkan gekommen. Erst in der allerletzten Zeit flaute das Geschäft plötzlich ab, und es gab sogar fast täglich telegrafische Stornierungen. Über die Lieferungen wurden ordnungsmäßige Fakturen auf recht ansehnliche Summen ausgestellt, aber so oft sie die Eintragungen in die Bücher vornahm, sagte sie sich, daß sie irgendwelche Hausnummern schrieb.

Mr. Fielder hatte die Überprüfung beendet und machte sich daran, die Kiste wieder eigenhändig zuzunageln. Es war eine ziemlich lärmende Arbeit, denn die zerbrechliche Ware erforderte ein widerstandsfähiges Holz, und Miss Reid hatte heute ihre Nerven so wenig in der Gewalt, daß sie unter jedem Schlag zusammenzuckte. Endlich vermochte sie nicht länger an sich zu halten.

»Haben Sie die Morgenblätter gelesen?« fragte sie. »Der Mann, der gestern bei uns nach James Marwel fragte, ist heute nacht beim Schwarzen Meilenstein umgekommen . . .«

Ihre Mitteilung klang so scharf und herausfordernd, daß ihr Chef den eben erhobenen Hammer jäh sinken ließ und betroffen den bläulichen Mund aufsperrte.

»Wie . . .? Der Mann, sagten Sie, der . . .«

Miss Reid griff nach den Blättern, und auch in der Art, wie sie diese dem ausdruckslos glotzenden Mann zuschob, lag wieder etwas Feindseliges.

Aber Fielder achtete nicht darauf, sondern vertiefte sich sofort wißbegierig in die Nachrichten. Er las minutenlang mit starren Augen und gespitzten Lippen, und dann schüttelte er den Kopf.

»Seltsam, sehr, seltsam . . .«, murmelte er, indem er die Zeitung mit pedantischer Sorgfalt zusammenfaltete, und mit dieser seiner häufig gebrauchten Redensart glaubte er offenbar, genug gesagt zu haben, denn er faßte bereits wieder nach dem Hammer.

Aber Miss Reid war mittlerweile zu einem Entschluß gekommen. Es war Mittag geworden, und Charles hatte sich noch immer nicht gemeldet. Sie mußte sich Gewißheit verschaffen.

»Eigentlich möchte ich mir diesen Schwarzen Meilenstein nun einmal ansehen«, sagte sie so unbefangen, wie ihr dies möglich war. »Sie erinnern sich wohl, daß ich noch einige Tage Urlaub habe, und ich könnte diese bei dem augenblicklich schönen Wetter ausnützen. Wenn Sie also nichts dagegen haben . . .«

Noch eifriger und zuvorkommender als durch seine Worte, gab Mr. Fielder durch die rasche verbindliche Handbewegung zu verstehen, daß er gar nichts dagegen hatte.

»Sie haben ganz recht«, fügte er überlegend hinzu, »das muß man wohl gesehen haben. Wann wollen Sie fahren? Noch heute? Gewiß. – Und wenn Sie mir bis – sagen wir – drei Uhr Zeit lassen, bringe ich Sie mit meinem Wagen hinaus. Ich bin selbst begierig, die schreckliche Unglücksstelle kennenzulernen.«

Das war mehr, als Miss Reid erwartet hatte, und es schien ihr fast zu viel.


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