Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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11

Mrs. Drew war arg enttäuscht, und Molly erging sich den ganzen Tag über in anzüglichen Bemerkungen über die feinen Damen, die so hochnäsig tun und doch nur bis zum Hemd anders sind, als alle anderen Frauenzimmer.

Die Veranlassung zu dieser unbehaglichen Stimmung in dem einsamen Alderscourt bildete der Gast, der sich vorläufig jeder mütterlichen und schwesterlichen Teilnahme gegenüber ablehnend verhielt.

Isabel Longden antwortete auf alle fürsorglichen Fragen nur durch die verschlossene Tür. Wenn sie aber Molly mit den Mahlzeiten einließ, zog sie sich sofort in das zweite Zimmer zurück. Im übrigen berührte sie die Speisen kaum, und alles das paßte Mrs. Drew nur bis zu einem gewissen Grade. Es war ja ganz gut und schön, wenn das Mädchen sich nicht zu viel blicken ließ, denn dann würde es keine Scherereien und keinen bösen Verdruß geben. Aber Mrs. Drew wollte wenigstens Gelegenheit haben, die lehrsamen Erinnerungen aus ihrem Leben anzubringen, die sie seit der letzten Nacht eifrig zusammengesucht hatte und bei denen so einem jungen Ding gehörig angst und bange werden mußte. Das wünschte ja der Herr, und um diese Tat der Nächstenliebe wollte sie auf keinen Fall kommen. Was aber das Essen anbelangte, so war es ja gewiß nicht notwendig, daß die Miss die Schüsseln mit den guten Dingen, die der Herr eigens herausgebracht hatte, blitzblank putzte, weil man ja unten auch etwas davon haben wollte. Wenn aber dieses Herumstochern auf den Tellern etwa heißen sollte, daß es der Miss nicht schmeckte, so wollte sie ihr deutlich zu verstehen geben, daß sie schon für viel feinere Herrschaften zu deren vollster Zufriedenheit gekocht hatte.

Isabel Longden hatte kein Auge und keinen Gedanken für ihre neue Umgebung, denn sie stand seit vierundzwanzig Stunden im Banne einer Schuld, unter der sie völlig zusammengebrochen war. Ein verhängnisvoller Augenblick hatte ihr sonniges Leben jäh zerstört und sie zur Beute reuevoller Verzweiflung werden lassen.

Und das Furchtbare, das sie durchlebte, erschütterte sie doppelt, weil sie es allein und ohne jeden Rat und Zuspruch tragen mußte. Der einzige Mensch, der ihr nahe stand, eine mütterliche Freundin, weilte Tausende von Meilen entfernt, und selbst, wenn es noch einen Zweck gehabt hätte, durfte sie diese nicht zu Hilfe rufen. Nur in ihrem ersten Entsetzen war Isabel auf diesen Gedanken verfallen, hatte ihn aber sofort wieder aufgegeben. Mrs. Symington war eine kranke Frau, und die Aufregung konnte ihr den Tod bringen. Schon die gemeinsame Reise hatten ihr ja die Ärzte untersagt und nur so konnte das Schreckliche geschehen . . .

Seit Jahren hatte sie mit Mrs. Symington, in deren Hause sie nach dem frühen Tode ihrer Eltern ein liebevolles Heim gefunden, für ihren zwanzigsten Geburtstag den großen Bummel durch die alte Welt geplant und nach und nach sogar auch schon in allen Einzelheiten festgelegt. Plötzlich aber sollte dieser herrliche Traum in Nichts zerrinnen, Mrs. Symington selbst durfte nicht reisen und wollte ihren Schützling auch niemandem anvertrauen.

Isabel wurde dieser Verzicht so schwer, daß sie sich zum ersten Male in ihrem Leben nicht willig fügte. Sie bat und schmollte, sie verwies auf ihre Gereiftheit und Selbständigkeit, bis der Widerstand der besorgten Frau endlich gebrochen war.

Und dann waren für Isabel Longden Tage, Wochen und Monate von immer neuen unvergänglichen Eindrücken gekommen. Sie hatte mit ihrem Wagen Frankreich, Spanien, die Riviera und Italien durchstreift, hatte die Alpen, die Donau und den Rhein gesehen und war schließlich in Paris gelandet.

Und während dieses ganzen weiten Weges war sie überall mit der Sicherheit einer erfahrenen Weltreisenden aufgetreten. Die vielen Empfehlungen, mit denen sie ausgestattet worden war, ruhten noch heute in ihren Koffern, denn sie wollte frei von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen bleiben und sich allein durchschlagen. Nur bei dem Ankauf von Kunstgegenständen, für die sie ein kleines Vermögen ausgeworfen hatte, ließ sie sich gerne an die Hand gehen. In Paris hatte ihr dabei ein Landsmann, in dessen kleinen Laden sie durch Zufall geraten war, gute Dienste geleistet, und von ihm war ihr auch einer seiner Geschäftsfreunde in London empfohlen worden.

Aber alle Erinnerungen an diese wundervolle Zeit waren nun in Isabel mit einem Schlage erloschen, um einer verzweifelten Hoffnungslosigkeit Platz zu machen. Seit dem gestrigen Abend hatte sie nur mehr ein grauenvolles Bild vor Augen, das sie nicht losließ und ihre Gedanken ohne Unterlaß durch eine peinvolle Hölle hetzte.

Wenn sie in jenem furchtbaren Augenblick allein gewesen wäre, hätten wohl ihre Kräfte versagt, und je mehr sie grübelte, desto sehnlicher wünschte sie, daß es so gewesen wäre. Sie wußte nur, daß sie unverantwortlich gehandelt hatte, aber das Entsetzen und die Furcht hatten sie willenlos und blindlings gejagt und in eine Sackgasse getrieben, aus der sie nun keinen Ausweg sah.

Wo befand sie sich? Wer war der Mann, der ihr Zuflucht gewährt hatte? Wie lange sollte das dauern? Und was war damit gewonnen? Das Schreckliche konnte ja nicht mehr ungeschehen gemacht werden . . .

Nein, es konnte nie mehr ungeschehen gemacht werden . . .

Isabel starrte mit trockenen, fiebrigen Augen in die Nacht, die langsam heraufzog und ihr statt eines erlösenden Schlafes neue Qualen bringen würde. Wenn wenigstens eine kurze Nachricht von der Außenwelt zu ihr gedrungen wäre. Man hatte ihr versprochen, sie wissen zu lassen, wie es stand, aber heute würde sie wohl nichts mehr hören . . .

An der düsteren Hofmauer flitzte ein behender Schatten hin, und um das Haus kreiste ein ergrimmtes heiseres Bellen.

Das junge Mädchen schauerte erschreckt zusammen, und unten schlug Mrs. Drew mit der fettigen Hand erbost auf den Tisch.

»Verdammter Höllenracker«, knurrte sie mit vollem Munde. »Er ist auf einmal außer Rand und Band. In der vergangenen Nacht hat er mich dreimal aufgeweckt. Wahrscheinlich wittert er, daß jemand Fremdes im Hause ist. Das kann gut werden . . . Aber ich werde ihm die Hühnerknochen geben. Hoffentlich bleibt ihm einer im Halse stecken, und er erstickt daran.«

Der Köter schlang sehr gierig, aber er erstickte nicht, sondern trieb es nach einigen Minuten noch ärger als zuvor. Die Gestalt jenseits der Mauer mochte es noch so behutsam anstellen, der Bastard bekam sofort Wind und folgte ihrem Wege innen mit geiferndem Wutgeheul.


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