Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

Dan Kaye war ein Mann von Takt, und als er so um die vierte Nachmittagsstunde Blackfield erreichte, sagte er sich, daß es wohl nicht recht schicklich wäre, wenn er bei hellem Tageslicht an die Tür seines ehemaligen Kameraden klopfte. Er sah ja nicht gerade wie ein Besuch aus, mit dem man Staat machen konnte, und seinetwegen sollte der feine James nicht in das Gerede der Leute kommen.

Er wollte also lieber warten, bis es ein bißchen dunkel geworden war. Wo das Buschhaus beiläufig lag, hatte er bereits auf dem Weg von der Station durch einen freundlichen Plausch mit einem kleinen Jungen herausgebracht, und es war nicht schwer, sich dorthin zurechtzufinden. Außerdem hatte er ja eine Menge Zeit, denn sein letzter Zug ging erst gegen elf.

Es war Dan sehr willkommen, daß er eine Weile verschnaufen und endlich daran denken konnte, etwas gegen seinen höllischen Durst zu tun. Mit der sicheren Witterung eines Kamels für den Brunnen schlängelte er sich zwischen den netten Häuschen und Hecken hindurch, bis er an die Chaussee kam und den Waldrand vor sich hatte.

Hier stockte sein Fuß, denn das Wirtshaus »Zum reitenden Postillon« war nicht zu übersehen. Es stand massiv und sauber auf einem ausgedehnten, gepflegten Rasenplan neben der Straße, und nur das verwitterte Schild und die verblaßten Farben der sechsspännigen Extrapost, die unter dem First dahinjagte, zeugten von seinem ehrwürdigen Alter. Das beliebte Einkehrgasthaus von einst war bis auf den heutigen Tag mit der Zeit gegangen. Ein stattlicher, villenartiger Neubau etwas weiter in dem üppigen Grün bot zum Wochenende jeden Komfort, und der anschließende Golfplatz hatte den Ruf, einer der besten Mittelenglands zu sein.

Mrs. Hingley, die Wirtin, war ein Kompromiß, wie ihr schöner Besitz. Wie das Stammhaus war sie nett und gediegen gebaut und hatte auch schon einige Jahrzehnte gesehen, aber sie war modern gekleidet und frisiert, und ihre breiten, runden Fingernägel waren ständig frisch lackiert. Vorn in der Schenke setzte sie sich durch ihre tiefe, energische Baßstimme in unbestrittenes Ansehen, den Gästen des Golfhauses aber machte sie sich, wenn sie danach Verlangen zu tragen schienen, außer durch ihre selbstverständliche hausfrauliche Fürsorge auch gern noch durch ein bißchen Konversation angenehm.

Der elegante junge Herr, der vor etwa einer halben Stunde in einem ebenso eleganten Auto angekommen war, schien danach Verlangen zu tragen, denn er nahm die ersten beiläufigen Bemerkungen, mit denen die stattliche Wirtin sein Unterhaltungsbedürfnis taktvoll sondierte, mit liebenswürdigstem Interesse auf.

Das veranlaßte Mrs. Hingley, ihm beim Tee, den er sich auf der sonnigen Terrasse servieren ließ, Gesellschaft zu leisten.

»Es ist sonst lebhafter und unterhaltender bei uns«, versicherte sie. »Besonders im Sommer. Aber auch jetzt haben wir, wenn halbwegs schönes Wetter ist, über Sonnabend und Sonntag immer eine Menge Gäste. Letzte Woche konnte ich sogar einige Herrschaften, die sich nicht angemeldet hatten, nicht einmal unterbringen. Die meisten kommen wegen unseres Golfplatzes. Sie werden sich ihn wohl auch ansehen. Man sagt, daß er fast so schön sei wie jener von St. Andrews, wenn es hier auch keine Klippen und kein Meer gibt. Er ist von Mr. Paulsen angelegt worden, meinem ersten Gatten«, – Mrs. Hingley seufzte und griff pietätvoll an eines der drei Medaillons, die sich einträchtig auf ihrem Busen wiegten – »der selbst ein leidenschaftlicher Golfspieler war. Mein zweiter Mann« – die gefühlvolle Witwe fingerte nach der nächsten goldenen Kapsel – »hat dann die Pläne für das Golfhaus entworfen, und der dritte« – Mrs. Hingley seufzte besonders schwer und tief und suchte an dem letzten Anhängsel Halt – »hat sie durchgeführt. Leider ist er bereits im nächsten Sommer gestorben . . .«

»Oh . . .!« sagte Mr. Alf Duncan, und in seiner angenehmen Stimme und in seinem Blick lag so viel Mitempfinden, daß die dreifache Witwe jäh alle ihre Talismane umklammerte, um ihrer seltsamen Verwirrung Herr zu werden.

»Ja«, stammelte sie mit züchtig gesenkten Augen, »und seither ruht hier alles auf mir. Und manchmal ist es fast zu viel für eine alleinstehende Frau. Ich habe zwar einen Geschäftsführer, den Sie ja gesehen haben, aber der Mann ist etwas schläfrig. Als die Sache mit dem Schwarzen Meilenstein passierte, bin ich wochenlang nicht zur Ruhe gekommen.«

»Dem Schwarzen Meilenstein?« fragte der liebenswürdige junge Mann mit erstaunten Augen, und Mrs. Hingley fand ihre Unbefangenheit und volle Gesprächigkeit wieder.

»Ach, davon haben Sie noch nicht gehört? Es ist von hier aus der zweite Stein auf der rechten Straßenseite. Er liegt mitten im Wald gleich hinter der großen Biegung. Dort sind heuer im Sommer kurz hintereinander mehrere Autos verunglückt, und die Fahrer waren alle tot. Der erste war sogar so schrecklich zugerichtet, daß man bis heute nicht herausbringen konnte, wer er eigentlich war. Die übrigen aber waren sehr reiche und angesehene Leute. Die Unfälle haben sich immer in der Nacht ereignet, und natürlich sind deshalb alle möglichen gruseligen Geschichten aufgekommen. Nach dem dritten Unglück gab es hier jeden Tag ganze Prozessionen von Neugierigen, und an einem Nachmittag haben bei uns an sechshundert Autos geparkt. – Jetzt ist aber schon seit Wochen nichts mehr geschehen, und deshalb werden auch von heute an die Leute vom Automobilklub nicht mehr Wache halten. Es wird aber trotzdem noch immer allerlei über die Sache geredet. So hat zum Beispiel eines meiner Aushilfsmädchen, das zu Hause in der nächsten Ortschaft schläft, heute früh ganz aufgeregt erzählt, daß in der letzten Nacht ein großes, gespensterhaftes Auto an ihr vorbeigesaust sei . . .«

»Wie sagten Sie, liebe Mrs. Hingley?« erkundigte sich der junge Mann artig, indem er sich eine Zigarette anzündete.

Die empfängliche Wirtin tastete wieder nach ihren drei Seligen und lächelte mit neckischer Verschämtheit.

»Was werden Sie sich von mir denken, daß ich so alberne Geschichten nachplappere? Natürlich glaube ich nicht ein Wort davon. Schon deshalb nicht, weil das Mädchen gesehen haben will, wie der Wagen in einen Weg eingebogen ist, auf dem kaum ein gewöhnliches Fuhrwerk weiterkommen könnte, da er schon lange Jahre nicht mehr befahren wird. Mit einem Auto müßte man sich dort den Hals brechen. Auch wüßte ich nicht, was jemand in Alderscourt zu suchen haben könnte. Es ist eine nicht mehr bewirtschaftete Farm, und die beiden Frauen, die seit einiger Zeit dort wohnen, sind wohl kaum auf Besuch eingerichtet.«

Der höfliche Mr. Duncan hörte sehr aufmerksam zu und ließ dabei den Blick über das stille Fleckchen Erde gehen, das in bunten, herbstlichen Farben prangte.

»Sie haben es hier so hübsch, liebe Mrs. Hingley, daß ich einige Tage bleiben möchte«, sagte er mit schwärmerischen Augen. »Hoffentlich haben Sie etwas frei . . .«

»Ob ich etwas frei habe«, versicherte die Wirtin hastig und war dabei so aufgeregt, daß sie in den energischen Baßton verfiel, den sie sonst nur vorn im »Reitenden Postillon« hören ließ. Sie erschrak sogar selbst darüber und ging sofort wieder in ein unendlich süßes Gurren über. »Ich werde Ihnen Nummer 4 herrichten lassen. Es ist das netteste Zimmer, das wir haben, mit einer wundervollen Aussicht.«

»Danke, liebe Mrs. Hingley«, sagte der junge Mann herzlich, aber seine Augen sagten noch mehr, und die bedrängte Witwe tastete mit zitternder Hand wieder einmal nach ihrem Halse. »Lassen Sie also gütigst mein Gepäck aus dem Auto schaffen. Ich werde mittlerweile einen Spaziergang unternehmen und mir die Umgebung ein bißchen ansehen. Natürlich auch den berühmten Schwarzen Meilenstein. Da es aber dabei vielleicht etwas spät werden wird, und ich die Hausordnung nicht gerne stören möchte, wollen Sie mir, bitte, auf meinem Zimmer ein kaltes Abendbrot zurechtstellen lassen.«

Mrs. Hingley erhob durch eine kurze Geste Einspruch.

»Unsere Hausordnung richtet sich nach den Wünschen unserer Gäste«, erklärte sie. »Wann immer Sie auch zurückkommen, es wird Ihnen ordentlich serviert werden. Wir sind vollkommen darauf eingerichtet. Mr. Gwynne, der bereits seit einigen Monaten bei uns wohnt, kennt überhaupt keine bestimmte Tageseinteilung. Er steht oft erst spät am Nachmittag auf und nimmt seine Mahlzeiten ganz unregelmäßig ein. Manchmal hat er sogar nach Mitternacht noch irgendeinen Wunsch. Er sagt, daß er vom Theater her gewöhnt sei, so zu leben. Er ist nämlich ein berühmter Künstler und . . .«

Die mitteilsame Wirtin verstummte jäh, denn an der Terrasse stolzierte ein würdevoller Mann auf etwas zu dünnen Beinen vorüber. Er hatte ein breites Kalmückengesicht mit tiefliegenden, kleinen Augen und einem vorgeschobenen viereckigen Kinn, wie es sich ein Boxer bei seinem Gegner nicht handlicher wünschen konnte.

Als er Mrs. Hingley gewahrte, winkte er ihr mit der fleischigen Hand gönnerhaft zu, ohne den neuen Gast an ihrer Seite auch nur eines Blickes zu würdigen. Von dem feschen Alf Duncan war aber in diesem Augenblick auch nicht viel zu sehen. Er hatte den Kopf tief gebeugt, die Schultern nach vorn gezogen und hockte krumm und dünn wie ein gebrochener Halm auf seinem Stuhl.

»Das war er . . .«, flüsterte die Witwe.

»Ja, das war er . . .«, flüsterte auch der junge Mann, indem er sich vorsichtig wieder aufrichtete und die erglühende Mrs. Hingley mit seinen unwiderstehlichen Augen anstrahlte.


 << zurück weiter >>