Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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40

Perkins erreichte die Straßenkreuzung heil und noch einige Minuten zu früh, denn Duncan, der von einer anderen Seite kam, stellte sich erst auf die Sekunde ein. Das war dem Chefinspektor sehr recht. Die Ajaxe mußten um diese Begegnung nicht gerade wissen.

Nicht recht aber war es ihm, daß Duncan so tat, als ob er ihn wirklich bloß mit einer Portion frischer Luft abspeisen wollte. Sie fuhren nun bereits eine ziemliche Weile, ohne daß dieses unausstehliche Produkt von Eton und Oxford oder Cambridge eine Frage getan oder sonst irgendein Wort fallen gelassen hätte.

Dabei war Perkins mit seinen Neuigkeiten und Sorgen bis oben geladen, und als auch während der nächsten Meile nichts geschah, explodierte er.

Er fing mit seinem Bericht bei der Auffindung der Taschenlampe des Sergeanten an und vergaß keine einzige der Folgerungen, die sich dann ergeben hatten. Seine Darlegungen waren so knapp und klar, daß sie ein ganz genaues Bild davon ergaben, worum es sich handelte. Aber in seiner Bedrängnis hielt es der Chefinspektor für zweckmäßig, schließlich alles noch einmal kurz zusammenzufassen.

»Also«, sagte er, indem er zunächst die Finger der Linken zu Hilfe nahm, »erstens: Welche Bewandtnis hat es mit diesem verwünschten Buschhaus? – Zweitens: Warum ist Dan Kaye von Fielder oder Miss Reid hingeschickt worden, und warum und wie hat er sich dann beim Schwarzen Meilenstein den Hals gebrochen? – Drittens: Was hat sich bei dem Erkundungsgang des Sergeanten abgespielt, und auf welche Weise ist er in den Steinbruch gestürzt? – Viertens: Was soll das bedeuten, daß der andere wahrscheinlich erst hinuntergeworfen wurde, als er bereits eine ziemliche Weile tot war? – Fünftens: Wie konnten die beiden an einer Stelle liegen, auf der sie nicht auffallen konnten, und wieso sind die Kleidungsstücke richtig gefallen? – Sechstens: Warum hat man Miss Reid um die Ecke gebracht? – Sie ist mit ihrem Schal erdrosselt worden, aber es ist an ihr keine Spur eines Kampfes zu entdecken. – Und in ihrem Handtäschchen habe ich den Zettel Dans gefunden, der heute nacht aus meinem Zimmer verschwunden ist.«

Perkins war bei dem Zeigefinger der rechten Hand angelangt, zögerte aber nun einen Augenblick und schielte erwartungsvoll nach Duncan.

Was er sah, versetzte ihn in stille Wut. Der junge Mann ließ seine Blicke verträumt über die Landschaft gehen und hatte offenbar überhaupt nicht zugehört.

» . . . Und siebentens«, brüllte der Chefinspektor ergrimmt, indem er auf den ausgestreckten Finger hieb, daß es nur so knackte, »natürlich: Wer???«

»Ja . . .«, schreckte der verträumte junge Mann jäh auf, und dann sagte er plötzlich: »Donnerwetter . . .«, stoppte und wies mit starren Augen nach einer Waldwiese.

Perkins folgte begierig der Richtung, wurde aber arg enttäuscht.

»Ein kleiner Hirsch«, meinte er ungeduldig und etwas ungenau, weil er für vierbeiniges Wild kein Interesse hatte.

»Ein Bock«, mußte er sich von dem außer Rand und Band geratenen jungen Mann belehren lassen. »Und schon ein sehr guter. Wenn ich jetzt eine Büchse bei der Hand hätte, bei Gott, ich weiß nicht . . .«

»Da hätten wir eigentlich die kleine Kanone von heute nacht mitnehmen sollen«, höhnte der kochende Chefinspektor. »Vielleicht hätten Sie das Vieh damit getroffen.« Aber plötzlich fiel ihm ein, daß dies eine Gelegenheit war, um endlich zur Sache zu kommen, und er wurde etwas zahmer.

»Darüber haben Sie mir übrigens auch noch nichts gesagt«, bemerkte er so beiläufig. »Wie haben Sie die Schweinerei entdeckt? Noch zwei Minuten, und es wäre zu spät gewesen.«

»Ja, dann hätte es wohl ein feierliches Doppelbegräbnis gegeben.« Der seltsame Gentleman lachte zynisch auf. »Stellen Sie sich nur vor: Chefinspektor Perkins vom Scotland Yard und Alf Duncan. – Das wäre ein schlechter Witz gewesen, was? Die Vorsehung sträubte sich auch dagegen und hat mich bemerken lassen, wie die Zündschnur in Brand gesetzt wurde.«

»Wie die Zündschnur in Brand gesetzt wurde . . .? Da müssen Sie doch auch sonst noch etwas gesehen haben . . .«

Perkins war ganz Eifer und Spannung, aber statt einer sachlichen Antwort kam wieder einmal eine etwas alberne Frage.

»Besitzen Sie ein Feuerzeug?«

»Nein«, erklärte der Chefinspektor kurz. »Der Schwindel taugt nichts. Das Beste und Verläßlichste sind Streichhölzer.«

Duncan nickte.

»Sehen Sie, das habe ich mir von Ihnen gedacht. Womöglich noch solche, die man am Hosenboden oder an der Stiefelsohle anreibt. Sie sind etwas – nun, sagen wir konservativ, lieber Mr. Perkins. Also ich habe sonst nichts gesehen und glaube auch nicht, daß etwas zu sehen war. Die Lunte hat von selbst zu glimmen begonnen.«

»Aha, ein Zeitzünder«, platzte der Chefinspektor prompt heraus, um zu zeigen, daß er doch nicht so rückständig war.

Aber diesmal schüttelte der unverdauliche junge Mann mit dem Kopf.

»Nein, kein Zeitzünder. Ein solcher wäre wohl im Rohr eingelagert gewesen und hätte auch dem Zweck nicht entsprochen. Die freundliche Bescherung sollte ja nicht zu einer bestimmten Stunde, sondern bei einer günstigen Gelegenheit losgehen. Und eine günstigere Gelegenheit, als den Augenblick, da wir beide so hübsch beisammen hockten, konnte es kaum geben. Man wäre mit einem Schlage den Jäger und den Parasiten los geworden. – Übrigens«, sprang Duncan wieder einmal unvermittelt ab, »weiß ich nun endlich bestimmt, weshalb Miss Reid gestern abend nicht gekommen ist: Sie hat auf dem Wege zu unserem Rendezvous mit Charles Barres gesprochen.«

»Mit Charles Barres?« entfuhr es dem Chefinspektor verwundert und zweifelnd. »Der Arzt meinte doch, daß der Mann um diese Zeit bereits tot war . . .«

»War er auch«, lautete Duncans verblüffende Antwort. »Wahrscheinlich sogar bereits volle vierundzwanzig Stunden. – Sagen wir also besser, Miss Reid hat mich aufsitzen lassen, weil sie Charles Barres gefunden und mit ihm gesprochen zu haben glaubte.«

Perkins fieberte.

»Woraus schließen Sie das?« drängte er.

»Aus ihrem Verhalten und aus der Lage der gewissen Kleidungsstücke im Steinbruch.«

»Was haben die Kleidungsstücke damit zu tun?«

»Alles. – Ohne diese Kleidungsstücke wäre es wohl nicht so leicht gewesen, Miss Reid von ihrem Wege zu mir abzubringen und auf den Hang zu locken. Zu welchem Zweck, muß ich Ihnen gewiß nicht erst erklären. Man hätte dann eben heute noch ein drittes Opfer drüben gefunden. Das hatte ich gleich vermutet, aber Sie waren zu dicht hinter ihr her, und das hat ihr Leben um eine Nacht und einen Morgen verlängert. Man hat ihr wohl in dem undurchdringlichen Dunkel mit der Heimlichkeit, die ja geboten schien, rasch Verhaltungsmaßnahmen zugeflüstert, und sie hat sie befolgt, weil sie meinte, daß sie von Barres gekommen seien. Dazu gehörte offenbar auch, daß sie in einem günstigen Augenblick – sie war ja ziemlich lange allein im Golfhaus – den gewissen Zettel an sich nahm. Und daß sie sich heute vormittag zu einer bestimmten Stunde wieder am Hang einzufinden hatte. – Wie gesagt, es war ein unverzeihlicher Fehler von mir, daß ich sie aus den Augen ließ . . .«

Alf Duncan hatte eine tiefe Falte zwischen den Brauen, und der Chefinspektor zögerte eine Weile, bevor er verriet, daß er noch immer nicht ganz verstanden hatte.

»Was meinten Sie aber mit der Lage der Kleider?«

»Damit meinte ich, daß diese wirklich oben vom Rande hinunter geworfen wurden, nachdem sie dem gewissen Zweck gedient hatten. – Die beiden Leichen aber . . .«

»Nun?« forschte Perkins in unerträglicher Spannung, als einige Sekunden verstrichen waren.

»Das muß ich mir erst noch ein bißchen überlegen«, erwiderte Alf Duncan kurz, und der Chefinspektor gab sich wirklich zufrieden, denn das war schon etwas. Er achtete nun sogar die verträumte Schweigsamkeit, in die der junge Mann an seiner Seite plötzlich wieder verfiel, und erst nach einer langen Viertelstunde wagte er die schüchterne Frage:

»Wohin soll die Reise eigentlich gehen?«

»Nach Thame«, erhielt er zur Antwort. »Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, mich mit Ihrem dortigen Kollegen bekanntzumachen. Es ist für unsereinen wertvoll, auch mit der Polizei auf dem Lande Beziehungen zu haben. Man wird dann doch ein bißchen rücksichtsvoller behandelt, wenn man das Pech hat, mit ihr dienstlich in Berührung zu kommen.«

Mr. Perkins Stimmung hatte sich so gebessert, daß er zum ersten Mal an diesem kritischen Tage sein breites Feixen wiederfand.


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