Louis Weinert-Wilton
Der schwarze Meilenstein
Louis Weinert-Wilton

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35

So gegen Mittag wurde es auf dem weiten Rasenplan um den »Reitenden Postillon« wieder gewaltig lebendig. Erst kamen die Privatwagen, dann die Autobusse und Motorräder und schließlich lange Schlangen von Fußgängern, die, wenn sie schon kein Auto hatten, wenigstens nicht um das Gruseln kommen wollten. Auf der Chausseestrecke zum Schwarzen Meilenstein wimmelte es wie in Picadilly Circus zur Stunde des Theaterbeginns, und im Golfhaus wie zur Dinnerzeit im Carlton oder Claridge.

Auch die Straßenschenke bekam ihre Gäste ab, und da litt es Mrs. Hingley nicht länger in der Zurückgezogenheit, die sie sich wegen der schrecklichen Nacht auferlegt hatte. Aber sie beschränkte ihr Schalten auf den großen Küchenraum im Stammhaus, von dem sie ja gottlob so ziemlich alles übersehen konnte. Vor den Gästen mochte sie sich um keinen Preis zeigen, denn sie schämte sich in Grund und Boden. Was mußten sich die vielen feinen Leute von dem Golfhaus denken, da es wie eine Räuberhöhle zugerichtet war? Sie hatte zwar noch in der Nacht die Absicht geäußert, die Fassade gleich am frühen Morgen rasch verputzen zu lassen, obwohl das mindestens fünfzig Schilling kosten würde, aber Mr. Perkins, der übrigens sehr schlechte Manieren hatte, war dagegen gewesen. Das müßte vorläufig so bleiben, hatte er sie grob angefahren, und der feinfühligen Witwe kam es nun so vor, als ob die garstigen Löcher nicht nur in der Mauer, sondern auch in den Kleidern auf ihrem Leibe und in ihrer Ehre säßen, und sie fühlte sich sehr unglücklich.

Hauptsächlich aber eigentlich wegen der anderen Sache, die sie geradezu bange machte. Sie hatte doch ihre bisherigen Männer einen nach dem andern gewiß so betrauert, wie es sich schickte, aber das konnte doch nicht ewig so fortgehen. Schließlich kam sie ja eigentlich erst in die besten Jahre, und wenn sie einmal ihre Verewigten in die Kommode steckte, so war dies doch keine so große Sünde, daß deshalb gleich ein Unglück über das andere über sie kommen mußte. Wenn nur William sich den Fuß vertreten hätte, hätte sie ja nichts gesagt, aber daß man ihr deshalb gleich ihr schönes Haus zusammenschoß, hatte sie gewiß nicht verdient.

Für alle Fälle aber hatte sie heute wieder ihre Medaillons umgehängt und ein Kleid angezogen, das bis zum Halse zu war. Und in einen Plausch mit Mr. Duncan wollte sie sich nur mehr einlassen, wenn sie absolut nicht ausweichen konnte.

Sie stellte sich zu diesem Zwecke immer wieder für ein Weilchen knapp an die Ecke neben der Küchentür, um die er vom Golfhaus her kommen mußte, aber Mr. Duncan kam nicht. Er trieb sich augenblicklich drüben auf dem Parkplatz umher, wo er zunächst seinen Wagen aus der Garage brachte und von außen und innen mit großer Gründlichkeit beguckte. Dann schob er den Hut noch etwas unternehmender aufs Ohr und die Hände in die Hosentaschen und interessierte sich ein bißchen für die Leute, die angefahren kamen. Er hätte mindestens jeden Dritten beim Namen nennen können, und es waren sehr klangvolle und gute Namen darunter. Hie und da hob einer der Ankömmlinge überrascht die Hand zu einer freudigen Begrüßung, hielt aber auf halbem Wege inne, weil der andere Gentleman gar so fremd tat. Und eine offenbar etwas stürmische und sehr junge Dame, die mit ihrem Zweisitzer in einem guten Hundertkilometertempo angerast kam, jubelte sogar ein lautes »Hallo – my boy«, hätte aber vor Verlegenheit fast den Finger in den hübschen offenen Mund gesteckt, als sie einem so abweisenden, kalten Blick aus schrecklich dreinschauenden Augen begegnete.

Fünf Minuten später erzitterte der Boden und erdröhnte die Luft, und auf dem Herd im »Reitenden Postillon« tanzte sogar das Geschirr. Zum größten Entsetzen von Mrs. Hingley, die befürchtete, daß eine neue Heimsuchung über sie kommen solle.

Es kam aber bloß Mr. Hunter, Unterinspektor vom Scotland Yard, genannt Ajax der Rasende. Er hockte in seinem offenen Ungetüm wie ein Abc-Schütze in einer Primanerbank, und nur die achtunggebietende Hakennase ragte über das Steuer und schnitt wie ein scharfer Kiel in die flimmernde Luft. Mr. Hunter hatte eine Vorschrift aus den letzten Tagen des verflossenen Jahrhunderts herausgeschnüffelt, die anordnete, daß bei Dienstfahrten mit dem neuen Verkehrsmittel die Geschwindigkeit des Wagens »voll« auszunützen sei, und wie an jede andere Vorschrift, hielt sich Mr. Hunter auch an diese mit pedantischer Genauigkeit. Seine kleinen funkelnden Augen hafteten ununterbrochen auf dem Geschwindigkeitszeiger, ob dieser auch wirklich nicht um einen Teilstrich zurückrutsche, und der Mann an seiner Seite murmelte unterdessen mit klappernden Lippen inbrünstige Stoßgebete.

Mehr hatte Mr. Bell, Ajax der Andere, für gewöhnlich nicht zu reden, obwohl er eigentlich erst dort so richtig anfing, wo Mr. Hunter bereits aufhörte. Er durfte sich erst dann zur Geltung bringen, wenn der Wagen aus einem Straßengraben herauszubugsieren oder Ajax der Rasende aus einer jener Patschen herauszuhauen war, in die er durch seine Schneidigkeit des öfteren zu geraten pflegte.

Mr. Hunter hüpfte, Mr. Bell aber schob sich aus dem Wagen, und dann blickten beide wie auf Kommando nach dem neugierigen jungen Gentleman in der Mitte des Parkplatzes. Dann sah der eine der Ajaxe starr nach links, der andere ebenso starr nach rechts, und Mr. Hunter holte eine Spezialkarte hervor, auf der er mit dem Zeigefinger herumzusuchen begann. Mr. Bell hockte sich nieder, um ihm über die Schulter gucken zu können, hielt aber dabei die Hände krampfhaft auf dem Rücken. Es war ihm verboten, bei solchen Orientierungen der Karte mit dem Finger nahezukommen, weil er damit immer gleich einige Meilen im Umkreis verdeckte.

Alf Duncan fand das Schauspiel dieser Massenauffahrt auf die Dauer doch etwas langweilig. Als sein Wagen in der nächsten Viertelstunde in der entgegengesetzten Richtung des Schwarzen Meilensteins verschwand, blickten ihm die Ajaxe mit gespitzten Augen nach, und dann nickten sie beide so gleichzeitig und abgemessen, als ob ihre Köpfe an einem Draht gezogen würden.


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