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26.

»Ja,« dachte Olenin, als er auf dem Heimwege begriffen war, »ich brauchte mir nur die Zügel etwas locker zu lassen, und ich würde mich in dieses Kosakenmädchen bis über die Ohren verlieben.« Mit diesem Gedanken legte er sich schlafen, meinte jedoch, daß alles dies vorübergehen und sein altes Leben wieder zurückkehren würde.

Doch das alte Leben kehrte nicht wieder. Seine Beziehungen zu Marianka waren andere geworden. Die Wand, die sie bisher getrennt hatte, war beseitigt. Olenin grüßte sie bereits jedesmal, wenn er sie traf.

Der Hausherr kam, um das Geld für die Wohnung in Empfang zu nehmen, und als er von Olenins Reichtum und Freigebigkeit hörte, lud er ihn zu sich ein. Die Alte empfing ihn freundlich, und seit jener Abendgesellschaft ging er nun häufig des Abends zu den Wirtsleuten hinüber und blieb bei ihnen bis in die Nacht. Zwar schien es, als führe er sein Leben im Dorfe ganz nach alter Weise fort, in seiner Seele jedoch war alles verwandelt. Den Tag verbrachte er im Walde, gegen acht Uhr aber, wenn es dunkel wurde, ging er zu den Wirtsleuten, allein oder mit Onkel Jeroschka. Die Wirtsleute hatten sich schon so an ihn gewöhnt, daß sie sich wunderten, wenn er einmal nicht kam. Er bezahlte den Wein reichlich und war ein ruhiger Mensch, das sprach bei ihnen sehr für ihn. Wanjuscha brachte ihm den Tee, und er setzte sich in die Ecke am Ofen; die Alte ging, ohne sich Zwang anzutun, ihrer Arbeit nach, und sie unterhielten sich beim Tee oder beim Wein über die Angelegenheiten der Kosaken, über die Nachbarn, über Rußland, von dem Olenin ihnen erzählte, während sie Fragen stellten. Zuweilen brachte er ein Buch mit und las für sich. Marianka drückte sich, wie ein Reh, scheu in eine dunkle Ecke oder saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Ofen. An der Unterhaltung nahm sie nicht teil, aber Olenin sah ihre Augen, ihr Gesicht, hörte ihre Bewegungen, das Knacken der Melonenkerne, und er fühlte, daß sie mit ihrem ganzen Wesen lauschte, wenn er sprach, und fühlte gleichsam ihre Gegenwart, wenn er schweigend las. Bisweilen schien es ihm, als seien ihre Augen auf ihn gerichtet, und wenn er dann ihrem Glanze begegnete, verstummte er unwillkürlich und schaute nach ihr hin. Dann blickte sie rasch fort, er aber tat, als sei er ganz von dem Gespräch mit der Alten in Anspruch genommen, während er in Wirklichkeit auf jeden ihrer Atemzüge, jede Bewegung lauschte und nur wieder einen ihrer Blicke erwartete. In Gegenwart anderer war sie im Verkehr mit ihm zumeist heiter und freundlich, unter vier Augen jedoch nahm ihr Wesen etwas Scheues und Rauhes an. Mitunter ging er zu ihnen hinüber, bevor noch Marianka von der Straße zurück war; plötzlich ließen sich dann ihre kräftigen Schritte vernehmen, und ihr blaues Baumwollhemd wurde in der Türöffnung sichtbar; sie trat mitten ins Zimmer, sah ihn an, und ein freundliches Lächeln huschte kaum wahrnehmbar über ihre Augen; ihm aber ward davon so froh und zugleich bange ums Herz.

Er wollte nichts, verlangte nichts von ihr, mit jedem Tage jedoch wurde ihre Gegenwart ihm unentbehrlicher.

Olenin hatte sich so in das Dorfleben hineingefunden, daß die Vergangenheit ihm als etwas völlig Fremdes erschien und die Zukunft, soweit sie außerhalb dieser Welt lag, in der er jetzt lebte, ihn überhaupt nicht interessierte. Bekam er von seinen Verwandten oder Freunden Briefe, so ärgerte er sich immer, wenn darin von ihm mit Bedauern wie von einem Verlorenen gesprochen wurde, während er in seinem Kosakendorfe alle diejenigen als Verlorene ansah, die nicht ebenso lebten wie er selbst. Er war davon überzeugt, daß er es niemals bereuen werde, sich von seinem früheren Leben losgerissen und so ganz abgesondert, ganz nach eigenem Geschmack in seinem Kosakendorfe eingerichtet zu haben. Auch auf den Märschen und in den Festungen hatte er sich schon ganz wohl gefühlt; aber erst hier, unter Onkel Jeroschkas Fittichen, in seinem Walde, seiner Hütte am Rande des Dorfes, ganz besonders aber bei dem Gedanken an Marianka und Lukaschka wurde ihm jene ganze Verlogenheit klar, in der er bis dahin gelebt hatte, die ihn auch dort schon empört hatte, die ihm aber jetzt vollends widerwärtig und lächerlich erschien. Mit jedem Tage fühlte er sich hier freier und mehr als Mensch. Ganz anders, als er es sich ausgemalt hatte, erschien ihm in Wirklichkeit der Kaukasus. Er hatte hier nichts gefunden, was seinen eignen Träumereien oder all den Schilderungen des Kaukasus ähnlich gewesen wäre, die er gehört und gelesen hatte. »Es gibt hier keine jähen Klüfte und Abgründe, keine Amalet-Beks, keine Helden und Bösewichte,« dachte er – »die Menschen leben, wie die Natur lebt: sie werden geboren, sie verbinden sich, sie kämpfen, essen, trinken, freuen sich und sterben, und es gibt für sie keine anderen Normen, als jene unveränderlichen, welche die Natur auch für die Sonne, das Gras, das Wild, den Baum festgelegt hat. Andere Gesetze kennen sie nicht ...« Und darum erschienen ihm diese Menschen, im Vergleich mit ihm selbst, schön, stark und frei, und wenn er sie anschaute, empfand er Scham und Trauer um sich selbst. Nicht selten kam ihm allen Ernstes der Gedanke, alles hinzuwerfen, sich unter die Kosaken einschreiben zu lassen, sich ein Häuschen zu kaufen, Vieh zu halten, eine Kosakin zu heiraten – doch nicht Marianka, die wollte er dem Lukaschka überlassen – mit Onkel Jeroschka zusammenzuleben, mit ihm auf die Jagd und den Fischfang zu gehen und an den Streifzügen der Kosaken teilzunehmen. »Warum tu' ich das nicht? Warum zögre ich noch?« fragte er sich. Und er spornte sich selbst an und schalt auf sich: »Fürchte ich mich am Ende gar, das zu tun, was ich selbst für verständig und richtig befinde? Ist etwa der Wunsch, ein einfacher Kosak zu sein, in innigem Verkehr mit der Natur zu leben, keinem Menschen zu schaden, allen Menschen vielmehr Gutes zu tun – ist ein solcher Wunsch etwa törichter als jenes Streben, das mich früher erfüllte: beispielsweise Minister oder Regimentskommandeur zu werden?« Doch eine innere Stimme sagte ihm, er möge warten und sich noch nicht entscheiden. Ein unklares Bewußtsein, daß er doch nicht so ganz das Leben eines Jeroschka oder Lukaschka führen könne, weil seine Vorstellung vom Glück eine andere sei, hielt ihn noch zurück. Er sah das Glück in der Selbstverleugnung, und diese Idee hemmte seine Entschließungen. Immer noch machte ihm sein selbstloses Verhalten gegenüber Lukaschka Freude. Immer noch suchte er Gelegenheiten, sich für andere zu opfern – wenn sich auch solche Gelegenheiten ihm nicht darbieten wollten. Zuweilen vergaß er allerdings dieses von ihm neu entdeckte Glücksrezept und glaubte, daß er es wohl auch fertig bringen würde, sich mit Onkel Jeroschkas Lebensweise zu befreunden; aber dann besann er sich plötzlich und flüchtete wieder zu seiner Idee der bewußten Selbstverleugnung, und von diesem sittlichen Fundamente aus blickte er ruhig und stolz auf alle Menschen, alles fremde Glück herab.


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