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8.

Es war bereits ganz dunkel, als Onkel Jeroschka und die drei Kosaken, in kurze Filzmäntel gehüllt, die Flinte über der Schulter, vom Wachthause aus am Terek entlang nach der Stelle gingen, die für den vorgeschobenen Posten ausersehen war. Nasarka hatte durchaus keine Lust zum Mitgehen, doch Luka ließ ihn hart an, und so machten sie sich rasch auf den Weg. Sie gingen schweigend einige Schritte, bogen dann seitwärts ab und kamen auf einem kaum sichtbaren schmalen Fußpfad durch das Schilfrohr ans Ufer des Terek. Hier lag ein dicker schwarzer Balken, den das Wasser angeschwemmt hatte; das Schilf rings um den Balken war frisch zertreten.

»Sollen wir uns hier auf die Lauer legen?« begann Nasarka.

»Wo denn sonst?« sagte Lukaschka. »Bleib hier sitzen, ich bring' nur den Onkel auf die Wildschweinsfährte und bin gleich wieder zurück.«

»Ein guter Platz,« bemerkte Jerguschow – »uns sieht man nicht, und wir können alles sehen! Hier wollen wir bleiben – wirklich ein sehr guter Platz!«

Nasarka und Jerguschow breiteten ihre Filzmäntel aus und machten es sich hinter dem Balken bequem, während Lukaschka mit Onkel Jeroschka weiterging.

»Hier in der Nähe ist es, Onkel,« sagte Lukaschka leise, während er unhörbar vor dem Alten herschritt. »Ich zeige dir, wo sie vorübergelaufen sind. Außer mir weiß es niemand, Bruder.«

»Zeig's mir nur, Greifer – bist ein wackrer Bursche,« entgegnete der Alte, gleichfalls flüsternd.

Sie gingen ein paar Schritte weiter, dann blieb Lukaschka stehen, bückte sich über eine Pfütze und ließ einen Pfiff hören.

»Hier sind sie vorübergekommen, auf dem Wege zur Tränke, siehst du?« sagte er kaum hörbar, während er auf die frische Spur wies.

»Christus beschütze dich,« antwortete der Alte. »Der Eber wird jenseits des Grabens sein, in seinem Schlammloch,« fügte er hinzu. »Ich will hier sitzen bleiben, geh nur zurück!«

Lukaschka schob seinen Filzmantel höher und ging allein am Ufer entlang zurück, wobei er bald nach links, auf die Schilfwand, bald auf den zu seiner Rechten rauschenden Terek einen Blick warf.

»Auch sie werden hier irgendwo auf der Lauer liegen oder herumkriechen,« sagte er sich, im Geiste mit den Tschetschenzen beschäftigt.

Plötzlich hörte er im Wasser ein Rauschen und Plätschern: er fuhr zusammen und griff nach seiner Büchse. Vom Ufer her schoß ein Eber schnaubend an ihm vorüber: einen Augenblick hob die schwarze Gestalt des Tieres sich von der schimmernden Oberfläche des Wassers ab, um dann im Schilfe zu verschwinden. Luka riß schnell das Gewehr empor und legte an, doch kam er nicht mehr zum Schusse: der Eber war bereits ins Dickicht entkommen.

Luka spuckte ärgerlich aus und ging weiter. Als er dem Posten nahekam, blieb er wieder stehen und pfiff leise. Ein Pfiff kam als Antwort zurück, und er trat zu den Kameraden hin.

Nasarka lag, die Knie an die Brust gezogen, auf der Erde und schlief bereits. Jerguschow saß mit untergeschlagenen Beinen da und rückte ein wenig zur Seite, um Lukaschka Platz zu machen.

»Wie hübsch es sich hier sitzt – wirklich ein guter Platz,« sagte er. »Hast du den Alten hingeführt?«

»Ich hab' ihm die Stelle gezeigt,« antwortete Lukaschka, während er seinen Filzmantel ausbreitete. »Eben habe ich einen mächtigen Eber aufgescheucht, ganz dicht am Wasser. Es muß derselbe gewesen sein, den ich schon früher sah. Hast wohl gehört, wie er krachend durchs Dickicht brach?«

»Hab' wohl ein Geräusch gehört, und ich dachte mir gleich: da hat wohl Lukaschka ein Stück Wild aufgejagt,« sagte Jerguschow und hüllte sich dichter in seinen Mantel. »Ich möchte jetzt schlafen,« fügte er hinzu – »wecke mich, sobald die Hähne gekräht haben, ich löse dich dann ab. Ich will jetzt schlafen und ausruhen – dann kannst du schlafen, während ich wache ... So machen wir's, wie?«

»Ich will gar nicht schlafen, danke,« antwortete Lukaschka.

Die Nacht war dunkel, warm und windstill. Nur auf der einen Seite der Himmelswölbung schimmerten die Sterne; der andere, größere Teil des Himmels, nach dem Gebirge zu, war von einer einzigen großen Wolke verhüllt. Die schwarze Wolke floß mit den Bergen in eins zusammen und zog langsam weiter, ohne daß der Wind sie trieb. Mit ihren ausgebuchteten Rändern hob sie sich scharf vom tiefblauen Sternenhimmel ab. Nur nach vorn hatte der Kosak einen freien Ausblick über den Terek und darüber hinaus in die Weite; hinter ihm und zu beiden Seiten stieg eine Wand von Schilfrohr empor. Zuweilen begann das Schilf, ohne sichtbare Ursache, zu wogen und zu rauschen. Von unten her gesehen, erschienen seine schwankenden Kolben am hellen Himmelsrande wie buschige Baumzweige. Dicht vor den Füßen hatten die Wachthabenden den Uferrand, unter dem der Fluß dahinrauschte. Weiterhin flimmerte die glänzende, bewegliche Masse der braunen Flut einförmig um die Sandbänke und Ufer. Noch weiter flossen dann Wasser, Ufer und Gewölk in undurchdringlichem Dunkel zusammen. Über die Oberfläche des Wassers zogen schwarze Schatten, die das geübte Auge des Kosaken als stromabwärts gehendes Schwemmholz unterschied. Ab und zu nur erhellte ein Wetterleuchten, das sich in dem dunklen Wasser spiegelte, die Linie des gegenüberliegenden steilen Ufers. Die einförmigen Laute der Nacht, das Rauschen des Schilfes, das Schnarchen der Kosaken, das Summen der Mücken und das Rieseln des Wassers wurden nur selten durch einen fernen Schuß, durch das Glucksen eines vom Ufer losgelösten Erdklumpens, durch das Aufspringen eines großen Fisches oder ein Knacken und Rascheln im Dickicht, das von dem durchbrechenden Wilde herrührte, unterbrochen. Eine Eule flatterte plötzlich auf und flog am Terek entlang weiter, wobei sie jedesmal beim zweiten Flügelschlag mit dem einen Flügel über den andern hinstrich. Dicht über den Köpfen der Kosaken machte sie eine Wendung zum Walde hin und flog auf einen Baum zu, wobei sie nicht mehr erst bei jedem zweiten, sondern bei jedem einzelnen Flügelschlage die Flügel aneinander hinstreichen ließ. Nach langem Hinundherflattern ließ sie sich endlich auf einer alten Platane nieder. Bei jedem dieser Laute spitzte der wachthabende Kosak die Ohren, kniff die Augen zusammen und tastete langsam nach seiner Büchse.

Ein großer Teil der Nacht war vergangen. Die schwarze Wolke, die sich weiter nach Westen hin verzogen hatte, ließ hinter ihren zerrissenen Rändern den klaren Sternenhimmel sehen, und die silberne Sichel des abnehmenden Mondes strahlte hell über dem Gebirge. Es war empfindlich kalt geworden. Nasarka erwachte, sprach ein paar Worte und schlief wieder ein. Lukaschka empfand Langeweile; er stand auf, holte sein Messer hervor und begann den abgeschnittenen Stecken zu einem Ladestock zurechtzuschnitzen. Wirre Gedanken gingen ihm durch den Kopf – daß dort im Gebirge die Tschetschenzen leben, daß ihre Krieger ans diesseitige Flußufer kommen, daß sie die Kosaken nicht fürchten und vielleicht in diesem Augenblick irgendwo den Fluß überschreiten. Und er neigte sich vor und spähte den Fluß entlang, doch war nirgends etwas zu sehen. Wenn er so nach dem Flusse und dem fernen Ufer hinschaute, das in dem matten Mondschein sich nur schwach vom Wasser abhob, vergaß er die Tschetschenzen ganz und gar und erwartete nur den Augenblick, da er die Kameraden wecken und selbst ins Dorf gehen würde. Dort im Dorfe würde er Dunjka sehen, sein »Seelchen«, wie die Kosaken ihre Geliebten nennen – und er ward unwillig, als er an sie dachte. Immer deutlicher wurden die Anzeichen des Morgens: silberweißer Nebel schimmerte über dem Wasser, und irgendwo in der Nähe ließ sich das durchdringende Pfeifen junger Adler und ihr Flügelschlag vernehmen. Endlich erscholl weither vom Dorfe das Krähen des ersten Hahnes, ein zweiter Hahn antwortete mit langgezogenem Schrei, und immer neue und neue Hahnenrufe folgten.

»Es ist Zeit, sie zu wecken,« dachte Lukaschka, der soeben seinen Ladestock fertiggeschnitzt hatte und nun fühlte, daß ihm die Lider schwer wurden. Er wandte sich nach den Kameraden um und suchte zu erraten, welchem von ihnen die einzelnen Beine gehörten. Da war's ihm plötzlich, als ob vom anderen Ufer des Terek ein Plätschern ertönte, und er wandte den spähenden Blick noch einmal nach dem sich aufhellenden Horizont, nach der Linie der Berge unter der umgekehrten Mondsichel, nach dem Umriß des jenseitigen Ufers, dem Laufe des Terek und den auf ihm heranschwimmenden Baumstämmen, die jetzt deutlich zu unterscheiden waren. Es schien ihm, daß er selbst sich bewege, während der Terek mit den Baumstämmen still dalag; doch dauerte das nur einen Augenblick, dann sah er wieder alles, wie es war. Er lugte scharf hinaus, und namentlich ein großer, dunkler Stamm mit einem Aste zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ganz sonderbar, ohne zu schwanken oder sich zu drehen, schwamm dieser Baumstamm mitten im Flusse daher. Es schien Lukaschka, daß er nicht mit der Strömung schwimme, sondern den Terek in der Richtung auf eine Sandbank zu durchschneide. Lukaschka reckte den Hals vor und begann den heranschwimmenden Baumstamm gespannt zu beobachten. Jetzt näherte er sich der Sandbank, machte Halt und begann sich auf seltsame Art zu bewegen. Es schien Lukaschka, als sehe er plötzlich eine Hand unter dem Baumstamm. »Jetzt werde ich ganz allein einen Abreken töten!« dachte er, griff nach dem Gewehr, stellte flink, doch ohne Hast, die Stützgabel auf, legte das Gewehr darauf, spannte langsam den Hahn und begann mit verhaltenem Atem, immer scharf hinschauend, zu zielen. »Ich werde sie nicht wecken,« dachte er. Das Herz aber schlug ihm so heftig in der Brust, daß er im Zielen innehielt und lauschte. Der Baumstamm gluckste plötzlich auf und begann von neuem zu schwimmen, wobei er das Wasser in der Richtung nach dem diesseitigen Ufer durchschnitt. »Daß er mir nur nicht entschlüpft!« dachte Lukaschka, und plötzlich sah er beim schwachen Licht des Mondes einen Tatarenkopf vor dem Baumstamme emportauchen. Er zielte gerade auf den Kopf, der ihm ganz nahe, fast am Ende des Laufes, zu sein schien. Noch einmal blickte er hin: »Es ist einer, ein Abreke!« dachte er voll Freude, warf sich plötzlich mit einem Ruck auf die Knie, schob das Gewehr zurecht, hielt scharf auf das am Ende des langen Laufes kaum sichtbare Ziel, rief nach altem, von Kindheit auf geübtem Kosakenbrauch: »Im Namen des Vaters und des Sohnes!« und drückte leicht an dem Zäpfchen des Abzugs. Ein greller Blitz erhellte für einen Augenblick das Schilf und das Wasser. Der jähe, kurze Schall des Schusses tönte über den Fluß hin und ging irgendwo in der Ferne in ein knatterndes Dröhnen über. Der Baumstamm schwamm nicht mehr quer über den Fluß, sondern folgte, sich drehend und schaukelnd, der Strömung.

»Halt ihn, sag' ich!« schrie Jerguschow, während er nach dem Gewehr griff und sich hinter dem Balken erhob.

»Still, zum Teufel!« flüsterte Luka ihm zu, während er die Zähne aufeinanderbiß, »die Abreken sind da!«

»Auf wen hast du geschossen?« fragte Nasarka – »auf wen, Lukaschka?«

Lukaschka antwortete nicht. Er lud sein Gewehr und folgte mit den Augen dem fortschwimmenden Stamme. Dieser machte an einer Sandbank in der Nähe halt, und hinter ihm erschien irgendein Gegenstand von beträchtlichem Umfang, der im Wasser hin und her schwankte.

»Wonach hast du geschossen? Warum sprichst du nicht?« fragten wiederholt die Kosaken.

»Ich sag's euch ja: die Abreken!« entgegnete Luka.

»Lüge doch nicht! Ist wohl von selbst losgegangen, dein Gewehr? ...«

»Einen Abreken hab' ich getötet! Ich habe auf ihn geschossen!« versetzte Lukaschka, dem vor Aufregung fast die Stimme versagte, während er vom Boden emporsprang. »Er kam da herangeschwommen ...« sagte er, nach der Sandbank zeigend – »und ich habe ihn getötet. Seht doch!«

»'s wird wohl Schwindel sein,« ließ Jerguschow sich abermals vernehmen, während er sich die Augen rieb.

»Warum denn Schwindel? So guck doch hin! Sieh mal, dort!« sagte Lukaschka, faßte Jerguschow an der Schulter und zog ihn mit solcher Gewalt zu sich herüber, daß er aufstöhnte.

Jerguschow blickte nach der Richtung, die Luka ihm wies, und als er dort den Toten bemerkte, änderte er plötzlich seinen Ton.

»Ei, sieh doch! Ich sage dir: es werden ihrer noch mehr da sein, ganz bestimmt kann ich dir das sagen!« sprach er leise und begann sein Gewehr zu untersuchen. »Dieser da ist vorausgeschwommen; entweder sind sie schon hier oder, falls sie noch drüben sind, doch in nächster Nähe, kann ich dir für ganz bestimmt sagen!«

Lukaschka legte seinen Gurt ab und zog die Tscherkeska aus.

»Wohin denn, du Narr?« schrie Jerguschow ihn an. »Das laß nur bleiben! Gehst sonst um nichts und wieder nichts zugrunde, kann ich dir für ganz bestimmt sagen. Hast du ihn erschossen, dann läuft er dir nicht fort. Gib mir etwas Schießpulver zum Nachschütten. Hast du welches? ... Lauf rasch nach dem Wachthause, Nasar, geh aber nicht am Ufer entlang, sonst töten sie dich, kann ich dir für bestimmt sagen!«

»Ganz allein soll ich gehen? Geh doch selbst!« versetzte Nasarka ärgerlich.

Lukaschka, der seine Tscherkeska bereits abgelegt hatte, ging dicht ans Ufer heran.

»Geh nicht, sag' ich dir!« warnte ihn Jerguschow, während er Pulver auf die Pfanne seines Gewehrs schüttete. »Ich seh' es ganz deutlich: er rührt sich nicht mehr. Es ist nicht mehr lange hin bis zum Morgen, laß erst die andern aus dem Wachthause herkommen. Lauf, Nasar – fürchtest dich wohl, wie? Brauchst dich nicht zu fürchten, sag' ich dir.«

»Luka – du, Luka: sag' doch, wie hast du ihn totgeschossen?« fragte Nasarka.

Luka hatte seine Absicht, jetzt gleich ins Wasser zu gehen, bereits aufgegeben.

»Lauft beide rasch nach dem Wachthause, und ich bleibe hier,« sprach er. »Sagt den Kosaken, sie sollen Streifwachen aussenden. Wenn sie schon hier auf unserer Seite sind, müssen wir sie abfangen.«

»Und ich sage: sie werden sich aus dem Staube machen!« sagte Jerguschow, während er sich erhob. »Aber versuchen muß man's wohl, sie zu fangen, das sag' ich für ganz bestimmt!«

Jerguschow und Nasarka standen auf, bekreuzten sich und schlugen den Weg nach dem Wachthause ein. Doch gingen sie nicht am Ufer entlang, sondern versuchten, durch das Dorngebüsch einen Waldpfad zu erreichen.

»Nun sei auf der Hut, Luka, halt dich ganz still!« ermahnte Jerguschow den jungen Kosaken – »sonst machen sie dich hier kalt. Halt die Augen offen und schlaf nicht, sag' ich dir!«

»Geh schon, ich weiß Bescheid,« versetzte Luka, suchte sein Gewehr und setzte sich wieder auf den Balken.

Ganz allein saß Lukaschka nun da, schaute nach der Sandbank hinüber und horchte, ob die Kosaken nicht schon kämen. Doch bis zum Wachthause war es weit, und ihn quälte die Ungeduld: er dachte, nun würden die Abreken, die mit dem Getöteten gekommen waren, ihm entwischen. Er ärgerte sich darüber, wie er sich über den Eber geärgert hatte, der ihm am Abend entwischt war. Er ließ seinen Blick bald in die Runde, bald nach dem andern Ufer hinüberschweifen, erwartete jeden Augenblick noch einen zweiten Abreken zu sehen, brachte die Stützgabel in Ordnung und hielt sich schußbereit. Daß er selbst totgeschossen werden konnte, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.


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