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5.

Es war einer jener ganz besonderen Abende, wie sie nur im Kaukasus vorkommen. Die Sonne war hinter die Berge gesunken, doch war es noch hell. Das Abendrot bedeckte wohl ein Drittel des Himmels, und von seinem lichten Hintergrund hoben sich die mattweißen Massen der Schneeberge scharf und deutlich ab. Die Luft war dünn, unbewegt, wie akustisch gestimmt. Der tiefe Schatten der Berge fiel in einer Länge von etlichen Werst auf die Steppe. In der Steppe, jenseits des Flusses, auf den Wegen, überall war es still und leer. Wenn einmal da oder dort eine Gruppe von Reitern auftauchte, blickten auch schon die Kosaken aus dem Wachthause und die Tschetschenzen aus dem Aul voll Verwunderung und Neugier nach ihnen hin und suchten zu erraten, wer die verdächtigen Leute wohl sein mögen. Sobald es Abend geworden, ziehen sich die Menschen aus Furcht voreinander in ihre Wohnungen zurück, und nur das Raubtier und der Vogel schweifen frei, ohne den Menschen zu fürchten, durch die Einöde. Unter munterem Geplauder eilen die Kosakenfrauen aus den Weingärten, wo sie die Ranken angebunden haben, noch vor Sonnenuntergang heim. In den Gärten, wie in der ganzen Umgegend, wird es einsam; im Dorfe dagegen herrscht um diese Stunde ein lebendiges Treiben. Von allen Seiten ziehen die Leute zu Fuß, zu Pferde oder auf knarrenden Wagen dem Dorfe zu. Die Mädchen eilen in aufgeschürzten Hemden, mit Gerten in der Hand, fröhlich schwatzend nach dem Tor, dem Vieh entgegen, das in einer Wolke von Staub und Mücken, die ihm aus der Steppe folgen, dicht gedrängt heranzieht. Die satten Kühe zerstreuen sich in den Straßen, und die Kosakenmädchen in den bunten Beschmets laufen zwischen ihnen hin und her. Man hört ihr lautes Gespräch, ihr munteres Lachen und Kreischen, und zwischendurch tönt das Brüllen des Viehs. Dort kommt hoch zu Pferde ein Kosak in Feldausrüstung, der sich Urlaub erbeten hat, vom Wachthause her nach seiner Hütte, neigt sich zum Fenster und klopft daran. Auf dieses Zeichen erscheint sogleich der hübsche Kopf einer jungen Kosakin, und man hört sie beide lachen und vertraulich miteinander sprechen. Da kommt ein zerlumpter nogajscher Knecht mit scharf vorspringenden Backenknochen auf einem Wagen herangefahren: er hat Schilfrohr in der Steppe geholt, fährt den kreischenden Wagen auf den sauberen großen Hof des Jessauls (Hauptmanns), nimmt den die Köpfe bewegenden Ochsen das Joch ab und ruft dem Hausherrn auf tatarisch irgend etwas zu, worauf jener ihm in derselben Sprache antwortet. An der Pfütze, die fast die ganze Straße einnimmt, und neben der die Dorfleute schon seit vielen Jahren mühsam an den Zäunen entlang dahergekrochen sind, geht eine barfüßige Kosakin mit einer Tracht Holz auf dem Rücken behutsam vorüber; sie hebt dabei ihr Hemd über die weißen Waden empor, und ein von der Jagd heimkehrender Kosak ruft ihr scherzend zu: »Heb's doch noch höher auf, Schamlose!« und er legt auf sie an; die Kosakin läßt das Hemd los, und zugleich fällt ihr das Holz auf die Erde. Ein alter Kosak mit aufgestreiften Hosen und offener, grauhaariger Brust kehrt vom Fischfang zurück, über der Schulter ein Netz mit noch zappelnden, silberglänzenden Heringen; um es näher zu haben, klettert er über den verfallenen Zaun des Nachbars, bleibt dabei mit seinem Kittel am Zaune hängen und zerreißt sich ihn. Dort schleppt ein Weib einen trockenen Ast, und um die Ecke erschallen die Schläge einer Axt. Die Kosakenkinder kreischen beim Kreiselspiel, das sie überall auf der Straße, wo nur ein ebener Fleck ist, betreiben. Um sich ein Stück Weges zu sparen, klettern die Weiber über die Zäune. Aus allen Schornsteinen steigt der scharfduftende Rauch des getrockneten Kuhdüngers, der zum Heizen verwandt wird. Auf jedem Hofe erschallt verstecktes Lärmen, das der stillen Nacht vorausgeht.

Mutter Ulitka, die Frau des Fähnrichs und Schulmeisters, ist ebenso wie die übrigen Weiber nach dem Hoftor gegangen und erwartet das Vieh, das ihre Tochter Marianka auf der Straße herantreibt. Kaum hat sie noch das Tor geöffnet, als auch die riesige Büffelkuh, von den Mücken gefolgt, sich brüllend hindurchdrängt; hinter ihr her folgen langsam die satten Kühe, schauen mit den großen Augen die ihnen bekannte Hausfrau an und schlagen sich mit dem Schwänze in gleichmäßigem Takte die Lenden. Die schlanke, hübsche Marianka durchschreitet das Tor, wirft die Gerte fort, schließt den Heckenzaun wieder ab und läuft, so rasch sie kann, mitten unter das Vieh, jagt es auseinander und treibt es im Hofe umher. »Zieh doch die Schuhe aus, du Teufelsmädchen, du hast sie ganz schief gelaufen!« ruft die Mutter laut. Marianka fühlt sich durch die Bezeichnung »Teufelsmädchen« durchaus nicht gekränkt, sie nimmt das Wort vielmehr als Kosenamen und fährt munter in ihrer Beschäftigung fort. Ein Tuch verhüllt Mariankas Gesicht; sie trägt ein rosa Hemd und einen grünen Beschmet. Sie verschwindet unter dem Schutzdach des Hofes hinter dem feisten, stattlichen Vieh, und man hört nur noch von den Ständen her ihre Stimme, die der Büffelkuh zärtlich zuredet: »Nun steh doch endlich still! Seh' nur einer an! Ruhig, Mütterchen! ...« Bald darauf geht das Mädchen mit der Alten aus dem Kuhstall nach der Milchkammer, und jede von ihnen trägt einen großen Topf mit Milch – den Ertrag des heutigen Tages. Aus dem Lehmschornstein der Milchkammer steigt alsbald der Rauch des Kuhdüngers empor, die Milch wird in Kaimak Ein dem Kefir ähnliches Getränk. umgekocht; das Mädchen schürt das Feuer, und die Alte begibt sich ans Hoftor zurück.

Dämmerung hüllt bereits das Dorf ein. Überall duftet es nach dem Grün der Gärten, nach dem Vieh, dem Rauch des verbrannten Kuhdüngers. An den Hoftoren und auf den Straßen laufen überall Kosakenweiber umher, die in den Händen glühende Läppchen zum Feueranmachen tragen. Auf den Höfen hört man das Schnaufen und ruhige Wiederkäuen des Viehs, das nun abgemolken ist, und Frauen- und Kinderstimmen lassen sich mit gegenseitigem Zuruf vernehmen.

Eine der Kosakenfrauen, ein altes, hochgewachsenes Weib von männlichem Aussehen, kommt vom gegenüberliegenden Hofe zu Mutter Ulitka heran und bittet sie um Feuer; in der Hand hält sie ein Läppchen.

»Na, Mütterchen, seid ihr fertig?« sagt sie.

»Das Mädchen kocht die Milch. Willst wohl Feuer haben?« spricht Mutter Ulitka, ganz stolz darauf, daß sie der anderen gefällig sein kann.

Die beiden Kosakenfrauen gehen ins Haus; die groben, an das Hantieren mit kleinen Gegenständen nicht gewöhnten Hände nehmen zitternd den Deckel von einem kostbaren Schächtelchen mit Zündhölzern ab, die im Kaukasus eine Seltenheit sind. Die Kosakenfrau mit dem männlichen Aussehen setzt sich auf einen Schemel – sie hat offenbar die Absicht, ein wenig zu plaudern.

»Dein Mann ist wohl in der Schule, Mutter?« fragt die Besucherin.

»Immerzu unterrichtet er die Kinder, Mutter. Er schrieb, er werde zum Fest herkommen,« antwortete die Fähnrichsfrau.

»Er muß ein recht kluger Mensch sein ... wirkt viel Gutes!«

»Ja, das tut er wohl.«

»Und mein Lukaschka ist im Wachthaus und darf nicht nach Hause,« sagt die Besucherin, obschon die Fähnrichsfrau das längst weiß. Die andere hat das Bedürfnis, von ihrem Lukaschka zu sprechen, den sie eben erst zum Dienst im Wachthause abgegeben hat, und den sie mit Marianka, der Fähnrichstochter, verheiraten möchte.

»Er hat Dienst im Wachthause?« fragt Mutter Ulitka.

»Ja, Mutter, seit dem Feiertag ist er nicht dagewesen. Neulich hab' ich ihm durch Fomuschkin Hemden geschickt. Es gefällt ihm dort, die Vorgesetzten sind mit ihm zufrieden. Sie sind jetzt wieder auf einem Streifzug gegen die Abreken, sagt er. Und Lukaschka ist wohl und munter, sagt er.«

»Nun, Gott sei Dank,« sagt die Fähnrichsfrau. »Ein ›Greifer‹ mit einem Wort.«

Lukaschka hatte den Beinamen »Greifer« für sein mutiges Verhalten bekommen – er hatte nämlich einmal einen ertrinkenden Kosakenjungen beim Schopf ergriffen und aus dem Wasser gezogen. Die Fähnrichsfrau gebrauchte das Wort, um der Mutter Lukaschkas etwas Angenehmes zu sagen.

»Ja, ich danke Gott, Mutter, es ist ein guter Sohn; ein wackerer Bursche, alle loben ihn,« sagt Lukaschkas Mutter. »Ich möchte ihn nur noch verheiratet sehen, dann will ich ruhig sterben.«

»Nun, gibt's denn so wenig Mädchen im Dorfe?« versetzte die Fähnrichsfrau pfiffig, während sie mit den runzeligen Händen sorgsam den Deckel auf die Zündholzschachtel legte.

»Eine Menge gibt es, gewiß,« bemerkte Lukaschkas Mutter und nickte mit dem Kopfe. »Aber ein Mädchen, wie deine Marianuschka, findet man im ganzen Regiment nicht zum zweitenmal.«

Die Fähnrichsfrau kennt die Absicht von Lukaschkas Mutter, und obschon Lukaschka ihr ein ganz wackerer Kosak zu sein scheint, sucht sie diesem Gespräche doch auszuweichen, weil sie erstens einmal die Fähnrichsfrau und obendrein reich ist, während Lukaschka der Sohn eines einfachen Kosaken und eine Waise ist. Zweitens möchte sie sich von ihrer Tochter nicht gar zu früh trennen, und endlich drittens erfordert es der Anstand, daß sie in der Sache keine Eile zeige.

»Nun ja, Marianuschka wird heranwachsen, wird ein großes Mädchen werden,« spricht sie zurückhaltend.

»Ich schicke die Brautwerber – ja, ich schicke sie! So wie wir erst die Gärten abgeerntet haben, treten wir vor dich hin, um uns vor deiner Gnaden zu verneigen –« spricht Lukaschkas Mutter. »Wir kommen auch, um uns vor Ilja Wassiljewitsch zu verneigen.«

»Was hat mein Ilja da zu sagen!« sagt die Fähnrichsfrau selbstbewußt – »mit mir muß geredet werden. Alles hat seine Zeit.«

Lukaschkas Mutter sieht an dem strengen Gesichtsausdruck der Fähnrichsfrau, daß es nicht ratsam ist, das Thema jetzt noch weiter zu behandeln; sie setzt daher ihr Läppchen mit dem Zündholz in Brand und sagt, während sie sich von ihrem Platze erhebt: »Vergiß es nicht, Mutter, denk an meine Worte! Ich muß jetzt gehen und die Milch aufkochen,« fügt sie hinzu.

Als sie, das brennende Läppchen in der ausgestreckten Hand hin und her schwenkend, über die Straße schritt, begegnete ihr Marianka, die sie grüßte.

»Ein prächtiges Mädchen, ein arbeitsames Mädchen,« denkt sie, die schmucke Dirne betrachtend. »Was soll die noch viel wachsen? 's ist Zeit, daß sie heiratet und in ein gutes Haus kommt, mein Lukaschka muß sie haben.«

Auch Mutter Ulitka hat ihre Sorgen, sie hat sich auf die Schwelle gesetzt und sitzt und sitzt da, in tiefes Nachdenken versunken, bis die Tochter sie ins Haus ruft.


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