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9.

Es begann bereits hell zu werden. Der Leichnam des Tschetschenzen, der an der Sandbank angetrieben war und kaum merklich im Wasser hin und her schaukelte, war jetzt deutlich sichtbar. Plötzlich raschelte nicht weit von dem Kosaken etwas im Schilf; Schritte ließen sich vernehmen, und die Schilfkolben kamen in Bewegung. Der Kosak machte sich schußbereit und murmelte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes.« Der Hahn knackte, und gleich darauf verstummte das Geräusch der Schritte.

»Heda, Kosaken – schießt den Onkel nicht tot!« ließ eine ruhige, tiefe Baßstimme sich vernehmen, und das Schilf zur Seite biegend, trat Onkel Jeroschka dicht vor den Kosaken hin.

»Beinahe hätt' ich dich totgeschossen, weiß Gott,« sagte Lukaschka.

»Auf wen hast du denn geschossen?« fragte der Alte.

Die volle, tiefe Stimme des Alten, die im Walde und längs des Flusses widerhallte, machte der nächtlichen Stille und Heimlichkeit, die den Kosaken umgab, plötzlich ein Ende. Es war, als sei es auf einmal heller geworden.

»Ja, siehst du, Onkel: du hast nichts gesehen, und ich habe ein Wild erlegt!« sagte Lukaschka, während er den Hahn entspannte und mit unnatürlicher Ruhe sich erhob.

Der Alte schaute, ohne einen Blick abzuwenden, nach dem jetzt ganz deutlich sichtbaren Rücken des Toten, den die Wellen des Terek umspielten.

»Mit einem Baumstamm auf dem Rücken kam er dahergeschwommen. Ich bemerkte ihn gleich ... Sieh doch, da! Blaue Hosen hat er an; ein Gewehr hat er nicht mit ... Siehst du ihn?«

»Wie soll ich ihn nicht sehen!« entgegnete der Alte bewegt, während sein Gesicht einen ernsten, strengen Ausdruck annahm. »Ein Dschigit ist es, den du getötet hast,« sprach er wie bedauernd.

»Ich saß so für mich da,« erzählte Lukaschka, »und sehe mit einem Mal etwas Schwarzes am andern Ufer. Drüben schon hatte ich ihn bemerkt: es war, als sei ein Mensch ans Ufer getreten und ins Wasser gefallen. Wie sonderbar! denk' ich. Und der Baumstamm, ein ganz mächtiger Baumstamm, schwimmt da auf dem Wasser, nur schwimmt er nicht stromabwärts, sondern schneidet quer über den Fluß. Und da bemerk' ich, wie plötzlich ein Kopf unter dem Baum hervorguckt. Was ist da los? denk' ich. Ich rückte etwas zurseite, weil ich nämlich übers Schilf weg nicht gut sah, und er muß wohl etwas gehört haben, der Halunke, denn er kroch auf die Sandbank und sah sich um. Halt, mein Junge, denk' ich – du sollst mir nicht entgehen! Er aber kriecht weiter vor und guckt sich um. Mir war's, als stecke mir etwas in der Kehle. Ich mach' meine Flinte bereit und warte, ohne mich zu rühren. Er hielt sich ein Weilchen auf, schwamm dann weiter, und wie er ins Mondlicht gelangte, konnt' ich fast seinen Rücken sehen. ›Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!‹ Ich schau' durch den Rauch hindurch und seh' ihn zappeln. Ich hörte ihn stöhnen, wenigstens war mir's so: nun, Ehre sei dir, o Herr, dachte ich: ich hab' ihn getötet! Und wie er dann an die Sandbank antrieb, da wurde alles klar! Er wollte aufstehen, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Er zuckte und schlug um sich und streckte sich lang hin. Die Luft war rein, alles war zu sehen. Bald hörte er auf zu zappeln, also war er wohl tot. Die Kosaken sind nach dem Wachthause gelaufen, damit die anderen nicht entkommen.«

»Den hättest du also gefaßt!« sagte der Alte. »Jetzt wird es weit und breit heißen ...« fuhr er, traurig den Kopf schüttelnd, fort, als plötzlich am Ufer entlang die Kosaken zu Fuß und zu Pferde unter lautem Gespräch durch das knackende Buschwerk dahergejagt kamen.

»Bringt ihr ein Boot mit?« rief Luka ihnen entgegen.

»Bist ein wackerer Bursche, Luka!« rief einer der Kosaken – »wir holen ihn ans Ufer!«

Lukaschka konnte die Ankunft des Bootes nicht erwarten, sondern begann sich zu entkleiden, um nach der Sandbank zu schwimmen, wobei er kein Auge von seiner Beute verwandte.

»So wart' doch, Nasarka bringt das Boot!« rief der Unteroffizier.

»Dummkopf! Vielleicht lebt er noch und verstellt sich nur! Nimm den Dolch mit!« schrie ein anderer Kosak.

»Immer schwatz' du!« rief Luka und warf seine Beinkleider ab. Rasch war er vollends entkleidet, bekreuzte sich und sprang mit einem Satz in die aufspritzende Flut, durchquerte, die weißen Arme weit von sich streckend und den Rücken hoch aus dem Wasser emporhebend, den Fluß und näherte sich rasch der Sandbank.

Am Ufer sprachen die Kosaken, immer mehrere zugleich, laut durcheinander. Drei Berittene machten sich auf den Weg, um die Gegend abzusuchen. Das Boot erschien eben an der Biegung des Flusses. Lukaschka stieg aus dem Wasser auf die Sandbank, neigte sich über den langausgestreckten Körper und drehte ihn zweimal um.

»Mausetot!« rief er den andern mit gellender Stimme zu.

Der Tschetschenze hatte einen Schuß durch den Kopf erhalten. Er war mit blauen Hosen, Hemd und Tscherkeska bekleidet; Gewehr und Dolch waren auf dem Rücken festgebunden. Über alles war ein großer Ast gebunden, der Lukaschka anfänglich getäuscht hatte.

»Da hätten wir den Karpfen gefangen!« sagte einer der am Ufer herumstehenden Kosaken, während der aus dem Boote gehobene Leichnam des Tschetschenzen auf dem zertretenen Grase niedergelegt wurde.

»Wie gelb der Bursche aussieht!« sagte jemand.

»Wohin sind denn unsere Leute geritten? Die Kerle sind sicher noch alle drüben, auf dem andern Ufer. Wenn der hier kein Vorposten war, wäre er sicher nicht auf diese Art und nicht allein geschwommen,« meinte ein dritter.

»Ein wackerer Bursche war's unbedingt – sich so vorweg zu wagen! Ein richtiger Dschigit!« sprach Lukaschka mit leichtem Spott, während er, immer wieder erschauernd, die nassen Kleider des Toten am Ufer auswand. »Der Bart ist gefärbt und gestutzt.«

»Und den Kittel hat er in einem Beutel auf dem Rücken befestigt, um besser schwimmen zu können,« sagte irgend jemand.

»Hör' mal, Lukaschka,« sprach der Unteroffizier, der den Dolch und das Gewehr des Toten in den Händen hielt – »nimm dir den Dolch, und auch den Kittel nimm, für das Gewehr aber geb' ich dir drei Silberrubel, hol' sie dir bei mir. Es hat ja auch einen Sprung, siehst du,« fügte er hinzu und blies in die Mündung hinein. »Ich möcht's gern als Andenken behalten.«

Lukaschka gab keine Antwort: man sah es ihm an, daß diese Bettelei ihn ärgerte, doch wußte er, daß er nichts dagegen tun konnte.

»Dieser Satan!« sagte er finster und warf den Kittel des Tschetschenzen auf die Erde; »wenn wenigstens der Kittel etwas taugte, aber nein, der richtige Fetzen ist's.«

»Kannst ihn gebrauchen, wenn du Holz im Walde holst,« bemerkte einer der Kosaken.

»Ich möcht' gern nach Hause, Mossew,« sprach Lukaschka zum Unteroffizier – er hatte anscheinend seinen Ärger schon verwunden und wollte seinen Vorteil daraus ziehen, daß er seinem Vorgesetzten ein Geschenk gemacht.

»Geh meinetwegen! – Schleppt ihn nach dem Wachthause, Kinder,« sagte der Unteroffizier zu den Kosaken, während er immer noch das Gewehr betrachtete. »Macht aus Zweigen ein Dach über ihn, zum Schutz gegen die Sonne. Vielleicht kommen die vom Gebirge, um ihn loszukaufen.«

»Es ist doch jetzt noch nicht so heiß!« sagte jemand.

»Und wenn ihn ein Schakal zerfleischt, was dann?« bemerkte einer der Kosaken.

»Wir wollen eine Wache hinstellen; es wäre nicht gut, wenn sie kommen, um ihn loszukaufen, und ihn zerfleischt finden.«

»Nun, Lukaschka – tu, was du willst, aber ich meine, du solltest den Kameraden einen Eimer zum besten geben!« sprach der Unteroffizier in scherzendem Tone.

»Das versteht sich von selbst!« pflichteten die Kosaken eiligst bei. »Gott hat dir solches Glück gegeben: im Handumdrehen hast du einen Abreken totgeschossen!«

»Kauft mir den Dolch und den Kittel ab! Gebt recht viel Geld dafür! Auch die Hosen verkauf ich in Gottes Namen,« sagte Luka – »mir passen sie nicht: der Kerl ist so lang, und so hager!«

Einer der Kosaken kaufte den Kittel für einen Rubel. Ein zweiter gab für den Dolch zwei Eimer Wein.

»Trinkt, Kinder, ich gebe einen Eimer zum besten!« sagte Luka. »Ich bring' ihn selbst aus dem Dorfe mit.«

»Und aus den Hosen kannst du Tücher zurechtschneiden, für die Mädchen,« sagte Nasarka.

Die Kosaken brachen in lautes Gelächter aus.

»Nun hört schon auf zu lachen,« sagte der Unteroffizier. »Bringt den Leichnam fort! Laßt mir aber den widerwärtigen Kerl nicht vor dem Hause liegen!«

»Na, was steht ihr noch herum? Faßt zu, Kinder!« rief Lukaschka gebieterisch den Kosaken zu, die nur ungern an den Leichnam Hand anlegten. Sie erfüllten Lukaschkas Befehl, als sei er ihr Vorgesetzter. Nachdem sie den Leichnam ein paar Schritte weit geschleppt hatten, ließen sie die Beine los, die mit ihrem leblosen Gewicht zu Boden sanken, und traten auseinander. Schweigend blieben sie eine Weile um den Toten stehen. Nasarka trat an den Leichnam heran und legte den Kopf, der sich nach vorn verschoben hatte, zurecht, so daß die blutige runde Wunde über der Schläfe und das Gesicht des Getöteten sichtbar wurden. »Seht doch, was für ein Merkzeichen er ihm gemacht hat – mitten ins Hirn!« sprach er. »Der geht nicht verloren, seine Herrschaft erkennt ihn sicher wieder!« Niemand gab ihm Antwort – ein Engel flog still über die Kosaken hin.

Die Sonne war bereits am Himmel emporgestiegen und beleuchtete mit ihren zerstreuten Strahlen das taufeuchte Grün. Der Terek rauschte nebenan im erwachenden Walde; den Morgen begrüßend, ließen die Fasanen von allen Seiten ihre Rufe ertönen. Die Kosaken standen schweigend und unbeweglich um den Toten herum und betrachteten ihn. Der braune Körper war schlank und schön gebaut; nur die von der Feuchtigkeit dunkler gewordene blaue Hose, die ein Gurt über dem eingefallenen Bauche zusammenhielt, bedeckte seine Blöße. Die muskulösen Arme lagen an den Rippen entlang ausgestreckt. Der bläuliche, frisch rasierte, runde Kopf mit der eingetrockneten Wunde an der Schläfe war nach hinten gesunken. Die glatte, von der Sonne gebräunte Stirn hob sich von der Linie des rasierten Schädels scharf ab. Die offenstehenden, glasigen Augen mit den eingesunkenen Pupillen schauten nach oben – es war, als sähen sie über alles hinweg. Auf den schmalen, an den Mundwinkeln verzogenen Lippen, die unter dem kurzgeschnittenen roten Schnurrbart sichtbar wurden, schien ein gutmütiges, feines Lächeln zurückgeblieben zu sein. An den kleinen, mit rötlichem Flaum bedeckten Händen waren die Finger nach innen gebogen und die Nägel rot gefärbt. Lukaschka hatte sich noch immer nicht angekleidet; er war noch nicht wieder trocken, sein Hals war ganz gerötet, und seine Augen glänzten noch heller als sonst; seine breiten Backenknochen zuckten; von dem weißen, gesunden Körper ging in der frischen Morgenluft ein kaum sichtbarer Dampf aus.

»Auch der war ein Mensch!« sprach er, den Toten mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtend.

»Ja, der hätte dich nicht laufen lassen, wenn er dich erwischt hätte,« ließ einer der Kosaken sich vernehmen.

Der stille Engel flog davon. Die Kosaken kamen in Bewegung und begannen zu plaudern. Zwei von ihnen gingen hin, um Zweige zu einem Schutzdach für den Toten von den Büschen abzuschneiden. Die andern schritten dem Wachthause zu. Lukaschka und Nasarka machten sich flink für den Weg nach dem Dorfe fertig.

Eine halbe Stunde später gingen Lukaschka und Nasar durch den dichten Wald, der den Terek vom Dorfe trennte, fast im Laufschritt, ohne Unterlaß miteinander plaudernd, nach Hause.

»Sag' nur der Dunjka nicht, daß ich dich geschickt habe!« sprach Luka in herbem Tone zu dem Kameraden. »Geh einfach hin und sieh zu, ob ihr Mann zu Hause ist.«

»Und dann geh' ich zur Jamka. Wollen uns mal gütlich tun, wie?« meinte der folgsame Nasarka.

»Wann sollen wir uns denn gütlich tun, wenn nicht heute?« antwortete Luka.

Als die beiden Kosaken ins Dorf kamen, betranken sie sich und legten sich hin, um bis spät in den Abend hinein zu schlafen.


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