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XXXII

Während Aurelie Momoro wie eine von der sinkenden Sonne leicht vergoldete Statue auf dem hohen Deck des Dampfers stand, der seinen Bug von der Küste dem offenen Meere zuwandte, ratterte Laurence Ogles Landaulet über die schlechten Straßen der Vororte von Tunis. Mit sorgenvollem Antlitz und in kläglicher Gemütsverfassung lehnte er in den Kissen und dachte an die achtundzwanzig amerikanischen Dollars in seiner Tasche, die jetzt sein ganzes Vermögen bildeten.

Das Trinkgeld für seinen Chauffeur durfte er nicht geringer als mit zwanzig Dollars bemessen und der lächerliche Betrag, der dann verblieb, konnte Ogle nicht dazu ermuntern, einem erstklassigen Hotel mutig entgegenzuschauen. Je näher ihn das Landaulet der unvermeidlichen Rücksprache mit Tinker entgegenführte, desto mehr schnürte ihm ganz gemeine Angst die Kehle zu.

Der Wagen hielt an einer Straßenecke, der Chauffeur stieg ab und öffnete den Schlag.

»Hotel, Monsieur?«

»Hm.« Ogle hustete, schluckte krampfhaft, hustete wieder und sagte endlich: »Wissen Sie, wo Herr Tinker abgestiegen ist?«

»Oh, natürlich!«

»Also dann fahren Sie dorthin!« befahl Ogle verzweifelt.

Während der Wagen weiterfuhr, begann die Phantasie des erregten Reisenden lebhaft zu arbeiten. Waren seine Berechnungen richtig, dann hatte der Mann, den er suchte, nur einen Vorsprung von vierundzwanzig Stunden, aber vielleicht hatte es Frau Tinker in Tunis nicht gefallen, vielleicht hatte sie darauf bestanden, ihre Reise fortzusetzen – wohin, das war für Ogle belanglos, denn er hatte kein Geld mehr, um ihnen weiter zu folgen. Waren sie abgereist, so saß er in dem fraglos teuersten und exklusivsten Hotel der Stadt, ohne die Mittel, auch nur eine bescheidene Mahlzeit zu bezahlen! Ogle fragte sich, ob der amerikanische Konsul wohl je einen seiner Landsleute im Gefängnis persönlich aufzusuchen pflegte …

Seine Angst verflog, als er vor dem prächtigen Eingangstore des Hotels Le Seyeux erblickte, der einer farbenbunten Gruppe, die ihn mit würdevoller Ruhe anhörte, einen leidenschaftlichen Vortrag hielt. Tinker hatte also Tunis noch nicht verlassen! Die Männer, die seinen Kurier umstanden, waren in seidene, buntgestreifte Gewänder gekleidet; Grün und Zitronengelb, Lila und Purpur herrschten vor. Daneben sah man weißes Tuch und safrangelb gestickte Tuniken. Ihre Fingernägel waren mit Henna gefärbt und ihre Füße staken lose in geflickten Pantoffeln, die Turbane, die ihre Köpfe zierten, waren wie ungeheure Blumenbeete. Auch zwei oder drei lebhaftere Männer in europäischer Kleidung und Fessen und einige andere mit Hakennasen und olivenfarbener Haut in ungeheuren grünen Hosen und kurzen, geflickten grünen Jacken befanden sich in der Gruppe.

Alle diese Männer wollten Tinker etwas verkaufen, Saphire, Diamanten, Smaragde, Rubine und Elfenbein, kostbare Teppiche, Stickereien und Brokate, geschnittenen Jade, Bernstein und Bergkristall, altes, mit Gold eingelegtes Silber und altes, mit Silber eingelegtes Kupfer, Gläser, Flakons und Säckchen mit duftenden Kräutern, Fläschchen mit duftenden Parfüms, seltsame Vogelkäfige und Straußfedern, krumme Säbel, eingelegte oder mit Brillanten verzierte Dolche und Speere und runde Stahlschilder aller Größen, Zigarettenspitzen. die bis zu einem Fuß lang waren, Burnusse, Fesse und Tuniken, gehämmertes Messing, mit Perlmutter eingelegte Ebenholzstühle und noch unzählige mehr oder minder unverwendbare Dinge. Tinker hatte tagsüber schon eine Menge davon gekauft, aber die Händler wollten die Hoffnung nicht aufgeben, daß er noch viel mehr kaufen werde, und der Kurier bemühte sich, ihnen begreiflich zu machen, daß er augenblicklich nichts kaufen könne, weil er gerade bade, und daß er nach dem Bade speisen werde.

Die freudige Erregung, die Ogle empfand, als er Le Seyeux erblickte, war so groß, daß sie ihn hinderte, in gewohnter Weise seine scharfe Beobachtungsgabe zu entfalten. Als Dramatiker liebte er es, so ironisch zu sein, wie es die Mode verlangte. Und jetzt entging es ihm, wie einladend zu ironischen Randglossen diese freudige Erregung war, in die ihn Tinkers Anwesenheit versetzte. Auf der ganzen weiten Strecke von der Sahara bis zum Mittelländischen Meer hatte er gefürchtet, diesen Mann zu verfehlen, dem er bis dahin krampfhaft ausgewichen war, wie oft hatte er es nicht aus tiefster Seele beklagt, daß es ihm unmöglich war, gerade diesem Mann zu entgehen – auf den er jetzt, als seinen einzigen Retter, alle Hoffnungen setzte. Ogle war geistig nicht mehr der gleiche, sonst hätte er dieses anziehende Paradoxon nicht übersehen können. Physisch aber hatte er sich noch immer so wenig verändert, daß ihm das Blut rasch zu Kopfe stieg, als er sich einen Weg durch die farbenprächtige Versammlung bahnte, die den Kurier umgab, so daß die Farbe seiner Wangen von einem feuerroten Burnus, an den er im Vorübergehen anstreifte, sich gar nicht sonderlich abhob. Während er sich durch die Wartenden drängte, sah er, daß nicht nur Händler, sondern auch Bettler das Tor des Hotels belagerten, und er konnte die herbe Selbstkritik nicht unterdrücken, daß sein Platz eigentlich unter ihnen wäre.

Es gibt vermutlich nicht viele feinfühlende Menschen, die sich innerlich je so erbärmlich gekrümmt haben wie dieser zukünftige Bittsteller, während er an das Gespräch dachte, das ihm bevorstand. Er hatte nur den einen Wunsch, es schleunigst hinter sich zu bringen, aber als er den einfachsten Weg in Betracht zog, nämlich Tinker in einigen Zeilen um eine dringende Unterredung zu ersuchen, konnte er sich nicht überwinden, diese Zeilen zu schreiben. Schließlich hoffte er auf einen glücklichen Zufall und gönnte sich noch einen Aufschub bis zum nächsten Morgen. Doch als er dann an einem kleinen Wandtischchen im Speisesaal saß, wußte er, daß er sich auch am nächsten Morgen nicht aufraffen würde, vor Tinker hin zu treten. Er sah zwar weder auf Erden noch im Himmel eine andere Rettung, dennoch gab er es endgültig auf, und gab damit sich selbst auf.

Lebhaftes Geplauder in allen Sprachen der Welt schwirrte durch den Saal. Unter Schminke und Farbstift konnte man Frauen aller Rassen in prächtigen Abendkleidern und glitzerndem Schmuck erkennen. Uber blendend weiß geplätteten Hemdbrüsten erblickte man die Köpfe von Männern fast aller Nationen der Welt. Im Tanzsaal nebenan, der noch leer war, verarbeitete ein übrigens vorzügliches Orchester die gebräuchlichsten Themen aus »Carmen«, »Boheme«, »Toska« und »Bajazzo« zu Tafelmusik. Aber plötzlich, inmitten des großen Bohemewalzers, klopfte der Dirigent ab, es entstand eine lebhafte Verwirrung unter den Instrumenten, die einige Sekunden währte, dann vereinigten sie sich allmählich wieder zu schmetterndem Klange, doch nicht mehr um die schmachtende Weise Puccinis wiederzugeben, sondern wie eine Hymne tönte es durch den Saal: »Ausgerechnet Bananen …« Und als Nationalhymne Amerikas schien es auch gedacht, denn es galt einen eben eintretenden prominenten amerikanischen Gast des Hotels damit zu ehren! – Der Maître d'hôtel eilte mit fliegenden Frackschößen zur offenen Tür, aber seine zwei Gehilfen waren schon vor ihm dort und alle drei verneigten sich feierlich: Die Familie Tinker hielt ihren Einzug und wurde zu einem blumenbedeckten Tisch geleitet, um den sich sofort alle Kellner dieses Teiles des Saales versammelten.

Ogle hatte einen kläglichen und ängstlichen Tinker und eine zänkische und gekränkte Frau zu sehen erwartet, doch der erste Blick belehrte ihn über seinen Irrtum. Das breite Gesicht des kräftigen Mannes trug den Ausdruck überlegener, gebieterischer Ruhe, den Ausdruck eines Menschen, der nicht nur das Bewußtsein hat, Herr vieler Schicksale, sondern auch das Haupt seiner Familie zu sein. Und Frau Tinker strahlte nicht bloß in der zufriedenen Heiterkeit ihrer Züge, auch ihr Hals, ihr Busen und ihre Handgelenke erstrahlten bei jeder Bewegung, die sie machte und schossen weiße und farbige Blitze.

Zweifellos trug sie zu viel und zu prächtigen Schmuck, aber da alles neu war, hatte sie unmöglich eine Auswahl treffen können. Als sie mit all diesem Glanze den Saal betrat, ihrem Gemahl, der neben ihr schritt, zulächelnd, starrten sie alle Gäste wie geblendet an; ein argentinischer Bankier war so erregt, daß er sich halb von seinem Stuhl erhob, um sie besser betrachten zu können. Und als sie an ihrem Tische Platz genommen hatte, zeigte sie deutlich, was für eine treue und ergebene Gattin sie war, jeder konnte beobachten, wie sie ausschließlich um die Bewunderung ihres eigenen Mannes warb. Anmutig bewegte sie ihre funkelnden Handgelenke und Finger unter seinen Augen, indem sie jede Gelegenheit benützte, um ihm etwas zu reichen, zärtlich kokettierte sie mit ihm und liebevoll schien sie ihn zu necken. Gutmütig wie ein großer, alter Hund, der sich an den Späßen eines Kätzchens ergötzt, ließ er sich ihre Aufmerksamkeiten gefallen, doch schien er dabei ein wenig zerstreut.

Am aufmerksamsten betrachtete Ogle aber seine kleine Freundin Olivia. Er sah, wie sie errötete, als sie mit den Eltern den Saal betrat, und wie das allgemeine Aufsehen, das ihr Eintritt erregte, sie verwirrte. Die Huldigung des Orchesters schien sie zu entsetzen und auch, als sie schon ihren Platz bei Tische eingenommen hatte, behielt sie die Augen gesenkt. Ogle sah sie nur von der Seite, aber es kam ihm so vor, als ob sie einen nachdenklichen Ausdruck hätte, und als sie dann scheu durch den Saal blickte, gewann er den Eindruck, sie hoffe sehnsüchtig, ein bestimmtes bekanntes Gesicht zu entdecken. Ihr Blick erreichte ihn nicht, sie sah wieder auf ihren Teller nieder und in ihrer Nachdenklichkeit schien nun Enttäuschung zu liegen. Ogle dachte verwirrt über diesen Eindruck nach und sein Herz begann schneller zu schlagen. Nie vorher hatte sie so hübsch ausgesehen und nie vorher hatte Ogle bemerkt, wie hübsch sie war, obwohl er viele andere Dinge, angenehme und auch unangenehme, an ihr entdeckt, und obwohl er seit Biskra mehr und mehr die Gewohnheit angenommen hatte, seine Gedanken mit ihr zu beschäftigen und sich schließlich auch dessen bewußt geworden war, daß es schon lange nicht mehr bloß berufliche Neugier war, die ihn mit ihr verband. Verletzende Verachtung hatte er in ihren Augen gelesen, ihr Haß und Zürnen hatten ihn dann aufgerüttelt – vielleicht mit manchen anderen Erfahrungen zusammen. Und so hatte er schließlich begonnen, Freundschaft und Wärme in ihren Blicken zu erkennen. Und an jenem Abend wurde es ihm zur Gewißheit, daß jener scheue, sehnsüchtige Blick um seinetwillen durch den Saal geeilt war, daß er es war, den sie hier zu finden gehofft hatte …

Und während ihm dies alles zum Bewußtsein kam, wurde ihm erst klar, warum er bestimmt gefühlt hatte, daß er niemals die Überwindung aufbringen würde, ihren Vater um Geld zu bitten.

Er hatte sein Mahl beendet, aber er blieb noch reglos sitzen und starrte in den Abgrund seines Jammers, dessen Symbol die Fingerschale darzustellen schien, die auf dem Tisch vor ihm stand. Er konnte sich zu keinem Entschluß durchringen; er fühlte sich außerstande, Dinge zu beeinflussen, die so ohne sein Zutun entschieden worden waren; nur eines begriff er: auch wenn er es vermied, Tinker um Geld zu bitten, erwarb er, der gestrandete Bankrotteur, dadurch nicht das Recht, ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten. Er war eben doch nur ein Träumer, der wohl eine scharfe Beobachtungsgabe besaß, aber keinen praktischen Verstand und in dieser schwierigen Lage mangelte es ihm an der gewöhnlichsten geschäftlichen Erfahrung und Tüchtigkeit. Wären die Rollen vertauscht gewesen, Tinker hätte sich in der gleichen Lage wohl nicht die geringsten Sorgen gemacht und wäre ganz überzeugt gewesen, sowohl das Mädchen als auch das Geld bekommen zu können – und er hätte zweifellos recht behalten, aber Tinkers Gedankengang war eben der eines Menschen, der Straßen baut und Berge versetzt. Ogle war nicht so, und darum schlich er, um von Olivia nicht bemerkt zu werden, möglichst unauffällig aus dem Speisesaal.

Das siegreiche Triumphlied des Toreadors begleitete voll Hohn seinen Abgang, als er über den leeren Tanzboden des zweiten Saales schritt. Keine Melodie würde ihm in Zukunft verhaßter sein als diese, so dachte er – wenn es überhaupt noch eine Zukunft für ihn gab! Er konnte sich keine Vorstellung von ihr machen: in dem einzigen, recht vagen Bild, zu dem seine Phantasie noch fähig war, sah er sich als Mittelpunkt einer erregten Gruppe von Hoteldienern, die ihn mit derben Fäusten gepackt hielten, um ihn durchzuprügeln und auf die Straße zu schleppen. So leerte Ogle, während er über den spiegelglatten Fußboden der Eintrittshalle dem Aufzug zuschritt, den Kelch seines Elends bis zur Neige!

In seinem Zimmer warf Ogle einen Brief seines New Yorker Theaterdirektors, den ihm ein Hotelboy in der Halle im Vorübergehen eingehändigt hatte, verächtlich auf den Tisch. Es war ihm gleichgültig, ob er seinem Direktor zweihundertfünfzig oder nur hundertfünfzig Dollars schuldete! Dann ließ er sich in einen Sessel fallen, vergrub seinen Kopf in die Hände, so daß sein Haar in beträchtliche Verwirrung geriet, und wiederholte diese seltsame Massage während der nächsten halben Stunde in immer kürzeren Abständen. Schließlich überlegte er, daß ihn diese letzte Abrechnung über sein Stück auch nicht unglücklicher machen könne, als er ohnedies schon war, er erhob sich, nahm das Schreiben und öffnete es. Es enthielt einen Brief, die Abrechnung und einen kleinen blauen Zettel – einen Scheck auf die Bank in Tunis!

Ogle las weder den Brief noch prüfte er die Abrechnung – er starrte nur entgeistert auf den Scheck, las ihn immer wieder, bis seine anfängliche Ungläubigkeit sich langsam zerstreute. »Zahle an den Überbringer den Betrag von viertausendachthundertzwanzig Dollars und einundsiebzig Cents …« Ogle durchflog den begleitenden Brief und begriff, was geschehen war.

Die »Pastorale Szene« ging nicht mehr, das war erledigt. Aber der Theaterdirektor war zähe und nicht leicht geneigt, finanzielle Enttäuschungen hinzunehmen. Er hatte einen Ausweg gefunden, das Debakel zu überwinden. Und wenn er in dem früheren Brief an Ogle, der in den düstersten Farben gehalten gewesen war, davon noch nichts erwähnt hatte, trotzdem damals seine Verhandlungen schon hoffnungsvoll gewesen waren, so entsprang dies einerseits seiner Neigung, in einem Autor nicht das durchaus überflüssige Verlangen nach Vorschüssen zu erwecken, andererseits seiner Leidenschaft für effektvolle Aktschlüsse. Die Verhandlungen betrafen den Verkauf der Filmrechte an Ogles Stück, und dieser Brief enthielt nun die Mitteilung von dem vollzogenen Abschluß.

Ogle hatte vom Film immer nur mit Abneigung gesprochen, seine schädliche Wirkung auf die Menge, auf die Kunst und die Literatur scharf gegeißelt – nun aber saß er zitternd da, sah reglos auf den Scheck in seiner Hand und seine Augen wurden glänzend. »Gott segne den Film!« flüsterte er.

Als er bald darauf, ein neuer Mensch, den hellerleuchteten Tanzsaal wieder betrat, fand er ihn mit Gästen, die an kleinen Tischen saßen, und mit tanzenden Paaren dicht gefüllt. Von der Türe her entdeckte er Olivia neben ihrem selbstzufriedenen Vater und ihrer glitzernden Mutter, und in der Haltung des Mädchens bemerkte er wieder die rührende Mutlosigkeit eines Wesens, das durch eine grausame Schicksalsfügung schwer getroffen ist.

Als er sich näherte und sie ihn erblickte, ging eine Veränderung mit ihr vor, die wieder einmal deutlich bewies, wie gefährlich es für ein junges Mädchen ist, ihre Beziehungen zu einem jungen Mann allzu persönlich zu gestalten – und geschähe es auch nur, um durch ihn an dem ganzen männlichen Geschlecht Rache zu nehmen.

Als er sie fragte, ob sie mit ihm tanzen wolle, blitzten ihn ihre Augen heiter an.

»Na, das will ich meinen«, rief sie, während sie aufsprang.


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