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Beim Abendessen jenes Tages war Olivia Tinkers Gesicht zwar nicht freundlicher, aber die abweisende Strenge ihrer Mutter schien bedeutend nachgelassen zu haben. Offenbar hatte sie sich mit ihrem Gatten schon ein wenig ausgesöhnt und war nun bereit, auch andere seines Geschlechts in ihr Verzeihen einzubeziehen.
»War das nicht ein herrlicher Tag?« sagte sie zu Ogle. »Sie haben ihn gewiß auch auf dem Verdeck genossen.«
»Ja, zum Teil.«
»Jedenfalls haben Sie sich nicht so abscheulich benommen, wie mein Mann …«
»Sieh mal an,« protestierte dieser scheinheilig, »ich wüßte wirklich nicht, worüber du dich zu beklagen hättest.«
»Er meint sich von seinen Sünden losgekauft zu haben«, erklärte sie Ogle mit einem schalkhaften Augenzwinkern. »Dieser unverbesserliche Mensch ist jede Minute dieses ganzen Nachmittags oben in dem stickigen Rauchsalon gesessen und hat vom Lunch bis zum Dinner ohne Pause Poker gespielt. Ich wundere mich nur, daß man ihn nicht aus dem Schiff hinauswirft. – Bei uns zu Hause behauptet man, er habe einen Pakt mit dem Teufel, so stadtbekannt ist sein Glück im Kartenspiel. Und er hat solche Angst, daß etwas daran wahr sein könnte, daß er mir und Olivia stets den ganzen Gewinn abliefert, damit wir ihn für unsere Wohltätigkeitssammlungen verwenden. Was er uns heute vor dem Dinner gebracht hat, genügt beinahe, um unsere Beiträge für das ganze nächste Jahr zu zahlen. – An einem so herrlichen Tag nichts Besseres zu wissen, als ununterbrochen Poker zu spielen!«
»Aber Schnucki …«, warf Tinker beschwichtigend ein, und dann beglückte er Ogle, dessen fragenden Seitenblick er auffing, mit einem kaum merklichen, aber abscheulichen Augenzwinkern. Damit wollte er Ogle erinnern, daß sie als Geschlechtsgenossen Waffenbrüder im Hintergehen der Frauen seien und er deswegen ganz darauf vertraue, Ogle würde niemals verraten, daß dieser vermeintlich dem Kartenspiel gewidmete Nachmittag in Gesellschaft einer entzückenden Französin verbracht worden war.
Ohne das Zwinkern anders als mit einem Erstarren seines Gesichtsausdruckes zu beantworten, wandte der junge Mann seinen Blick ab. Dabei begegnete er zu seiner Überraschung den voll auf ihn gerichteten Augen des ihm gegenübersitzenden Mädchens. Es war das erstemal, daß sie während der Mahlzeit den Blick von ihrem Teller erhoben hatte, und sie senkte ihn auch gleich wieder und ließ Ogle in einiger Verwirrung, denn etwas wie helle Verachtung hatte aus ihren Augen geblitzt. Ihr Blick hatte geradezu einen beleidigenden Ausdruck gehabt, gestand sich Ogle ein, als wollte sie ihm zeigen, daß sie seine Meinung über Tinker vollkommen durchschaue und daß sie ihn dafür aus tiefster Seele verachte. Das kränkte ihn, und im Geiste fragte er sie: Warum dieser Vorwurf, wenn du selbst ihn so erbittert haßt? Gern hätte er diese Frage in seinen Blick gelegt, doch sie sah ihn nicht wieder an, nicht einmal, als er sich grüßend vom Tisch erhob.
Diesmal blieb Tinker furchtlos bei seinen Damen. »Seh' Sie ja später«, rief er gönnerhaft dem enteilenden Ogle nach.
Ogle durchstreifte suchend die geräumige Halle, die sich nach dem Dinner rasch füllte, den Palmengarten, in dem später getanzt wurde, und blickte immer wieder in den Rauchsalon, ohne indes Madame Momoro irgendwo entdecken zu können. Nur Macklyn und Jones begegnete er auf seiner vergeblichen Suche immer wieder, die, jeder für sich, und bei jedem Zusammentreffen verlegen zur Seite blickend, offenbar das gleiche Ziel verfolgten wie er selbst. Als Ogle schließlich immer noch trübselig auf dem Verdeck herumstreifte und zum fünfzigsten Male durch ein Fenster in die Halle sah, blieb er plötzlich stehen, denn ein peinlicher Verdacht tauchte in ihm auf. Nur noch zwei Menschen befanden sich in der Halle: Frau Tinker, die eifrig an einem Briefe schrieb, und ihre Tochter, die in ihrer Nähe saß und mit einem Ausdruck ewiger Verdrossenheit ins Leere starrte. Tinker selbst war nicht da und Ogle hatte ihn auch bei seinen Streifzügen über die Decks nicht erblickt. War es Zufall oder bestand ein Zusammenhang zwischen diesem gleichzeitigen Verschwinden Madame Momoros und Tinkers? Er beschloß, sich Gewißheit zu verschaffen und dem einsamen Mädchen zugleich eine kleine konventionelle Aufmerksamkeit zu zollen.
Noch immer erklang Musik aus dem Palmengarten. Er trat in die Halle, verneigte sich leicht vor Olivia Tinker und forderte sie zum Tanzen auf. Sie warf einen erstaunten Blick auf ihn, ebenso kurz und ausdrucksvoll, wie jenen beim Dinner, und ebenso feindselig. »Was soll das jetzt wieder bedeuten?« schien er ausdrücken zu wollen. Dann senkten sich rasch ihre Augenlider, sie überdachte offenbar seine Aufforderung und beurteilte sie nicht günstig, denn ihre Stirne zog sich in Falten. Aber plötzlich erhob sie sich und ohne ein anderes Zeichen der Zustimmung und ohne überhaupt ein Wort zu ihm zu sprechen, ging sie mit ihm und sie begannen zu tanzen. Ihr Partner mußte sich gestehen, daß dieses ›kleine Mädchen aus der Provinz‹ als Tänzerin nichts zu wünschen übrig ließ. Aber sie sah kein einziges Mal zu ihm auf und er mußte sich mit dem Anblick ihrer dunklen Wimpern begnügen, die sich reizvoll von dem frischen Elfenbeinton ihrer Wangen abzeichneten. Sie blickte nicht einmal auf, als er zu ihr sprach.
»Seit dem Dinner habe ich Ihren Vater nirgends gesehen,« sagte er und einfältig witzelnd fuhr er fort: »Ich hoffe, er ist nicht auf einer Haltestelle ausgestiegen.«
»Er sagte, er wollte gleich zu Bette gehen«, antwortete sie und fügte dieser Auskunft nichts weiter hinzu. Und da dies alles war, was ihr Partner von ihr wollte und da sie von ihm gar nichts zu wollen schien, hielten sie es beide nicht für nötig, bis zum Ende des Tanzes noch ein weiteres Wort zu sprechen. Mit dem Abbrechen der Musik löste sie sich aus seinem Arm und ohne daß sie seine Begleitung zu merken schien, schritt sie geradeswegs auf den Fauteuil in der Halle zu, aus dem er sie geholt hatte.
»Danke«, sagte sie, während sie sich niederließ. »Gute Nacht.«
Eine so brüske Verabschiedung fand er, den junge Damen nie an derartiges gewöhnt hatten, ein wenig erstaunlich. Immerhin gab sie ihm seine Freiheit zurück; er nahm sie, als Kavalier, mit einer Verneigung an und entfernte sich, um nachzusehen, ob Madame Momoro während seiner Abwesenheit nicht vielleicht doch im Rauchsalon aufgetaucht war. Auch diesmal wurde er enttäuscht.
Nicht eher als spät am nächsten Nachmittag sah er die Ersehnte. Wieder und wieder war er an ihrem leeren Liegestuhl vorbeigegangen und hatte ihn endlich nicht mehr leer gefunden. Ogles Herz schlug schneller, als er nähertrat.
Die Liegestühle rechts und links von Madame Momoro waren durch Albert Jones und durch Macklyn besetzt. Ogle machte ihr deswegen in seinen Gedanken nicht geringe Vorwürfe. Er war ihr länger als vierundzwanzig Stunden nicht begegnet, und sie hätte wohl einen Platz für ihn freihalten können. Darum lüftete er, als er näher kam, die Kappe bloß ein wenig über seiner roten Stirn und er würde, um seine Verbitterung deutlich zu zeigen, kühl vorbeigegangen sein, wenn die drei ihn nicht gerufen hätten. So trat er zu ihnen, nahm das ihm angebotene Fußende von Alberts Liegestuhl an und ließ sanfte Vorwürfe über sich ergehen, daß er so lange unsichtbar gewesen war. Madame Momoro beschuldigte ihn sogar, er wiche ihr aus, aber Ogle wehrte sich dagegen, in diesem Punkt ihrer Aufrichtigkeit zu trauen. Und das, was sie ihm eine Minute später in leichtem Plauderton verriet, weckte sogar den Argwohn in ihm, ihre Beschuldigung hätte ein wenig Bosheit enthalten.
»Sagen Sie,« fragte sie unvermittelt, »ist es wirklich wahr, daß alle Frauen in Amerika Tyrannen sind und die Ehemänner Haremsklaven, die zwar zur Arbeit gehen dürfen, aber ständig überwacht werden? Oben, in der Ecke des Bootsdecks, wo er, wie er sagt, ›sicher‹ ist, hat der ›ungewöhnliche‹ Mann mir das gestern abend erzählt. Er behauptet, wenn ein Ehemann mit einer Frau spricht, die nicht zur Familie gehört, müsse er jedes Wort des Gespräches seiner eigenen Frau berichten. Ich konnte es einfach nicht glauben und fragte ihn heute nochmals darüber. Da sagte er mir noch, kein Ehemann dürfe einer Dame allein einen Besuch machen, wenn seine Frau es ihm nicht ausdrücklich aufgetragen hätte. Sonst würde sie ihn umbringen. Und als ich darüber lachte, denn ich bin eine Frauenrechtlerin, fügte er noch hinzu, es wäre immer noch vorteilhafter für den Ehemann, ermordet zu werden, als die Dinge anhören zu müssen, die ihm seine Frau in einem solchen Falle sagen würde, denn sie anzuhören, würde seine ganze restliche Lebenszeit ausfüllen.« Sie lehnte sich lachend in ihren Stuhl zurück. »Was für ein Mann! Er ist so unterhaltend, weil man nie recht weiß, ob das, was er sagt, Ernst oder Scherz – oder was es überhaupt ist. So ein Mann ist mir noch nie im Leben begegnet! Kann das wahr sein, was er mir erzählt hat?«
Diese Frage war an Ogle gerichtet, doch der schien sie nicht zu hören. Daß sie ein so häufiges Beisammensein mit Tinker enthüllte, beschäftigte ihn zu sehr. Da er, statt zu antworten, bloß anklagend auf die lächelnde Dame starrte, antwortete Macklyn, daß Tinkers Ansichten eben nur für Leute vom Schlage Tinkers zutreffend seien. Sie lachte nur noch fröhlicher und gab ihrem Zweifel an seiner Sachverständigkeit Ausdruck:
»Sie sind doch Junggeselle! Er hat mir geschworen, es gäbe in den ganzen Vereinigten Staaten höchstens ein paar Frauen in Mexiko und vereinzelte Eskimoweiber, die Ausnahmen von dieser Regel bilden.« Als sie aber bemerkte, daß die drei jungen Männer in ihre Heiterkeit nicht einstimmten, sondern ernsthaft und beinahe mißbilligend dreinsahen, schien sie taktvoll zu beschließen, den Gegenstand fallen zu lassen, der ihnen offensichtlich unsympathisch war. Sie begann unvermittelt von anderen Dingen zu sprechen und sprach so gut, daß zumindest zwei ihrer Zuhörer ganz vergaßen, wie plötzlich sie das Thema gewechselt hatte. Nur der junge Dramatiker hörte ihr nicht zu, denn seine Gedanken umkreisten immer noch verwirrt den stillen Winkel, in dem sie mit Tinker nachts gesessen hatte, während er sie überall suchte.