Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII

Trotz der großen Geschäftigkeit, die an Bord herrschte, und ohne selbst durch den Lärm schwerer Koffer gestört zu werden, die an seiner Kabinentür vorbei geschleppt wurden, schlief Ogle bis in den späten Vormittag. Als er erwachte, herrschte sonderbare, ganz ungewohnte Stille; kein Pulsschlag drang aus dem Innern des Schiffes, und ein paar Augenblicke lang empfand er die Ruhe wie den Mittag in einem Dorf. Plötzlich hörte er draußen Französisch und das Geschrei eines Esels. Er verstand nicht, was Franzosen und ein Esel im Meer zu tun hätten. Er setzte sich in seinem Bett auf und blickte durch die Luke. Da sah er das Ufer wie einen Halbmond von Hügeln und auf ihnen Terrasse über Terrasse, graue und weiße dicke Mauern und flache Dächer, sonderbar massig und ehrwürdig für Augen, die an amerikanische Bauten gewöhnt waren. Überall fiel sein Blick auf fremdartige Gestalten und unwahrscheinlich leuchtende Farben. Die »Duumvir« lag vor Algier.

Er trat in den glühenden Sonnenschein hinaus, ein Mann in französischer Uniform winkte ihm zu, er könne weitergehen – das war der Abschied von der »Duumvir«. Aber sein Körper bewahrte noch die Erinnerung an das Meer; die gepflasterte Kaimauer vor ihm schien sich im Rhythmus eines auf- und abschwankenden Decks langsam zu heben und wieder zu senken.

Vor ihm, jenseits der Docks, lag ein offener, mit hohem Staub bedeckter Platz und von dort kamen fünf oder sechs vom staubigen Boden fast nicht zu unterscheidende Gestalten auf ihn zu, um ihn anzujammern und mit Händen wie von alten Affen beim Rock zu zupfen. Sie trugen zerlumpte Tücher um den Kopf, und um ihre Leiber hingen zerrissene Fetzen von der Farbe eines Kaffeesackes, der jahrelang auf einem Müllhaufen gelegen hat, einer Farbe, die ihm bald vertraut werden sollte. Andere Gestalten tauchten auf und starrten ihn menschenunähnlich, fast wie Hunde an. Dicht neben ihm spielte ein zerlumpter Zigeuner Gitarre und eine phantastische, gelbe, zwei Fuß große Zwergin tanzte zu dem Geklimper einen Fandango; ihre Bewegungen waren ruckartig, wie die einer mechanischen Puppe auf einer Spieldose, bunte Bänder flatterten um ihren Körper, grauweißer Staub wirbelte um ihre Beine. Der Zigeuner hielt Ogle seinen Hut hin, immer mehr Bettler bedrängten ihn von allen Seiten, ein widerlich geschniegelter Fremdenführer hauchte ihm seinen Knoblauchatem ins Gesicht – jeder schien der Meinung, berechtigten Anspruch auf Ogles Geld zu haben. Glücklicherweise entdeckte Ogle in diesem Augenblick den Namen seines Hotels in goldenen Buchstaben auf der Kappe eines Lohndieners; mit dessen Hilfe flüchtete er in eines der wartenden Automobile.

In eiliger Fahrt trug ihn der Wagen, bald bergauf, bald bergab, durch den neueren französischen Stadtteil, bis er schließlich in einen Torbogen einfuhr, hinter dem das Hotel inmitten eines wäldchenartigen Gartens stand. Seine weißen Mauern lagen halbverdeckt unter scharlachroten und violetten Ranken wilden Weins, eine große Terrasse mit weißer Balustrade erstreckte sich über die ganze Breite der Hausfront. Eben als Ogle vorbeifuhr, breitete ein majestätischer schwarzbärtiger Händler, in Turban und weiße Gewänder gekleidet, als wäre er gerade »Tausend und einer Nacht« entstiegen, farbige Stickereien vor einigen Engländern aus, die an kleinen lackierten Eisentischchen auf der Terrasse saßen und nach dem Lunch Kaffee und Likör tranken.

Nach einem vortrefflichen Essen gesellte sich Ogle zu ihnen. Schon war er der Überzeugung, daß seine Fahrt nach Algier eine »Eingebung« gewesen war. Er sagte sich, daß er an den duftenden Toren Arabiens stehe. Sicher hatten auch andere junge Reisende an der gleichen Stelle die gleichen frohen Gefühle gehabt, aber Ogles Arabien hatte seinen besonderen Duft, denn Madame Momoro war da und die fürchterlichen Tinkers nicht!

Um fünf Uhr nachmittags, nach einer verträumten Wanderung durch die höher gelegenen Gassen der Stadt, während der Ogle an allen Villen die Aufschrift »Colline des Roses« gesucht hatte, stand er an eine niedrige Mauer gelehnt, über die er weit auf das Meer hinausblicken konnte. Von dieser Höhe gesehen, glich der Ozeanriese »Duumvir« bloß einem jener kleinen Modelle, wie sie in den Schaufenstern der Schiffahrtsgesellschaften zu stehen pflegen. Wie ein Spielzeug drehte er eben der offenen See zu und ein dünner weißer Streifen zeichnete sich hinter ihm in das tiefe Blau des Mittelmeeres. »Lebewohl«, rief Ogle ihm nach und einen Augenblick lang dachte er an ein hübsches schmollendes Mädchen, das vielleicht auf dem Deck stand und vielleicht nach dem Land zurückblickte. – Wahrscheinlich würde sie nie verstehen, daß sie gestern abend den Gipfel ihrer schlechten Manieren erreicht hatte, als sie ihr Benehmen zu erklären suchte und dem, was sie für eine Erklärung hielt, sonderbare Beleidigungen hinzufügte. Aber Ogles Gedanken blieben nicht lange bei Olivia Tinker. »Morgen«, flüsterte er jubelnd vor sich hin.

Er meinte Madame Momoro. Und am nächsten Morgen schrieb er ihr. Er fragte bloß an, wann er sie sehen könnte und hielt die Frage für beredt genug. Als er die Adresse: »Villa Colline des Roses« schrieb, zögerte er. Er läutete und zeigte dem französischen Zimmermädchen den Briefumschlag.

»Genügt das?« fragte er. »Kann ein Bote dieses Haus finden, ohne daß ich Straße und Hausnummer dazuschreibe?«

»Monsieur?« sie blickte ernst auf die Adresse und bemühte sich, sie zu entziffern. Dann erhellte sich ihr Gesicht. »Oh,« rief sie aus, »Colline des Roses! Oh, Colline des Roses! Oh, Colline des Roses!«

»Wissen Sie, wo das ist?«

»Wo sind Colline des Roses? Jeder kann sagen, Gentleman. Es ist, wo wohnen Mademoiselle Daurel und Schwester.«

»Sie kennen sie?«

»Ich? Nein! Aber ich kennen Leute, die bei sie arbeiten. Sie haben zwei Chauffeure, eine ist geheiratet meine Cousine. Auch ihre Koch kenne ich. Sie wollen dort hin, Monsieur?«

»Ich will diesen Brief hinschicken.«

»Der Concierge wird schicken für Sie«, sie blickte nochmals auf den Briefumschlag. »Oh, für Madame Momoro! Ah, Madame Momoro!«

»Kennen Sie sie?«

»Nein, Gentleman«, sie lachte. »Ich habe ihr gesehen. Sehr – sehr – jolie. Wissen Sie, was ist ›jolie‹? Schöne Dame! War hier letzte Winter und Frühling. Mademoiselle Daurel und Schwester, sehr, sehr reich. Immer schon waren reich, aber jetzt gestorben reiche Bruder in Amerika, sie hinfahren sind und bekommen alles, was ihm gehört. Jetzt zurückgekommen. Vielleicht machen sie Monsieur Hyacinthe Momoro zu ihr Sohn.«

»Was?« fragte erstaunt Ogle. »Sie meinen, eine der Schwestern will ihn adoptieren?«

»C'est ça«, nickte sie eifrig. »Das wollen sie. Jede Mann in Algier wissen alles davon. Madame Momoro wünschen das sehr gern. Wenn Mademoiselle Daurel ihn machen wie Sohn, dann wird er sehr reich, braucht nicht mehr zu arbeiten. Villa ›Colline des Roses‹ kennt jede Kind.«

Sie kehrte zu ihrer Arbeit zurück und Ogle dachte über das Gehörte nach. Hing das geheimnisvolle Briefchen Madame Momoros damit zusammen? Hatte das frostige Fräulein Daurel vielleicht ein Vorurteil gegen Amerikaner? War es das, was zu verstehen sie ihn gebeten hatte? Während er darüber nachdachte, schien diese Erklärung immer einleuchtender. Madame Momoro fürchtete, die zukünftige Adoptivmutter ihres Sohnes zu verstimmen, wenn diese bemerken würde, daß sie sich mit einem der unsympathischen Amerikaner angefreundet hätte. Entsprach diese Erklärung den Tatsachen, dann allerdings bestand wenig Aussicht für Ogle, seine Göttin in der Villa »Colline des Roses« wiederzusehen.

Auch ein anderer Gedanke beschäftigte ihn noch. Alles, was er auf der »Duumvir« an ihr gesehen hatte, war ebenso kostbar wie geschmackvoll gewesen. Sie hatte herrliche Pelze und auserlesenen Schmuck getragen. Auch der junge Momoro hatte den Eindruck eines in Luxus aufgewachsenen Menschen gemacht. Ogle erinnerte sich an seine flache Platinuhr, an seine mattgoldene Zigarettendose mit emailliertem Wappen. Mutter und Sohn ließen jene Eleganz erkennen, die außerordentlich viel Geld kostet, und doch konnten beide nicht sehr vermögend sein, sonst wäre der Gedanke an eine Adoption unverständlich. Ogle glaubte, nun manche Rätsel ihres Wesens lösen zu können. Er fühlte Mitleid mit ihr und hatte den brennenden Wunsch, ihr dies zu sagen.

Leider wollte sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Auf seinen Brief kam weder an diesem noch am nächsten Tag eine Antwort, und nachdem er bis Mittag vergeblich um die Portierloge herumgestrichen war, schrieb er ihr ein zweites Mal und fragte mit einiger Eindringlichkeit, warum sie ihn so rätselhaft behandle.

»Sie meinten, daß ich in Afrika viel lernen würde«, schrieb er ihr. »Wollen Sie das Ihre dazu tun und mich lehren, ich sei so unbedeutend, daß ich überhaupt nicht existiere? – Sie baten mich, zu verstehen. Ich kann verstehen, daß ich mir vielleicht das abfällige Urteil Ihrer Freundinnen zugezogen habe; aber ich kann nicht verstehen, daß ein Haus, wie die Villa ›Colline des Roses‹, die zweifellos vorzüglich eingerichtet ist, kein Schreibzeug enthalten sollte. Sie verlangten, ich sollte nicht böse sein. Mein Gott! Kann man einer Sphinx gut oder böse sein? Als Kind lernte ich, daß diese Statue eine Zierde Afrikas sei. Leider trennen mich noch etwa zweitausend Meilen von ihr. Und doch scheint diese steinerne Sphinx nicht weiter entfernt und nicht rätselhafter zu sein als Sie. Warum?«

Eine Stunde, nachdem er ihr seine Anklage gesandt hatte, wurde ihm, während er beim Lunch saß, eine Karte gebracht. »Hyacinthe de St. M. Momoro.« Rasches Rot überzog die Wangen des jungen Amerikaners, er eilte aus dem Speisesaal, um den Besuch zu begrüßen. Doch er fand ihn in keinem der Gesellschaftszimmer.

»Monsieur Momoro ist gleich wieder fortgegangen«, klärte ihn der Portier auf. »Ich glaube nicht, daß er Sie sprechen wollte, er hat nur seine Karte abgegeben.« Damit wandte er sich einem Engländer zu, der sich aufgeregt darüber beschwerte, daß die Zentralheizung im Billardzimmer zu geräuschvoll sei.

»Wie soll man bei so einem Lärm einen anständigen Stoß fertigbringen, wie?« knurrte der Engländer empört und fügte drohend hinzu: »Das frage ich Sie!«

Auf dem Rückweg in den Speisesaal kam Ogle an dem kleinen Hotel-Restaurant vorbei, in dem à la carte gespeist wurde. Durch die geschlossenen Türen drangen Stimmen an sein Ohr, die laut genug waren, um ihn erkennen zu lassen, daß Landsleute von ihm dort drin saßen.

»Alle wuhz on!« hörte er eine männliche Stimme gequält ausrufen. »Kommen Sie mit dem Käse nicht noch einmal in meine Nähe! Eine tote Schlange ist mir noch lieber! Ogottogott!«

Ogle beschleunigte seine Schritte. Die Stimme klang nach Mittelwellen und erinnerte an Tinker – ein störender Ton in Algier! Er wollte nicht an Tinker erinnert werden, der um diese Zeit wohl in Neapel störende Töne verursachte. Glücklicherweise lag Neapel auf einem anderen Kontinent!

Nach dem Lunch wanderte er den Berg hinab in das tiefer gelegene Stadtviertel, das ihn stets besonders gefesselt hatte, denn dort verdichtete sich das orientalische Leben und das okzidentale verschwand beinahe ganz. Heute aber beschäftigten ihn nur seine Grübeleien und er schritt fast geistesabwesend durch die Straßen. Bedeutete der Besuch Hyacinthes eine Antwort von Madame Momoro? Hatte sie damit anzeigen wollen, daß sein vorwurfsvoller Brief in ihre Hände gelangt war? Warum hatte sie nicht geschrieben? Hatte Hyacinthe von ihr auch den Auftrag gehabt, bloß die Karte abzugeben und nicht mit ihm zu sprechen?

In solche Gedanken versunken, kletterte Ogle über Steinstufen hinauf und hinunter, drang in dunkle Gäßchen ein, die so eng waren, daß sie nur Durchgänge schienen, und bemerkte plötzlich die sonderbaren Bewohner dieser Gegend. Die Leute waren so schmutzig und widerlich wie die dunklen Löcher, in denen sie zu hausen schienen. Zerlumpte braune Männer, die einen Haufen Datteln oder verstaubte Gemüse oder ein Dutzend Kupfer- und Messingpfannen zum Verkauf vor sich liegen hatten, saßen im Straßenschmutz. Manche der Gäßchen lagen ganz still und fast unheimlich einsam, andere waren von Gedränge und Geschrei erfüllt. Jämmerliche kleine Esel und magere Ziegen waren überall. Auf einem schäbigen abgewetzten Esel, der kaum größer als ein Schäferhund war, ritt ein ungeheuer dicker, graubärtiger Araber vorbei, der die ganze enge Gasse ausfüllte und Ogle an die Wand preßte. Es war unfaßbar, wie das arme Tier diese Last über die holperigen Steine tragen konnte, die schlüpfrig von ekelerregendem Schmutz waren. Der ungeschlachte Reiter warf, als er sich vorbeidrängte, Ogle einen harten Blick zu und spuckte geräuschvoll aus. Er schien auf diese Weise ein ungünstiges Urteil über Ogle ausdrücken zu wollen.

Der harte Blick prägte sich in Ogles Gedächtnis ein. Die Augen der zerlumpten Gestalten am Hafen, die ersten Augen, in die er in diesem Lande geblickt hatte, schienen, selbst während sie ihn anbettelten, etwas von derselben Härte gehabt zu haben. Und nun entdeckte er den gleichen Ausdruck im Blick eines jeden Mannes, dem er in diesen Gassen begegnete. Es war ein Ausdruck, der ihn von aller Gemeinschaft ausschloß, und selbst ganz zerlumpte und verwahrloste Gestalten hatten ihn. Offenbar gab es keine einzige Seele hier, in der er nicht Schlimmeres als Abscheu erregte. Denn im Ausdruck dieser Blicke lag mehr noch als Haß und Verachtung … Er fühlte sich nicht weiter beunruhigt, obwohl er langsam einsah, daß er in den übelsten Teil des Araberviertels geraten war und obwohl er sich daran erinnerte, daß der Portier ihn davor gewarnt hatte, ohne Führer das Araberviertel überhaupt zu betreten. Er war nicht furchtsam und die unheimlichen Blicke interessierten ihn. Sie schienen ihm ein wenig jenen Blicken zu gleichen, die er selbst wohl auf eine Ratte geworfen hätte. Ja, diese Gestalten starrten ihn an, wie Menschen eine Ratte anstarren. In ihren Augen galt er offenbar überhaupt nicht als Mensch. Er war ein Eindringling, der Geld in den Taschen hatte, um das sie ihm mit Wonne den Hals abgeschnitten hätten, aber nicht nur wegen des Geldes würden sie es tun, sondern weil er ihnen eben nichts anderes bedeutete, als eine Ratte, nach der man bestenfalls mit Steinen wirft.

Indes war der Weg vor ihm immer bedenklicher geworden. Unangenehme Gerüche hatten ihn schon seit Betreten dieses Viertels bedrängt, und während er weiterschritt, waren sie immer unangenehmer geworden. Nun aber, an einer engen Straßenkreuzung, die von Menschen dicht gefüllt war, schlug ihm ein Wohlgeruch Arabiens entgegen, der in seiner Nase wie eine Explosion wirkte. Es war ein Goliath unter den Gerüchen, der große Ahnherr und Beelzebub aller dämonischen Gestänke. Ogle schreckte vor ihm zurück, denn man konnte ihn nur ertragen, wenn man durch Generationen abgehärtet und an ihn gewöhnt war. Als er sich aber umwandte, merkte er, daß er nicht allein war. Er hatte ein Gefolge von unsauberem Gesindel hinter sich, das aussätzigste, das er je gesehen, und es füllte die ganze Straße, aus der er gekommen war.

Als er Anstalten traf, sich durchzudrängen, schoben sich die Leute so eng zusammen, daß er nicht weiter konnte. Von allen Seiten drängte es mit einem lauten, halb stehenden, halb drohenden Geschrei an ihn heran. Es blieb ihm nichts übrig, als kehrt zu machen und mit vorgehaltenem Taschentuch mutig durch die verpestete Zone zu eilen. Er ging so schnell er konnte, aber sein Gefolge war flink und hielt nur allzugut mit ihm Schritt. Das Raunen und Murmeln der Menge umschwirrte seine Ohren, in seinem Nacken fühlte er fremden Atem. Man zerrte an seinem Mantel, aus dessen Taschen nacheinander Handschuhe, Streichhölzer und Kupfermünzen unmerklich verschwanden. Zerlumpte Gestalten drängten ihm gierig nach und zogen ihn mit eitrigen Händen, die ihn schaudern machten, am Ärmel. Manche schlüpften schon an ihm vorbei und wandten sich dann von vorne gegen ihn, so daß er seine Schritte immer mehr beschleunigte, um nicht mitten in den wüsten Haufen zu geraten.

Er hastete durch eine überwölbte Gasse wie durch ein stinkendes Tunnel; sie schien auf einen breiteren, offenen Platz zu münden, und er hoffte dort einen französischen Polizisten zu treffen, der ihn von seinen blutegelartigen Quälgeistern befreien sollte. Die aber schienen es darauf abgesehen zu haben, ihn am Erreichen des Platzes zu hindern. Immer mehr schlüpften, ihn überholend, an ihm vorbei, um sich dann gegen ihn zu wenden und mit beschwörender Geste ihre ausgezehrten wunden Hände gegen seine Brust zu legen.

»Was wollt Ihr denn, verdammt noch einmal!« schrie Ogle erbost, als er nicht mehr weiter konnte. »Marsch aus dem Weg!«

Sie drängten sich nur noch näher an ihn heran und schrien nur noch lauter auf ihn ein. Als er die Hand in die Hosentasche steckte, um ein paar Münzen hervorzuholen, begleitete eine fremde Hand die seine und stahl die Geldstücke aus seinen Fingern, noch ehe eine der Hände wieder zum Vorschein gekommen war. Ogle wurde wütend und begann sich ein wenig zu fürchten. Das Gesicht, das ihm zunächst war – es berührte ihn fast – war zerfressen und schwartig wie das Gebilde eines Angsttraumes. Und die blutunterlaufenen Augen voll leidenschaftlicher Gier hatten wie alle anderen Augen ringsum jenen verdammenden Blick … Es war dieser Blick, vor dem er sich fürchtete.

»Macht, daß Ihr fortkommt!« schrie er noch lauter, aber das Summen und Murmeln um seine Ohren ließ ihn kaum seine eigene Stimme vernehmen. »Gebt den Weg frei! Marsch fort, Ihr lausiges Pack!« Ogle begann hilflos zu fluchen.

Plötzlich ließ das Andrängen der widerlichen Körper nach. Die zupfenden Hände zogen sich zurück, braune Füße flohen geräuschlos den Weg entlang, den er gekommen war, Lumpen flitzten in Kellerlöcher, und wie ein böser Spuck war mit einem Male der ganze Haufen verschwunden.

Von dem Ende des Tunnels zog Ogle eine sonderbare Prozession entgegen. An der Spitze schritt ein bejahrter, blauschwarzer Neger, dessen wulstige Lippen violette Töne zeigten und schlug auf ein Tamtam, das ihm an scharlachroter Schnur über der Schulter hing. Er trug einen hohen Kopfputz aus Katzenfell und glitzernden Spiegelscherben und ein Dutzend Schakalfelle hing um seine Hüften. Seine krummen Beine und platten Füße waren nackt. Er tänzelte im Gehen, schlug mit großen Armbewegungen auf sein Tamtam und schrie wie ein Herold, der gebieterisch den Weg für seinen Herrscher freimacht, unaufhörlich mit heiserer Greisenstimme: »Boschur, Mdamsemessiö. Tulemond a droa! Boschur, Mdamsemessiö, Tulemond a droa!«

Ein paar Schritte hinter ihm erblickte Ogle die Gestalten zweier europäisch gekleideter Frauen, neben denen ein großer jüngerer Mann schritt, einen dicken Knotenstock in der Hand. Vor diesen dreien, aber fast auf gleicher Höhe mit dem Operettenneger und sein Tänzeln entzückt nachäffend, kam ein kräftiger Mann daher; er mochte an die fünfzig zählen, schien jedoch sehr rüstig und lungenstark.

»Boschur, damsiö!« brüllte er im Näherkommen. »Tulamo adrot! Was das nur heißen mag! Recht hast du, Großpapa! Trommel' nur fest darauf los, Onkel Remus!« Als er Ogle gewahrte, blieb er plötzlich stehen. »Ja, sagen Sie bloß, wie kommen Sie daher?« Dann wandte er sich um und rief jubelnd nach hinten: »Schnucki, Bibbih! Kuckemah, wer da ist!«

Die ältere der beiden Damen begrüßte Ogle, als wäre er ein alter Freund, den wiederzusehen sie schon lange sehnlichst gehofft hatte.

»Also, wenn das nicht einfach großartig ist, an diesem gräßlichen Ort einem bekannten Gesicht zu begegnen!« rief sie. – »Wir meinten, Sie wären mit der ›Duumvir‹ weitergefahren. Wir hätten uns nicht träumen lassen, Sie je wiederzusehen.«

Olivia bestätigte dies. Sie war bei seinem Anblick dunkelrot geworden und flüsterte jetzt: »Wirklich nicht! Denn sonst hätte ich nie …«

Hier blieb sie stecken und überließ es ihm zu erraten, daß jene Abschiedsworte an Bord der »Duumvir« ungesagt geblieben wären, wenn sie geahnt hätte, daß es kein Abschied gewesen war. Ogle bemühte sich aber nicht, ihren Satz zu vollenden, ja, er hatte ihr gar nicht zugehört, denn er blickte wie gebannt auf Tinker und bedauerte, nicht lieber in der Gesellschaft der zerlumpten Bettler geblieben zu sein.


 << zurück weiter >>