Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII

Gleich dem Himmel nach dem Schwinden der letzten Sonnenstrahlen umdüsterte sich die Seele Ogles, der in einsamer Höhe auf dem Turme blieb. Sein Traum war vorbei. Nun aber, da er ans Ende dieses Traumes gekommen war, wußte er nicht mehr ganz sicher, wovon er eigentlich geträumt hatte. Eines wußte er nur: das Leben schien ihm unmöglich, weil eine Frau unbestimmt älter als er, aber bestimmt viel erfahrener, in ihrem Materialismus das Idealbild zerstört hatte, das er in ihr gesehen und vor dem er anbetend knien wollte. Die Fabel von der Rettung, als die sie ihre Flucht nach Biskra bezeichnet hatte, war grotesk, aber ebenso grotesk war seine Anbetung dieser Frau, deren einziges verzweifeltes Streben nach Geld ging.

In trüber Stimmung stieg Ogle die Wendeltreppe des Minaretts herunter, aber er hütete sich, tiefer als bis auf das Hoteldach zu steigen, denn er wußte genau, wenn er in sein Zimmer ginge, würde er sich mit dem Gesicht nach unten auf sein Bett werfen und den letzten Rest seiner Würde verlieren.

Tiefblaues Zwielicht lag über der Stadt, goldene Rhomboide fielen aus erleuchteten offenen Haustüren auf die Straße und goldenes Licht schimmerte durch vereinzelte Fenster. Irgendwo in einem dämmerigen Raum schlug – Allah allein wußte, warum – unaufhörlich ein Tam-Tam, und der ferne, durchdringende Klang einer afrikanischen Oboe ertönte von irgendwoher. Gestalten, die in der abendlichen Beleuchtung gold und blaugefleckt schienen, glitten wie goldene und blaue Draperien durch die stillen Straßen. Und in all den lampenerhellten Eingängen, oder auf den Stufen davor, saßen geschminkte Mädchen in leuchtenden Stoffen – scharlachrot, grün, orange, lavendel, silber – in dem vergoldeten Licht. Denn dies war die Straße der Tänzerinnen. Eingeborene Soldaten gingen gemessenen Schrittes vorbei, und hin und wieder griff eines der Mädchen nach dem Burnus eines der vorüberschlendernden Männer und hielt ihn fest.

Das blaue Zwielicht dunkelte rasch, die Dämmerung wurde zur Nacht. Und mit einem Male hörte Ogle nicht weit von sich dasselbe kleine, tonlose »Ah« des Entzückens, das er schon auf der Galerie des Turmes vernommen hatte. Schon einige Zeit war er sich der Nähe einer Gestalt bewußt gewesen, die gleich ihm über die Brüstung hinabsah, aber erst an ihrem Seufzer erkannte er Olivia. Ihr Seufzer der Freude löste eine seltsame Sympathie in ihm, eine Sympathie, die er trotz ihrer Feindseligkeit und trotz seiner eigenen Abneigung schon früher in manchen Augenblicken empfunden hatte. Er hatte schon längst begriffen, daß ihre üble Laune nur der Ausdruck eines verletzten Gemütes war, und er vermutete, daß ihr Leiden dem Grunde nach mit seinem verwandt wäre. Beide waren sie Opfer ihrer eigenen blinden Götter, dachte er, und ihr Seufzer erschien ihm wie der Ruf einer Schwester in gleichem Leid. Er trat zu ihr und sprach sie an. Sie wandte sich um und erkannte ihn ohne Überraschung. Ihre Stimme und ihr Wesen schienen um vieles sanfter geworden, seit sie in Algier ihn so brüsk verlassen hatte.

»Herr Ogle? Ich dachte mir, daß Sie hier wären.«

»Wirklich? Warum?«

»Ich habe den jungen Franzosen – Momoro heißt er doch? – in der Halle getroffen. Ich vermutete, daß er mit seiner Mutter da wäre, und so konnten auch Sie nicht weit sein.«

»Aber warum sollte ich …«

»Weil Sie auf der ›Duumvir‹, als Sie mit mir tanzten, doch nur nach ihr Ausschau hielten.« Sie lachte liebenswürdig. »Macht nichts! Ich habe Ihren Geschmack bewundert und ich bin froh, daß ich dadurch Gelegenheit habe, Sie heute nochmals zu sprechen. Der Gedanke an Sie hat mein Gewissen bedrückt und ich habe ein Gelübde getan.«

»Ich hoffe, Sie werden mir verraten, was …«

»Eben das habe ich gelobt«, unterbrach sie ihn heiter. »Haben Sie soviel Geduld, mich anzuhören?« Warm und freundlich klang ihre Stimme durch die Dunkelheit, und der junge Mann sehnte sich gerade in diesem Augenblick nach nichts so sehr wie nach Wärme und Freundlichkeit.

»Ich habe in letzter Zeit viel Geduld haben müssen,« sagte er, »und wenn Sie mir nichts gar zu Unangenehmes zu sagen haben, so könnte ich's ganz gut ertragen.«

»Armer Kerl!« rief Olivia. »Die wundervolle Französin scheint in letzter Zeit noch rätselhafter gewesen zu sein, als sie selbst einem simplen amerikanischen Mädchen vorgekommen ist. Was mich anlangt, ich würde bestimmt nie zu erraten vermögen, was eine Frau, die so aussieht, im nächsten Augenblick tun wird. Aber ich will ja nicht von ihr reden, Herr Ogle, sondern von mir und ein wenig auch von Ihnen. Ich hatte mir gelobt, falls wir einander nochmals treffen würden, Ihnen den wahren Grund zu sagen, warum ich so beleidigend zu Ihnen sein mußte. Zum Teil ist die Erklärung recht einfach: Ich war gegen alle Welt grob, ich war immerfort schlechtester Laune, weil ich mich maßlos über meinen Vater ärgerte. Ich glaube, darüber brauche ich Ihnen nicht viel zu sagen, Sie müßten kein Dichter sein, um zu verstehen, warum ein Mädchen meines Alters auf einer langen Reise über ihren Vater wütend ist. Es bedeutet stets, daß der Vater weite Strecken zwischen sie und – nun natürlich irgendeinen unerwünschten Menschen daheim legen wollte, weil er glaubt, sie durch Trennung kurieren zu können. Aber das war nicht ausschließlich der Grund, warum ich ihn haßte …«

»Was sonst?«

»Wissen Sie nicht, was eine Frau einfach von keinem Mann ertragen kann,« sie lachte schmerzlich, »nicht einmal von ihrem eigenen Vater?«

»Ich war immer der Meinung, daß es da Vielerlei gibt.«

»Doch vor allem eines«, sagte sie, und Ogle hatte, obwohl er sie nicht deutlich sehen konnte, die Empfindung, daß sie errötete. »Sie kann es nicht ertragen, daß er recht behält!«

»Sie haßten also Ihren Vater weil Sie fühlten, er würde sie tatsächlich kurieren?«

»Ich fürchte«, sie lachte abermals in einer hilflosen Art. »Ich haßte ihn, weil er mich bereits kuriert hatte! Niemand sollte das Recht haben, so oft recht zu haben wie mein Vater! Das ist ein peinliches Geständnis, Herr Ogle, aber was noch folgt, ist nicht mehr ganz so beschämend. Sehen Sie, etwas hatte während dieser afrikanischen Reife eine große Wirkung auf mich. Weit drinnen in der Wüste, in Tuggurt, wurde mir dies klar.«

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen«, sagte er ernst. »Auch ich spüre den Einfluß der Wüste und weiß gar nicht, welche Veränderung sie in mir noch hervorrufen mag.«

»Nicht die Wüste hat eine Wandlung in mir bewirkt, Herr Ogle«, fuhr sie fort. »In der Wüste wurde ich mir dieser Wandlung bloß bewußt, aber ihre Ursache war …« Sie zögerte und lachte leise, verwirrt. »Nun, äußere Eindrücke helfen uns bloß, uns der Dinge in uns bewußt zu werden; sie rufen sie nicht hervor. Die Ursache meiner Wandlung war keine Landschaft, kein Ort, sondern ein Mensch. Und dieser Mensch – waren Sie!«

»Ich?« rief er überrascht. »Ich hätte …«

»Ja«, sagte sie. »Sehen Sie, wir Frauen sind merkwürdige Wesen. Wenn wir einen Mann hassen, lassen wir mit der gleichen Freude unsere Wut an einem andern aus, und das erleichtert uns beinahe ebenso sehr, als hätten wir uns an dem gerächt, den wir hassen. Ich habe gegen meinen Vater gewütet, und meine Wut galt eigentlich dem Menschen daheim, von dem man mich getrennt hatte. Ich habe mich über ihn geärgert, weil er zuließ, daß man uns trennte. Mein Vater hatte sich schließlich als der Stärkere von den beiden gezeigt; das war für den andern nicht günstig. So war ich auf zwei Männer wütend – und habe an Ihnen meine Wut ausgelassen! In Ihnen wollte ich das ganze Geschlecht treffen, und als ich meine Rache gehabt hatte, fühlte ich mich bedeutend wohler und war wieder nett zu den Leuten. Meine ›Kur‹ sind also eigentlich Sie, denn an Ihnen habe ich meine Rache gekühlt.«

»So?«

»Erinnern Sie sich nicht mehr?« rief sie, und obgleich sie ihm damit seine Schwerfälligkeit, seine Überhebung und seinen Stolz vorwarf, schien sie freundlicher als je. »Ich habe Ihnen doch die Wahrheit über Sie selbst gesagt, eine kränkende Wahrheit. Aber eigentlich mußte ich es noch aus einem andern Grund tun – ja, weil Sie trotz allem ein so netter Kerl sind.«

»Was meinen Sie denn eigentlich?«

»Genau das, was ich sage. Die kränkende Wahrheit über mich zum Beispiel wäre gewesen, daß ich eine egozentrische, übellaunige, ungezogene, böse Person war – aber das wäre auch nur ein kleiner Teil von mir. So ist es auch mit der kränkenden Wahrheit, die ich Ihnen sagte. Auch Ihr literarischer Hochmut oder Ihr New Yorkertum oder was immer sonst ist nur ein kleiner Teil von Ihnen. Von dem Rest bekam ich nach der netten Art, mit der Sie sich meine Unverschämtheiten gefallen ließen, eine Ahnung. Ich weiß jetzt, daß Sie in Wirklichkeit ein sehr anständiger, ritterlicher und guter Mensch sind, der die Maske eines kaltherzigen Snob trägt. Sie machten mich wütend, weil Sie diese Araberaugen hatten. Ich wollte Sie aufrütteln und Ihnen zuschreien: Heiliger Gott, Sie verstockter, blinder Ogle, begreifen Sie doch, daß wir anderen auch ein Teil der Menschheit sind! Eigentlich war ich nur deshalb so erbost, weil ich doch wußte, daß Sie in Wirklichkeit viel netter sind, als es schien. – Und weil ich Ihnen für die Kur eine Dankesschuld abzustatten hatte, gelobte ich mir, Ihnen dies zu sagen, sobald wir uns wieder treffen würden. Ertragen Sie es, daß wir quitt sind?«

»Ich weiß nicht«, sagte er ernsthaft. »Eines erklären Sie mir noch. Warum sagten Sie, ich müßte kein Dichter sein, um zu verstehen …«

»Ich habe in New York Ihr Stück gesehen«, unterbrach sie ihn. »Meine Eltern waren dabei gewesen und ganz empört nach Hause gekommen – zumindest Mama, Papa tat nur so. Ich wußte, daß die beiden es nicht verstanden hätten, und ich ging im geheimen am nächsten Tag zur Nachmittagsvorstellung. Ich war nicht empört, natürlich nicht, denn ich begriff, was Sie versucht hatten …«

»Versucht?« warf er sanft ein.

»Ja, das war mein Eindruck.«

»Es hat Ihnen also nicht gefallen?«

»Das möchte ich nicht so unbedingt sagen«, ihre Stimme wurde jetzt unpersönlich und ein wenig ausweichend. »Ich hatte das Gefühl, daß der Mann, der dieses Stück geschrieben hatte, etwas viel Besseres, etwas wirklich Bedeutendes schreiben könnte …« Sie zögerte, »Vielleicht …«

Dieses zögernde »Vielleicht« war ärger als alles, was sie ihm jemals gesagt hatte. Diese überflüssige Aufrichtigkeit hatte eine unselige Wirkung. Einer der schärfsten Kritiker hatte von seiner »Pastoralen Szene« als dem »vielleicht« bedeutendsten Stück geschrieben, als dem Stück, das »vielleicht« eine neue große Richtung begründen könnte, und Ogle, der sich dieser Kritik erinnerte, begriff nicht, daß das vorsichtige »Vielleicht« der kleinen Olivia nicht viel anders klang, als das gleiche Wort in jener Kritik. Hier stand ein kleines Mädel aus dem Mittelwesten und sagte ihm kaltlächelnd ins Gesicht, ihr ganzer Eindruck wäre der gewesen, daß er »vielleicht« Besseres schreiben könnte! Zu den Wunden seiner Liebe wurden noch die seines Ehrgeizes hinzugefügt, und bedauernd nahm er die mitfühlende Sympathie zurück, die ihn zu Olivia hingezogen hatte.

»Sie sind sehr gütig«, sagte er und unendliche Bitterkeit lag in seiner Stimme, – und sie hatte diesmal wirklich gütig zu ihm sein wollen.

»Ich habe mich natürlich gehütet, vor meinen Eltern zu erwähnen, daß Sie das Stück geschrieben hätten«, beruhigte sie ihn. »Meine Eltern haben ja keine Ahnung, was in der Welt vorgeht, und können es natürlich nicht begreifen, daß Sie einfach so schreiben, weil andere auch so schreiben. Aber glauben Sie mir, ich war nicht tadelsüchtig – mich haben einige Stellen wirklich interessiert.«

Sie war tatsächlich zu gütig und er sagte es ihr.

»Zu gütig, Herr Ogle?« wiederholte sie verwirrt. Sie begriff, daß sie ihn jetzt und mit den letzten Worten die sie aufrichtig freundlich gemeint hatte, tiefer verletzt hatte, als jemals zuvor. »Ich fürchte, Sie meinen das nicht ganz so, wie Sie es sagen. – Ich verstehe nicht sehr viel von Theaterstücken, ich weiß bloß …«

»Nicht!« unterbrach er sie. »Sagen Sie nicht, Sie wüßten bloß, was Ihnen persönlich gefällt.«

»Ich wollte sagen, ich weiß bloß, welchen Eindruck sie auf mich machen. Das ist doch schließlich auch das Einzige, was man von Theaterstücken wissen kann.«

Ogle starrte sie einen Augenblick an, dann sagte er eisig:

»Vermutlich.«

»Nun, und Ihr Stück …«

»Ach, lassen wir das«, sagte er. »Wir wollen nicht mehr davon sprechen. Aber etwas anderes möchte ich wissen: auf der ›Duumvir‹ wußten Sie doch noch nicht, daß ich Stücke schreibe …«

»Nein. Erst gestern erfuhr ich es zufällig. Mein Vater …« Sie brach ab, beugte sich vor und starrte über die Brüstung hinunter. »Wie merkwürdig! Da unten geht doch der Vater!«

Frau Tinker, die mit dem Ehepaar Shuler auf der anderen Seite des Hoteldaches gestanden hatte, hörte den Ausruf ihrer Tochter und kam schnell herbei.

»Der Vater, Olivia? Wo siehst du ihn?« fragte sie eifrig.

»Nein,« antwortete Olivia rasch, »es war ein Irrtum. Er ist es gar nicht.« Sie zeigte rasch in eine andere Richtung. »Sieh doch den Turm dort, Mutter, mit den sonderbar beleuchteten maurischen Fenstern. Sieht er nicht wundervoll aus?«

Aber Frau Tinker gab sich nicht so schnell zufrieden.

»Wo hast du den Vater gesehen, Olivia?« beharrte sie.

»Nirgends. Aber sieh doch …«

»Natürlich ist es der Vater!« rief in diesem Augenblick Frau Tinker, die noch immer über die Brüstung gelehnt dastand. »Wer in aller Welt ist die Frau, mit der er da geht?«

Ohne die mindeste Ahnung, welch prächtigen Ausblick das Hoteldach auf ihn gewährte, spazierte unten Tinker an Madame Momoros Seite unbekümmert durch die Straße der Tänzerinnen.


 << zurück weiter >>