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XXIV

Als Ogle nach dem Dinner im Rauchsalon des Hotels saß, traten zwei Damen ein, Frau Tinker mit ihrer Tochter, blieben stehen und blickten umher, als suchten sie jemand Bekannten. Genauer gesagt: die jüngere zeigte den Ausdruck eines Menschen, der Schlimmes ahnend nach einem abwesenden Freund forscht; die Mutter dagegen hatte die Haltung eines gereizten Bravo, der die Spuren seines Todfeindes verfolgt. Ihre weit aufgerissenen Augen durcheilten zornig den Saal, ihre Lippen waren erbittert zusammengepreßt. Sie erblickte Ogle, und nach ein paar hastigen Worten, die sie mit ihrer Tochter wechselte, verließ sie wieder den Raum, während Olivia zu dem leeren Sessel neben Ogle trat und sich niederließ.

»Darf ich mich auf eine Weile zu Ihnen setzen?« sprach sie ihn an, und obwohl sie beunruhigt aussah, lächelte sie ihm zu. »Ich habe den Auftrag, auf so taktvolle Weise etwas von Ihnen in Erfahrung zu bringen, daß Sie gar nicht auf den Gedanken kommen sollen, es sei etwas schief gegangen. Aber da Sie es schließlich doch erfahren werden, fürchte ich, meine diplomatischen Bemühungen zu verschwenden.«

»Was werde ich schließlich doch erfahren? Ich habe leider in letzter Zeit zu viel erfahren.«

»Du lieber Gott!« Olivia schüttelte in komischer Verwunderung den Kopf. »Wie sehr Sie sich seit der ›Duumvir‹ verändert haben! Hoffentlich fassen Sie das nicht als eine neue Bosheit auf.«

»Von Ihnen fasse ich es als die größte Schmeichelei auf, deren Sie fähig sind. Sie haben mir ja deutlich genug zu verstehen gegeben, daß Sie jede Veränderung an mir als Verbesserung ansehen würden.«

»Nein, nicht mehr. Ich hatte Ihnen jeden Anlaß gegeben, mich für dumm zu halten. Aber ich kann doch manches würdigen, was Sie mir nicht zutrauen würden. Dazu gehört zum Beispiel Ihr Lächeln, heute bei Tisch. Es war einfach heroisch.«

»Sie sind eine sehr strenge Beobachterin«, sagte Ogle und bemühte sich abermals, seine Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln zu verzerren.

»Um Gotteswillen, versuchen Sie das nicht wieder!« protestierte sie mit übertriebenem Schreck. »Es sieht aus, als versuchte Hamlet, in der Szene mit seiner Mutter zu lächeln. Sie armer Kerl, wirst es Sie jedesmal so um, wenn Ihre faszinierende Dame irgendwo anders diniert?«

»Es ist nicht ›meine‹ faszinierende Dame!«

»Na, jedenfalls ist sie faszinierend,« erklärte Olivia, »und da Sie doch mit ihr reisen …«

»Würden Sie die Güte haben,« unterbrach er sie, »es nicht gerade mit diesen Worten auszudrücken? Ich mache zufällig mit ihr und ihrem Sohn eine Autotour.«

»Freilich, freilich!« Olivia nickte heiter. »Ich vergaß, daß diese Französin doch viel älter ist, als sie aussieht. Sie sind eigentlich im gleichen Alter mit ihrem Sohn, und Madame Momoro, nun, die gehört wohl zur Altersklasse meines Vaters.«

»Ich weiß nicht …« Er runzelte die Stirne.

»Wollen Sie wetten?« fragte sie lustig. »Ich behaupte, sie ist um mindestens fünf Jahre näher Papas Alter als dem Ihren!« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Das alles macht es natürlich umso unverfänglicher, wenn Sie mit ihr reisen. Sie ist in Wirklichkeit eine Art von mütterlichem Schutz für Sie und ihren Sohn.«

»Es ist überaus liebenswürdig von Ihnen, sich so eingehend dafür zu interessieren«, sagte er mit deutlichem Ärger; die Heiterkeit verschwand sogleich aus ihrem Gesicht.

»Das habe ich verdient!« sagte sie ruhig. »Ja, ich fürchte, daß ich von Anfang an, kaum ein Wort zu Ihnen gesprochen habe, das nicht schrecklich persönlich gewesen wäre. Aber ich sehe meine Fehler vollkommen ein, Herr Ogle. Wenn ich allein bin und darüber nachdenke, bin ich so zerknirscht, wie Sie nur wünschen können.«

Irgendetwas im Ton ihrer Worte besänftigte ihn, und einen Augenblick sahen sie einander mit einer sonderbaren, ernsten und freundlichen Neugierde an.

»Ich wünsche gar nichts dergleichen«, lenkte er ein. »Und ich bin wirklich nicht wert, daß jemand meinetwegen zerknirscht ist.«

Sie hätte ihm gern nochmals gesagt, daß er sich sehr verändert habe, aber sie hielt sich zurück und nickte ihm nur lächelnd zu.

»Wir wollen darüber nicht streiten! Was Sie mir jetzt sagen sollen, ist die Erklärung eines Wortes; unser Kurier ist heute abend nicht da, sonst hätte ich ihn gefragt.«

»Welches Wortes?«

»Ich hörte es schon früher einmal. Ich glaube es ist arabisch. Ich werde es Ihnen gleich geschrieben zeigen, in Papas Handschrift. Damit komme ich in taktvoller Weise zu dem Gegenstand, über den ich Sie befragen soll. Wo meinen Sie, daß Ihre faszinierende Bekannte heute abend diniert?«

Er war wirklich überrascht. »Die ist mit den beiden alten Französinnen, die mit ihr auf dem Dampfer waren, in einem andern Hotel.«

»Meinen Sie?« fragte Olivia und blickte ihn ein wenig skeptisch an. »Hat sie Ihnen das gesagt, oder … oder ihr Sohn?«

»Sie hinterließ mir einen Brief, worin sie schrieb, daß sie uns bei Tisch nicht Gesellschaft leisten würde. Sie sagte zwar nicht, wo sie den Abend verbringen wolle, aber ich habe guten Grund zu glauben, daß sie bei diesen beiden alten Französinnen ist. Sie muß gleich fortgegangen sein, nachdem wir sie mit Ihrem Vater vor dem Dinner ins Hotel zurückkommen sahen.«

Olivia schüttelte den Kopf.

»Die beiden sind nicht ins Hotel zurückgekommen.«

»Was?«

»Nein. Meine Mutter lief hinunter, um ihn zu treffen, aber der Portier sagte, sie wären nur einen Augenblick beim Eingang stehen geblieben und dann weitergegangen.«

»Wirklich?«

»Damals hat Madame Momoro den Brief für Sie hinterlassen. Als ich dazu kam, hörte ich, wie der Portier alles meiner Mutter erzählte.«

»Er hat Ihrer Mutter …«

»Ja«, sagte Olivia und blickte ihn ernst an. »Wollen Sie mir ein wenig helfen, Herr Ogle?«

»Selbstverständlich!«

»Ich dachte es mir«, sagte sie. »Übrigens betrifft dies alles ja zum Teil auch Sie selbst, weil sie doch mit Madame Momoro hier sind. – Also, auch meine Mutter hat einen Brief erhalten. Er ist von Papa, und für ihn erbitte ich eigentlich Ihre Hilfe.«

»Ich soll …«

»Warten Sie«, sprach sie weiter. »Ich zeige Ihnen lieber, was er Mama geschrieben hat. Dann werden Sie mir, glaube ich, beipflichten, daß Papa Hilfe braucht.«

Sie reichte ihm den Brief, den sie in der Hand gehalten hatte, und er las: »Liebe Schnucki. Leute, mit denen ich im Hotel bekannt wurde, warten ungeduldig auf mich, weil ich mit ihnen zu Abend essen soll. Ich werde zwar zeitig zurück sein, aber laß dich jedenfalls nicht stören, wenn du dich früher niederlegen willst. Ich soll mit den Leuten irgendwohin gehen, wo man dieses berühmte arabische Kus-kus bekommt. Jedenfalls sollt Ihr mit dem Dinner nicht auf mich warten. In Liebe dein Earl.«

Als er diese Epistel gelesen hatte, behielt Ogle sie in der Hand und starrte noch eine Weile wortlos darauf. Dann fragte er:

»Ist dies das Wort, das Sie meinten?«

»Ja. Kus-kus; was meint er damit?«

»So heißt ein Lieblingsgericht der Araber. Allerlei Arten Hackfleisch mit Reis vermengt; das Ganze mit irgendeinem Pulver bestreut. Ich glaube, Kus-kus heißt eigentlich dieses Pulver. Die Araber sind begeistert davon – mir ist es widerlich.« Ogle hatte diese Erklärung mit düsterer Miene erteilt. Vor ihrer gemeinsamen Abreise war er mit Madame Momoro in Algerien Kus-kus essen gewesen. Damals war er hingerissen davon.

»Sie verstehen doch, warum dieser Brief meine Mutter so aufgeregt hat, nicht wahr, Herr Ogle?«

»Ja«, pflichtete er bei. »Unter diesen Umständen …«

»Und da Ihre … da Madame Momoro …«

»Sie haben recht«, sprach er entschieden und blickte dabei grimmig zu ihr auf. »Nun glaube ich selbst nicht mehr, daß Madame Momoro mit den französischen Damen soupiert.«

»Aber Sie dürfen nicht …« begann sie eifrig, brach jedoch unvermittelt ab.

»Was darf ich nicht?«

»Sie dürfen Papa nicht mißverstehen, Herr Ogle«, vollendete sie ernst. »Sie scheinen auf dem besten Weg dazu. Es ist ja begreiflich, daß ein Mann wie Sie, einen Mann wie meinen Vater nicht so rasch begreifen kann.«

»Vielleicht nicht.«

»Sehen Sie, schon daß Sie in New York leben und wir im Westen, macht es beinahe unmöglich, daß Sie verstehen, wie arglos Papa ist. Er ist wie ein Kind! Wenn er was angestellt hat, erzählt er meiner Mutter Geschichten, die ein achtjähriger Junge besser erfinden würde, um aus einer Patsche herauszukommen. Er hat sein ganzes Leben lang wie ein Galeerensklave geschuftet, und ich verstehe, daß er zur Erholung ab und zu etwas anstellen muß. Aber was er anstellt, ist stets der kindischeste Unfug, den man sich vorstellen kann. Und er vergöttert Mama … Aber sie … nun ja, Mama …« Wieder stockte sie und schüttelte schmerzlich den Kopf.

»Ja?«

»Nun, Mama ist ein wenig streng mit ihm«, gab Olivia zu. »Sie könnte unmöglich verstehen, wenn er mit einer anderen Frau abendessen ginge, besonders mit einer Frau, die sie nicht kennt und vor allem mit einer so schönen exotischen Frau wie Madame Momoro. Sie sieht ja nicht ein, daß es für ihn nichts weiter als eine Schmeichelei bedeutet, wenn Madame Momoro ein wenig mit ihm zu flirten scheint …«

»Ein wenig?« unterbrach Ogle.

»Wie sie dem armen, alten Kindskopf auf die Schulter geklopft hat!« rief Olivia und stieß ein klagendes Lachen aus. »Und er war so erfreut darüber! Und dabei sah Mama jede seiner Bewegungen, und war schon daran, einen Schornstein auf ihn herunterzuwerfen! – Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Ogle, war dieser Ausflug nach Biskra Ihre Idee?«

»Nein, der Plan stammt von Madame Momoro.«

»Dann kam sie natürlich Papas wegen.«

»Ja,« sagte er mit tonloser Stimme, »das glaube ich auch.«

»Mit der Zeit kommt man über diese Dinge hinweg«, tröstete sie ihn mitfühlend. »Ich selbst kann als Beispiel dafür dienen … aber ich glaube nicht, daß Sie viel Wert darauf legen, mit mir darüber zu sprechen, und jedenfalls ist jetzt keine Zeit dazu. – Madame Momoro hatte zweifellos bestimmte Absichten, als sie Papa nachreiste: da sie klug und keineswegs romantisch ist, meinte sie wohl kaum, sie könnte meine Mutter verdrängen. Also will sie bloß etwas von ihm haben, wie alle Leute.«

»Alle Leute?«

»Oh, zu Hause geht das den ganzen Tag – Bettelbriefe, telephonische Anrufe, Sammelbogen für Stiftungen und Wohltätigkeitsvereine – das hört nie auf. Der Himmel weiß, was es Papa kostet, er selbst weiß es sicher nicht. Und hier, hier war er wie ein ausgeronnener Sack Zucker, über den Bienen und Ameisen herfallen. Sogar Shuler will von ihm Geld für irgendein Geschäft in Detroit. Es gibt keinen Menschen, der nichts von ihm will, warum sollte also gerade diese faszinierende …«

»Oh, bestimmt«, unterbrach Ogle mürrisch. »Sie brauchen es nicht weiter zu begründen. Ich gebe es zu.« Er sah sie bei diesen Worten nicht an, sondern starrte mit zusammengezogenen Brauen auf die Wand vor sich. Olivia war durch seinen rauhen Ton überrascht und verletzt, beugte sich aber bald wieder verstehend zu ihm und sagte mit leiser, sanfter Stimme:

»Es tut mir leid.«

»Ja«, sagte er nach einer Weile. »Ihr verächtliches Mitleid ist ganz am Platze. Ich bin in der peinlichen Lage eines Mannes, der eine Dame hergeführt hat, die Ihrem Vater Geld herauslocken will.«

»Armer Freund,« sagte sie sanft, »Sie brauen sich da einen bitteren Trank, nicht? Ich fürchte aber, Sie verlieren kostbare Zeit, wenn Sie sich selbst bedauern, denn es gibt jemand, der viel mehr zu bedauern ist und das ist Papa. Sie kennen meine Mutter nicht, Herr Ogle.«

»Ich habe seit New York meine ganze Zeit dazu gebraucht, mich selbst kennen zu lernen«, antwortete er voll Selbstironie. »Nun – was kann ich also für Sie tun?«

Olivia sah über ihre Schulter nach der geschlossenen Glastüre.

»Mama wartet auf mich, und ich muß ihr sagen, was dieses Kus-kus bedeutet; und werde ihr auch sagen, daß Sie mir erzählt haben, Madame Momoro diniere mit diesen beiden alten Französinnen. Und dann wird Papa nach Hause kommen und eine Geschichte zum besten geben, die ihn und alles verderben wird. Der Ärmste hat ja keine Ahnung, daß wir ihn vom Dach aus gesehen haben. – Er müßte natürlich sagen, daß er sie bloß zu dem Hotel begleitet hat, in dem die zwei Französinnen wohnen, und daß er dann zu seiner Kus-kus Gesellschaft gegangen ist.« Das Mädchen lachte erregt, halb erstickt, und schien mitten im Lachen aufschluchzen zu wollen. »Stellen Sie sich vor, wie er zurückkommen wird: kolossal stolz auf sich, ein verfluchter Kerl zu sein, der mit einer faszinierenden Dame diniert hat und im Glauben, daß durch seinen Brief an Mama alles in Ordnung wäre. – Meinen Sie, Sie könnten die Beiden finden?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich bitte Sie sehr ungern darum, Madame Momoros kleines Dinner zu stören. Es kann Sie ihr gegenüber nur in ein sonderbares Licht setzen.«

»Das macht nichts, ich will sie suchen gehen.«

Olivia schenkte ihm ein Lächeln der Hochachtung und reichte ihm, während sie beide sich erhoben, ihre Hand.

»Sie ahnen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, und Sie können überzeugt sein …« Mit einem kleinen Aufschrei hielt sie plötzlich inne und starrte auf die eine der beiden Türen, durch die man den Rauchsalon betreten konnte, denn eben erschien Tinker in deren Rahmen.


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